Читать книгу Auf sie mit Idyll - Wiglaf Droste - Страница 5
Restgast in der Ochsenreuse Schöner sprechen mit Scrabble
ОглавлениеDass Zahlen nicht nur zum Rechnen taugen, sondern auch bestens zum Spielen geeignet sind, weiß man von Goethe genauso wie von Astrid Lindgren. »Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune«, singt Pippi Langstrumpf, und auch im »Hexen-Einmaleins« geht es arithmetisch ziemlich strubbelig zu: »Aus eins mach zehn, und zwei lass gehn, und drei mach gleich, so bist du reich (…) und neun ist eins, und zehn ist keins.« Das mag der Taschenrechnersorte Mensch nicht korrekt erscheinen, doch der magische Mehrwert ist unbestreitbar.
Ich schlenkerte durch Leipzig und gab dem Zahlenteufel Auslauf. Halblaut rechnete ich vor mich hin: »Leipzig ist eine ganz erstaunliche Stadt. Sie hat 500 000 Einwohner, und nur zwei Millionen von ihnen sind Helden.« Das geschah am 9. Oktober 2009. Vier Wochen lang zählten die Leipziger die Rechnung mit den Fingern nach: »Hümmsendrümmsen … 500 000 minus zwei Millionen … zehn im Sinn … einen runtergeholt … nichts im Sinn … Also wie jetzt …?«
Als sie drauf kamen, nahmen sie’s mir übel. Sodass ich am 9. November lieber nach Berlin ausbüxte – wo am Brandenburger Tor Domino gespielt wurde: Kippende Dominosteine sollten den Fall der Mauer symbolisieren. Ach du grüne Neune; warum nicht gleich Mau-Mau für Mauerspechte? Ich sah den Jubelberlinern bei ihren olympisch infantilen Spielen zu und rechnete kühl: »Der 9. November 1989 war das Nine-eleven der Deutschen. Sie haben es nur noch nicht gemerkt.«
Das mochten die Berliner nicht hören; ich machte, dass ich fortkam, und dachte über weniger gefährliches Spielzeug nach. Schön sollte es allerdings auch sein. Vielleicht sind Buchstaben harmloser als Zahlen? Man muss ja nicht das Gestammel aus den Zeitungen mühsam ins Deutsche buchstabieren, man kann doch Schabernack damit treiben, al gusto beziehungsweise al gut so.
Zu diesem Zweck ist mitunter ein Spiel mit dem englischen Namen ›Scrabble‹ hilfreich. Wenn ich meine Eltern besuche, ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Mutter verkündet: »Scrabble ist für alte Damen / eines von den schönsten Dramen.« Dann kommen das Brett und der Beutel mit den Buchstabenplättchen auf den Tisch, und los geht es.
Das heißt, es könnte losgehen, wenn Mutter nicht Mutter wäre. Mutter spielt fürchterlich, sie will immer gewinnen, unbedingt. Hat das Spiel begonnen, kuckt sie kniepig – und verzögert. Zaudernd wandert ihr Blick von den gezogenen Buchstaben aufs Spielfeld, wendet sich dann nach innen und verjüngt sich ins Tragödische. Zwischen den Ohren springt die Rechenmaschine an und rattert fast hörbar, die Lippen schmackern beim Durchzählen der Buchstaben- und Wortwerte, der Kopf wiegt beim Wägen von Für und Wider auf und ab und pendelt hin und her. »Komm, erstes Wort«, drängele ich und drohe: »Sonst lege ich gleich WACKELDACKEL.«
»Das kannst du gar nicht«, erwidert Mutter und schenkt mir den bösen Blick, der mir dafür ja auch zukommt. »Viel zu viele Buchstaben«, sagt sie noch spitz – und entscheidet sich aber endlich, ein erstes Wort zu legen. Mit einem Blick, in dem sie alle Vergeblichkeit von Welt und Sein zu einen weiß, legt sie es aus, obwohl es ihr nicht viele Punkte einbringt: REST. Ist es der Rest, den sie mir mit ihrem Zögern schon vor dem ersten Spielzug beinahe gegeben hätte? Nein, dieser Rest ist prima, denn ich kann ihn zu RESTGAST ergänzen.
»Restgast?«, fragt Mutter streng. »Was soll das sein?« – »Na, der zähe Restgast, der Gottseibeiuns der Gastronomie«, erkläre ich. »Der Kerl, der nachts um drei noch am Tresen hängt und partout nicht gehen will. Das ist der Restgast.«
Mutter lässt das nicht gelten: »Das ist frei erfunden. Und außerdem steht Restgast garantiert nicht im Duden.« – »Duden, Duden, was willst duden?«, gebe ich albern zurück und frohlocke: »Aber im Gebetbuch steht es. Du kennst es selber: ›Komm, Herr Jesus, und sei unser Restgast …‹«
Mutter lächelt milde und ist kein bisschen überzeugt: »Nein, Restgast gibt es nicht.« Menno, denke ich und antworte entschlossen: »Scrabble heißt als Verb zwar kritzeln, krabbeln, kratzen, scharren, suchen, sich abmühen, sich plagen und abrackern, aber das muss hier doch keine mühsame Scharrerei werden. Ich schlage dir Folgendes vor: Ich darf den Restgast legen, aber die Punkte bekommst du. Dann hast du deine Additionstriumphe, und ich habe meinen Spaß.« Der Restgast gefällt Mutter zwar immer noch nicht, aber die Punkte …! Sie willigt ein.
Endlich also kann man spielen. Wo es MUSIK gibt, da gibt es auch KÄSMUSIK, wer hätte sie nicht schon selbst gehört und dann das Radio erschossen? Apropos: Wenn das Radio in den Nachrichten ganz ernsthaft Wörter wie »Wesentlichkeitsschwelle« ausspuckt, dann kann auf dem Scrabble-Tisch aus einem ASYL leicht ein ASYLCHRIST werden, da ist der Schaden vergleichsweise geringer und die dazugehörige Freude größer. Mutter stöhnt, schreibt sich aber mit gleichermaßen rollenden wie eben auch glitzernden Augen die Punkte gut.
Wo es TOFU gibt, da gibt es auch TOFUKNÄSTE, das ist ein anderes Wort für Veganläden, an denen »Veni, Vegi, Vici« steht. Das Bild eines Berliner Jungvaters schiebt sich vors Auge, der mit seinem zweijährigen Sohn nichts Schönes unternimmt, sondern ihm eine Diskussion aufdrückt: »Wollen wir im Veganladen Saft kaufen?« Die Reaktion des Zweijährigen ist erfreulich klar und kraftvoll: »Neiiiiin!«, schreit er – und meint damit den Veganladen genauso wie seinen charakterfernen Vater.
Zu dem allerdings Mutters OCHSEN gut passen, aus denen anschließend eine OCHSENREUSE wird; als Mutter die Brauen hochziehen will, erkläre ich schnell den Nutzen dieses Geräts: »Damit kann man Quälgeister wegfangen. Zum Beispiel die Puhdys, die passen da rein, alle in eine Ochsenreuse.«
Ich gebe zu, dass es sich bei den Puhdys mittlerweile um eine eher museale Belästigung handelt. Es gibt dergleichen mannigfach in jüngerer Ausführung; denken Sie nur einmal an den Mannheimer Wimmerschinken. Oder an die Zeilen »Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit …« Man fragt sich schon, in welcher psychischen Beschaffenheit junge Menschen unterwegs sind, die sich solch gehirngewaschen wolfgangschäublischsicherheitsarchitektonisch paranoiden Zeilen ausdenken, freiwillig anhören oder mitsingen: »Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit …« Wer wünscht sich da in den Seelenzustand der Sicherungsverwahrung hinein, und warum nur? Dass die Band »Silbermond«, deren Sängerin diese Zeile entquillt, aus Bautzen stammt, einer Stadt, die jahrzehntelang eine ganz eigene Definition von Sicherheit prägte, mag als Erklärung für ihr unwürdiges Betteln und Barmen nach Sicherheit vorläufig genügen.
Mutter kennt die Puhdys nicht, sie hat noch niemals etwas von diesen Leuten läuten gehört, geschweige denn ein Lied. Mutter hat es gut, denke ich, und sie findet das auch; sie hat schließlich haushoch gewonnen.
In der nächsten Partie wächst die MEISE zur ALTERSMEISE heran, die im ALTERSMEISENKASTEN ein Zuhause findet. Und wenn es ein ALTERSHEIM gibt, das im Beschönigungsjargon »Seniorenstift« genannt wird, dann muss es auch ein ALTERSHEIMKIND geben. Mutter sieht das ein und akzeptiert auch die Abkürzung für Intelligenzquotienten: I-K-U-H, IKUH. Und ist der Greis auch manchmal schlapp, es grast der Geist die Weide ab.
Die Tierwelt ist ohnehin bestens geeignet, um schöpferisch tätig zu werden. So kann aus einem menschlichen ollen MUFFEL eine MUFFELENTE werden, der ein MUFFELENTERICH beigegeben wird. Der WURM wird zum LINDWURM aus der Sage – der dann mit einer nur ein Feld entfernten PASTE zu LINDWURMIPASTE kombiniert wird, zu Lindwurmipaste aus Italien, die sehr gut zu GUMMIPASTA passt. Und wer sagt denn, dass es keine TAUMELAMÖBE gibt? Dass man sie nicht kennt, gilt nicht als Argument – auch nicht beim INTIMLURCH, unter dem man sich allerdings eher einen öligen Herrn aus dem Reich der Menschen vorstellt, der sicher gern bei einer JESUITENQUEEN vor Anker ginge.
Wer Kunde der POST ist, kennt auch POSTDEBILE, und wo geLUDERt wird, fallen JETLUDER. Ohne jede Menge POSTDEBILE JETLUDER gäbe es Zeitschriften wie Bunte, Focus, Gala oder Cicero nicht. Dass gegen HUSTEN die Einnahme von HUSTENSAFT hilft, fand Mutter fast schon langweilig – weshalb ich ihr mit einem MÖSENHUSTENSAFT eine Freude machen wollte. Als ihr das jedoch zu weit ging, erläuterte ich höchst seriös, dass gerade in der kalten Jahreszeit an zugigen Bus- und Straßenbahnhaltestellen unter Mänteln und Röcken ein Mösenhusten deutlich zu vernehmen sei – »öch-öch« –, den es mit ärztlicher und pharmazeutischer Kunst zu lindern gelte. Allein die gigantische Punktzahl konnte Mutters Widerstand aufweichen.
Als ich aber eine RUNKELRÜBE in RUNKELRÜBEINTIM wandelte, halfen mir keine Eloquenz und keine Lüge mehr weiter. Runkelrübe intim sei eine Fachzeitschrift für den Landwirt von Welt, beteuerte ich zwar noch, sie, Mutter, solle nur einmal »Bauer sucht Frau« anschauen, da werde das Blatt beworben. Doch Mutter ließ sich nicht länger foppen. »Von so was verstehst du nichts«, beschied sie kategorisch. »Du hast doch gar keinen Fernseher.«
Treffer, versenkt. »Bauer sucht Frau« war ein Fehler. Es ist allein meine Schuld, dass die Zeitschrift Runkelrübe intim niemals das Licht dieser Welt erblicken wird.