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Am Neujahrstage, als am Beschneidungsfeste des Herrn.
ОглавлениеGalat. 3, 23–29.
23. Ehe denn aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz verwahret und verschloßen auf den Glauben, der da sollte geoffenbaret werden. 24. Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum, daß wir durch den Glauben gerecht würden. 25. Nun aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. 26. Denn ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christo Jesu. 27. Denn wie viele euer getauft sind, die haben Christum angezogen. 28. Hie ist kein Jude noch Grieche, hie ist kein Knecht noch Freier, hie ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu. 29. Seid ihr aber Christi; so seid ihr ja Abrahams Samen, und nach der Verheißung Erben.
Schon im Eingang der Predigt vom letzten Sonntage ist auf die Verwandtschaft des heutigen epistolischen Textes mit dem des bereits genannten Sonntags aufmerksam gemacht worden. Beide haben im Ganzen und Großen einerlei Fortschritt des Gedankens. In beiden handelt der erste Teil von dem Zustande der Unmündigkeit, der zweite von der Aufhebung der Unmündigkeit und der dritte von der Kindschaft.Und doch sind beide von einander sehr verschieden. Während der vorige Text die Zeit der Unmündigkeit als eine Zeit des Ausschlusses von dem väterlichen Erbe behandelte, erscheint sie in dem heutigen Texte mehr als eine Zeit der Erziehung und Vorbereitung für die Mündigkeit, als für eine höhere Lebensstufe. Während am vorigen Sonntage im zweiten Teil mehr die Erlösung hervortrat, tritt in dem heutigen Text und deßen zweitem Teile mehr die Rechtfertigung hervor als Pförtnerin zur Kindschaft. Und während in der letzten Epistel die Kindschaft selbst als ein Besitz des Geistes der Kindschaft und des göttlichen Erbes behandelt ist, sehen wir heute neben dem Erbe, welches auch in diesem Texte das letzte Wort ist, die Gemeinschaft der Gläubigen hervortreten oder den mystischen, geheimnisvollen Leib des Herrn Jesus, welchem ein jeder in Christo Jesu gerechtfertigte Mensch eingefügt und eingeleibt wird. Diese Verschiedenheiten haben wir in unsrem diesmaligen Vortrag besonders in’s Auge zu faßen, und ihr habt hiemit die Ankündigung des Inhaltes dieses Vortrags vernommen.
Ob euch dieser Inhalt Vergnügen macht, weiß ich allerdings nicht; ich fürchte, daß ihr lieber einen anderen Inhalt begrüßen würdet. Es ist ja Neujahr, und der Text klingt so gar nicht neujahrsgemäß, die Inhaltsanzeige aber entlockt ihm, wie es scheint, auch keine Seite, welche den beliebten und läuftigen Neujahrsgedanken entspräche. Dazu ist heute der Namenstag unsers Herrn; das Evangelium handelt auch von der Beschneidung und dem Namen Jesu, die Epistel aber scheint auch in dieser Rücksicht keine Verwandtschaft mit dem Evangelium und der Feier des Tages zu haben. Sie ist wol ganz offenbar mit der Epistel des letzten Sonntags verwandt und zwar ziemlich ähnlich, wie die Episteln der beiden Weihnachtstage unter einander verwandt sind; es ist daher auch im Allgemeinen etwas weihnachtsmäßiges aus dem Texte herauszufinden. Aber ein Neujahrstext, ein Beschneidungs- oder Namens-Jesu-Text ist es eben nicht, und so kann man auch keine Predigt erwarten, wie man sich dieselbe an diesem Tage wünscht. Indeßen, meine lieben Brüder, wäre es dennoch möglich, daß es anders käme. Es ist wahr, daß die Kirche ihr eigentliches Neujahr erst vor wenigen Wochen gefeiert hat und deshalb den Neujahrsgedanken, zumal wie man ihn gegenwärtig so gerne formt und haben will, nicht in den Vordergrund kann treten laßen. Doch hört man in unserm Texte von der neuen Creatur, und die stimmt, dächte ich, zum neuen Jahre gar wol und bildet den allerschönsten Neujahrwunsch, den es geben kann. Sodann handelt zwar allerdings der Text nicht von der Beschneidung, die mit Händen geschieht. Aber wie die zweite Weihnachtsepistel im Unterschied von der ersten nicht auf die erziehende, sondern auf die wiedergebärende Gnade hinweist, auf die Taufgnade; so weist der heutige Text bei seinem innigen Verhältnis zu dem des vorigen Sonntags nicht auf die erlösende, sondern auf die rechtfertigende Gnade und verlegt das große Werk dieser Gnade in die Taufe, von welcher die alttestamentliche Beschneidung nur ein Vorbild ist, während sie selbst in der heiligen Schrift die Beschneidung ohne Hände heißt und die Beschneidung des Herzens. Da entspricht denn allerdings die Epistel dem Evangelio vortrefflich, und wir feiern im Glanz unsrer eignen neutestamentlichen Beschneidung die leibliche Beschneidung unsers Herrn. Was aber die Feier dieses Tages als Namensfest Jesu anlangt, so bedarf es eben keines sehr scharfen Auges, um zu sehen, daß auch sie in unserm Texte gar wol berücksichtigt ist. Ich kann den Namen Jesus nicht höher ehren und nicht näher an mich ziehen, als wenn ich Jesum Christum selbst anziehe, gewissermaßen selbst Jesus werde, ja nicht bloß mit meiner eignen kleinen Persönlichkeit in Jesu Christo aufgehe, sondern auch die ganze Kirche in Christo Jesu aufgehen laße. Das aber geschieht gerade in unserm Texte. In einer sehr bezeichnenden Stelle desselben heißt es ja: „Alle, die ihr auf Christum getauft seid, habt Christum angezogen“; und in einer andern, nicht minder bedeutenden Stelle heißt es: „Ihr seid alle Einer in Christo Jesu.“ Da geht alles in Christo Jesu auf, die Person Jesu Christi und damit ihr heiliger, seliger, wundervoller Name wird in reichem Segen geschaut, wir selbst aber erscheinen von diesem Segen ganz eingehüllt und können das Lied des heiligen Bernhard von Clairvaux auf den Namen des Herrn Jesus mit großen Freuden singen. – Ich muß es euch gestehen, meine lieben Brüder, daß mir kein Name süßer und lieblicher klingt, als der Name Jesus. Es ist mir auch kein Name wichtiger und größer, und ihr werdet euch selbst erinnern,wie oft ich euch an dem wiederkehrenden Namensfeste des Herrn aufmerksam gemacht habe, daß nach der Lehre des heiligen Paulus im Briefe an die Philipper sich im Namen Jesu beugen sollen alle Kniee derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters. Wenn ich euch auf Grund der eben angeführten Sprüche allezeit zu kniebeugender Andacht bei Nennung des Namens Jesu vermahnt und aufgefordert habe, so ist mir insonderheit dieser Tag, das Namensfest unsres Herrn, ein Tag der Kniebeugung und Andacht, an welchem ich euch mit dem 95. Psalm einlade und rufe: „Kommt herzu, laßt uns dem Herrn frohlocken und jauchzen dem Hort unsres Heils; kommt laßt uns anbeten und knieen und niederfallen vor dem Herrn.“ Die Hirten, von denen wir gehört haben, und die Weisen, von denen wir hören werden, sollen uns Vorbilder sein, welche zur Nachahmung reizen. Doch aber dürfen wir, lieben Brüder, nicht vergeßen, daß zu solcher Anbetung Texte wie die heutige Epistel mächtig reizen, und daß wir kaum uns selber zur Freude des Namens Jesu mehr bereiten können, als wenn wir, frei von aller Vormundschaft und Unmündigkeit, gerechtfertigt und in den Glanz des Verdienstes Christi, ja in Christum selbst gekleidet, unsre Stelle am großen Leibe Jesu Christi einnehmen und bedenken und uns des großen Reichtums freuen, den wir in Christo Jesu besitzen. Darum laßt uns nur guten Jahresanfang machen und fröhlich hineinsteigen in die erquickenden Waßer unsres Textes; der Herr aber gebe, daß durch die evangelischen Worte, die wir betrachten, wir rein werden von Sünd und Gebrechen, gerecht und heilig in Jesu.[1]
Die Zeit der Vormundschaft wird in diesem Texte auf eine doppelte Weise dargestellt. Die eine ist hergenommen vom Leben des einzelnen Mündels unter dem Zuchtmeister. Die andere aber deutet auf eine Erweiterung des ersteren Verhältnisses, wie sie nötig wird, wenn der Mündel so viele sind, wie man sich bei Erklärung des Gleichnisses denken muß; denn haben uns unter den Mündeln wenn auch nicht die ganze Menschheit, so doch das jüdische Volk zu denken. Wie verständlich zur Anwendung wird uns beides nur werden, wenn wir die Erklärung aus den Sitten des Altertums nehmen. Es geht hier, wie es bei Betrachtung der heiligen Schrift so oft geht, wie auch der heilige Hilarius von Pictavium gesagt hat: „die Aussprüche der heiligen Schrift gewinnen Licht aus den Verhältnissen.“ – Der edle Knabe des Altertums verlebte seine Jugend und die Zeit seiner Unmündigkeit unter der Aufsicht eines Pädagogos, d. i. eines Erziehers, wie Luther für uns neuere Deutsche mit etwas grimmem Ausdruck übersetzt, „eines Zuchtmeisters“. Dieser Pädagog oder Zuchtmeister war häufig aus der Sklavenfamilie des Vaters genommen. Er war nicht Lehrer des jungen Knaben, aber er begleitete ihn auf dem Gang zu seinen Lehrern hin und her, ja nicht bloß auf dem Gang zur Schule, sondern auf allen Tritten und Schritten, und der Jüngling konnte bis zu der Zeit, da er in das mündige Alter eintrat, ohne Willen und Wißen seines Pädagogos auch nicht das mindeste thun, mußte sich allewege hofmeistern laßen und fügen. Je älter er wurde, je mehr seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit erwuchs, desto mehr mußte ihm das Leben unter dem Joch des Pädagogos als reine Sklaverei vorkommen. Bei den Griechen und Römern wurden alle Jünglinge auf diese Weise erzogen, und es konnte sich daher der einzelne nicht darüber beklagen, daß ihm ein besonderes Unrecht geschähe. Der Pädagog, unter welchem der Jüngling seufzte, konnte der ehrwürdigste Mensch von der Welt sein, der Mündel konnte zu ihm persönlich das größte Vertrauen haben. In der Sache aber änderte das gar nichts, es war eben das Leben unter dem Pädagogos oder Hofmeister eine Art von Sklaverei, und man wurde der immerwährenden Einsprache und Mahnung nicht los. Erträglich wurde es nur durch die Hoffnung auf die Zeit der Mündigkeit, bei deren Eintritt mit einem Male sich alles änderte. Denn da trat ja der Pädagogos zurück, und wenn er ein Sklave war, stand er von nun an mehr unter seinem Zögling, als dieser vorher unter ihm. Dann sprach nicht mehr der Sklave dem Herrn ein, sondern wie wenn ihm auf einmal die Weisheit gekommen wäre, konnte nun der bisherige Zögling seinen Erzieher meistern. Es gieng da ungefähr wie bei uns mit dem weiblichen Geschlechte. Da ist ein Mägdlein von 17, 18 Jahren, an welchem nach der Frauenzimmer Weise alle Verwandtinnen und Gespielen etwas zu tadelnund auszusetzen haben, vielleicht auch mit Grund. Laß nun aber heute einen Freier kommen und sie ehelichen, so wird aus dem Kinde auf einmal eine Frau, von der man verlangt, daß sie das Haus und ihre Mägde regiere. Und siehe da, man verlangt es nicht bloß, sondern sie thuts, sie kann’s. Von der man gestern behauptete, sie könne nicht gehorchen, geschweige regieren, die findet sich heute im Hausregimente und gehabt sich ganz wol. Ein Wendepunkt bringt Verstand. Darauf hofft nicht der Mensch allein, der sich wenden soll, darauf hoffen auch die Seinen, die ihn lieben, und diese Hoffnung macht die Wartezeit für beide Teile erträglich.
Dieses Verhältnis des einzelnen Mündels, das Leben unter dem Hofmeister ist es, woran der 24. Vers unsers Textes erinnert, wenn er sagt: „Das Gesetz ist unser Zuchtmeister gewesen, auf Christum,“ Christus und das Leben unter ihm ist die Hoffnung, mit welcher sich die Heiligen Gottes unter dem Gesetz trösten. Das Gesetz selber mit seinen vielerlei, in alle auch die einzelnen Lebensverhältnisse verzweigten Satzungen und Mahnungen, von welchen Apostelg. 15, 10 sogar der heilige Petrus bezeugt, daß es ein Joch war, welches weder die alten Väter noch die Apostel tragen konnten, ist der unermüdliche Hofmeister, der gar nichts anders thut, als was er soll, wenn er ohne Unterlaß mahnt und krittelt und hofmeistert, und den Menschen mit sich und seiner ganzen Lage unzufrieden macht. Es soll ja auch kein Mündel mit seiner Lage zufrieden sein, der Tag der Lossprechung und des Eintritts in die christliche Freiheit soll ihm ein ersehnter Freudentag sein und einen neuen Lebensabschnitt bringen.
Ausgedehnt auf viele Mündel erscheint nun dies Verhältnis im 23. Vers des Kapitels, in welchem der Apostel sagt: „Wir wurden unter dem Gesetz verwahrt und verschloßen auf den Glauben“, oder: „Wir wurden dem Gesetze zur Verwahrung überliefert und waren unter ihm miteinander eingeschloßen für eine zukünftige beßere Zeit, in welcher die Verheißung erfüllt, die Erfüllung im Glauben ergriffen wird und ein seliger Zustand der Freiheit eintritt.“ Da sieht man den Zuchtmeister des Einzelnen wie einen Sklavenwärter, der einen Haufen Sklaven zu bewahren, zu verschließen und so lange gefangen zu halten hat, bis Einer kommt und die armen Sklaven kauft und frei läßt. Es ist das für jeden Einzelnen ganz derselbe Zustand, wie der des Mündels unter dem Pädagogos, nur daß einerseits die große Zahl der Menschen von gleichem Loose, andrerseits aber die Hoffnung auf beßere Tage bestimmter hervorgehoben wird.
Schon während wir das Gleichnis erläuterten, haben wir den Sinn desselben einfließen laßen. Es ist nichts anders damit angedeutet, als die Zeit der Erwartung Christi, während welcher Gott der Herr den Juden Sein reiches, mannigfaltiges und wunderbares Gesetz gegeben hat, damit sie sich in demselben üben, ihre Ohnmacht kennen lernen und je mehr und mehr für eine Zeit reifen sollten, in welcher man abstehen würde von dem gesetzlichen Treiben und eigenen Werken und seines Glaubens froh, gerecht und heilig werden. Diese Zeit des alten Testamentes ist nun allerdings vorüber. Niemand dringt mehr auf Erfüllung des mosaischen Gesetzes und Beobachtung seiner Satzungen; sogar der Jude kann im Grunde nicht mehr darauf dringen, weil das Gesetz außerhalb Palästinas und ohne die dortigen Lebensbedingungen und den Tempel gar nicht gehalten werden kann. Würde man aber deshalb, weil die Zeit der Vormundschaft der Welt nach Gottes Willen geschloßen ist, der Meinung sein, daß man nun gar nicht mehr von einem ähnlichen Zustande reden könne, so würde man sich eben damit keinem unbedeutenden Irrtum hingeben. Gott hat allerdings bereits die Zeit der Vormundschaft geschloßen, der Pädagogos oder das Gesetz soll die armen Menschenkinder nicht mehr für Christum aufbewahren, denn Christus selbst ist ja da, und die neue Zeit ist herein gebrochen. Allein wenn auch nach Gottes Willen die Zeit der Gesetzlichkeit vorüber sein soll, so hält doch oft der Mensch selbst sich auf dem Wege zum Ziele auf und verharrt aus eigner Wahl in einem Zustande, der ihm ebenso wenig von Gott auferlegt, als ihm selbst angenehm ist. Es kann ja kommen, daß einem Gefangenen die Erlaubnis gegeben ist, in die Freiheit zu gehen, daß ein Sklave nach seines Herrn Willen frei gelaßen werden kann und soll, daß aber der Gefangene den Kerker und der Sklave die Sklaverei nicht laßen will, und durch eignen Entschluß dasjenige festzuhalten streben, wozu sie keine Nötigung mehr haben. Man sieht ja das im Großen bei dem Volke der Juden, und wer etwas Entsprechendes bei den Christen suchen wollte, Würde nicht lange vergeblichsuchen, weil es ja einen Zustand der Gesetzlichkeit gibt, in welchem der Mensch, vermöge der falschen Deutung, die er dem Sittengesetze gibt, innerlich dem Juden ähnlich wird, der sich noch nach 1800 Jahren mit Satzungen abmüht, die ihre Bedeutung längst verloren haben. Wenn es nun auch keineswegs so ist, daß jetzt noch ein jeder auf dem Wege zum Heil notwendig eine Periode der Gesetzlichkeit durchmachen muß, und es gar wol sein kann, daß einer, der zur Erkenntnis kommt, schnell in die evangelische Freiheit und Seligkeit hineintritt; so kommt doch die Gesetzlichkeit sehr häufig vor, namentlich in unsrer Zeit, die noch so sehr an den Nachklängen des Pietismus leidet, und in welcher daher oft gerade die redlichsten Seelen von gesetzlicher Schwachheit und irrendem Gewißen schwer angefochten werden. Man macht zu wenig Fortschritte im Guten, – es scheint, als gehe man rückwärts, statt vorwärts, man entdeckt immer eine neue Sünde im vergangenen Leben oder in der Tiefe der Seele; anstatt daß es einem je länger, je woler würde, wird man seiner selbst und der quälenden Sündennoth immer müder, und weil alle Anstrengung, die man macht, und alle Mühe, die man sich gibt, doch nicht dahin führen, daß man mit sich selbst zufrieden sein könnte; so wird die Anfechtung immer größer und eine immer wachsende Angst legt sich über die arme Seele. Da scheint man umsonst zu leben und zu Christo nicht zu gehören, man sieht in sich selbst nichts als Heuchelei und Gleißnerei und wagt es nicht mehr, sich Gott in Christo Jesu zu nahen. Anfangs, da man in Sachen des ewigen Heiles begann ernster gesinnt zu werden, wagte man es allenfalls und hatte dabei selige Stunden. Was soll man aber nun machen, nachdem man ein alter Christ, und dabei je länger, je unruhiger geworden ist und gar nichts in sich spürt, als Erkenntnis der Sünde und Gottes Zorn, wie er aus dem Gesetze fließt? In diesem Zustand, meine Freunde, ist man allerdings ein armer Jude geworden und in Gefahr, der Anfechtung eigner Gerechtigkeit zu erliegen. Der Satan betrügt einen um den Frieden Gottes durch die immer neue Qual, die er im Herzen des Menschen erregt, der das Beßere will. Das Auge schließt sich immer mehr für die Sonne der Gnade, die am Himmel leuchtet, und eine tiefe Nacht und Traurigkeit umgibt das arme, müde Herz. Aus der Anfechtung fließen tiefe Leiden, welche sich namentlich bei gewissen krankhaften Anlagen des Körpers zu Gemüthskrankheiten, ja bis zum Wahnsinn steigern können. Die Lage eines solchen Herzens ist bedauernswerther, als die des Juden, denn der wartet doch noch auf eine beßere Zeit, die ihm sein Messias bringen soll, während der gesetzliche Christ nicht mehr wartet und nicht mehr hofft, sondern verzweifelt und sein Leiden für unheilbar, sich selbst für unrettbar hält. Da helfen dann keine Trostgründe, die Seele versinkt in der Wollust ihrer Schmerzen, ist mistrauisch gegen jede dargebotene milde Hand, und hält für wahr nur das Wort desjenigen Menschen, der alle Hoffnung abschneidet und das gewisse Ziel den armen Geängsteten in den Flammen der Hölle suchen heißt. – Diese Zustände sind so schrecklich und kommen so oft vor, daß sie auch manchen unter euch bekannt sind, und daß ich gar nicht überrascht sein würde, wenn der oder jener unter euch die Bemerkung machen wollte, daß meine Beschreibung lange nicht an die Wahrheit reicht und die Leiden der Anfechtung weit größer und quälender seien. Aber auch das wäre nichts anders, als die Gesetzlichkeit und ihre schlimme Art, vermöge welcher das Auge an die Nacht und das Ohr dermaßen an das Grausige gewöhnt ist, daß man von einem gnädigen Jahr des Herrn und von einem Troste Israels nichts wißen will. So geplagten Menschen kann man gewis keine beßere Arznei reichen, als die, welche im zweiten Teil unsres Textes gegeben ist, die an andern Stellen der heiligen Schrift noch glänzender dargelegt ist, immerhin aber auch aus unsrem Texte licht und klar genug quillt, um ein armes Herz zu heilen.
Die Zeit der Mündigkeit wird in unserm Texte gegenüber der der Unmündigkeit mit dem Namen Glaube bezeichnet. „Ehe aber der Glaube kam,“ drückt sich der Apostel im ersten Vers des Textes aus. Wie die alttestamentliche Zeit durch das Wort Gesetz, so wird die neutestamentliche durch das Wort Glaube charakterisirt. Und wie das Gesetz den Menschen nach Art eines Hofmeisters drückt und knechtet, so wird der Mensch durch den Glauben ein erwachsener, freier und seliger Sohn des Herrn. Wenn übrigens der Apostel sagt: „Ehe der Glaube kam,“ so kann man versucht werden, die Frage aufzuwerfen, ob unter dem Glauben mehr die Zuversicht unsrer Seele auf die göttlichen Heilsthaten, oder mehr diese Heilsthatenselber zu verstehen seien, auf denen unsre Zuversicht ruht. Wenn in dem 24. Vers der Eintritt in die Mündigkeit dadurch bezeichnet wird, daß der Apostel sagt, das Gesetz sei unser Zuchtmeister auf Christum geworden, daß wir aus dem Glauben gerechtfertigt würden; so ist da durch das Wort „Glaube“ wol die Zuversicht unsrer Seele bezeichnet, welche Glaube heißt, weil wir durch die großen Heilsthaten Gottes zwar versöhnt und erlöst, aber nicht gerechtfertigt werden konnten. Dagegen aber könnte man doch geneigt sein, in der erstgenannten Stelle, dem 23. Vers des Kapitels, mehr die Heilsthaten zu finden, welche die neutestamentliche Zeit charakterisiren und durch deren gläubiges Ergreifen man in den Stand der Rechtfertigung eintritt. Es mag nun jedoch damit sein, wie es will; ohne die großen Heilsthaten hätte unser Glaube keinen Grund, auf dem er ruhen könnte, und ohne Zuversicht der Seelen ruhen wir auf ihnen nicht und werden nicht gerechtfertigt. Beides gehört zusammen, nur daß wir um die Heilsthaten Gottes nicht zu sorgen haben, denn sie sind vollbracht, wol aber um die Zuversicht der Seelen, ohne welche wir weder gerecht, noch frei, noch Gottes Kinder werden.
Das Wort „rechtfertigen“ ist eine Scheidewand zwischen der römischen und der lutherischen Kirche. Die römische Kirche übersetzt das griechische Wort wie ihre lateinische Uebersetzung, mit „gerecht machen“ und schreibt also dem Glauben eine den Menschen durchdringende, heiligende Kraft zu, vermöge welcher in ihm die sittliche Aenderung vor sich geht, welche wir Heiligung zu nennen pflegen. Die protestantischen Kirchen dagegen erkennen das Wort „rechtfertigen“ als ein gerichtliches an und verstehen darunter nichts anderes, als los und frei sprechen oder für gerecht erklären. In diesem Sinne aufgefaßt, hat das Wort mit der innern, sittlichen Veränderung des Menschen zunächst nichts zu thun, so wenig der protestantische Christ auch leugnet, daß der Glaube ein schäftig, mächtig Ding sei, welches den Menschen ändert. Es ist nun von dieser Aenderung im Worte nicht die Rede, sondern allein von einem richterlichen Urteil. Auf welche Seite, ob auf die römische oder die protestantische man zu treten habe, kann dem nicht lange verborgen sein, der allein die heilige Schrift zu Rathe zieht. Das Wort „rechtfertigen“ ist nach dem Sinne des heiligen Paulus jedenfalls ein gerichtliches Wort und steht der Anschuldigung und Anklage des Gesetzes und Gewißens gegenüber; wer sich davon überzeugen will, der lese nur einfach die Briefe Pauli. Nicht überall, nicht bei allen Aposteln und in allen Briefen sind die Worte „gerecht, Gerechtigkeit und rechtfertigen“ in gleicher Weise gebraucht. Auch in den Evangelien und in dem Munde Jesu sind die Worte „gerecht“ und „Gerechtigkeit“ nicht immer so gebraucht, daß man nur einfach den paulinischen Sinn unterlegen und immer für gerecht oder Gerechtigkeit sagen dürfte „gerecht aus Glauben,“ „Gerechtigkeit des Glaubens.“ Dieses große Wort, welches den Christen in seiner Gott-Wohlgefälligkeit bezeichnet, gleicht einer herrlichen Gestalt, die, von verschiedenen Augen angesehen, verschieden erscheint, während sie selber doch in allen Erscheinungen eine und dieselbe ist und bleibt. Jeder Apostel braucht das Wort, ein jeder in seiner Weise, aber alle verschiedenen apostolischen Auffaßungen laufen zum Ruhm und Preise der einen Gerechtigkeit zusammen. Keiner widerspricht dem andern, die Aussprüche aller harmoniren, und wer alle zusammenstellt, die Verschiedenheit und Einheit zusammenfaßen kann, der erst gewinnt den Vollgenuß, der vor Irrtum bewahrt und in allen einzelnen Stellen das rechte Verständnis anbahnt. Das aber ist gewis, daß die protestantischen Kirchen das Wort St. Pauli richtig auffaßen, wenn sie sagen: rechtfertigen heißt „den Sünder für gerecht erklären“; gerecht ist der Sünder, den Gott aus Gnaden um seines Glaubens willen für gerecht erklärt; Gerechtigkeit aber ist der Zustand eines Menschen, den Gott gerecht erklärt hat, es ist der Zustand des Glaubens, der gegenüber den Anklagen des Gesetzes auf die großen Thaten Gottes zur Erlösung der Menschheit, auf die Gnade in Christo Jesu vertraut.
Denken wir uns einen Israeliten, der sich sein Leben lang bemüht hat, den Forderungen des göttlichen Gesetzes nachzukommen, oder auch einen andern Menschen, der so recht gewißenhaft dem Ziele der Heiligung nachjagt. Beide werden, je mehr sie sein wollen, wie sie sein sollen, desto ängstlicher sein, desto unruhiger, und über dem ewigen Mislingen ihrer ernsten Absicht und bei der täglichen Erfahrung ihrer Schwachheit und Bosheit wird sich in ihnen ein Sklavensinn ausbilden, ähnlich dem des Schulknaben, der unter der Ruthe steht, aber ganz das Gegenteil von jenemfröhlichen, freudigen Sinn, den man mit dem Worte Kindschaft bezeichnet. Ob man den Menschen außerhalb oder innerhalb des Gesetzes sich denkt, ja sogar außerhalb oder innerhalb der Gnade, immer wird man zugestehen müßen, daß er nie in dieser Welt die Gerechtigkeit erlangen kann, welche mit Heiligkeit gleichbedeutend ist. Wer kann die Forderungen seines Gewißens zufrieden stellen? Kann ich aber mir selbst nicht genügen, wie soll ich Gott genügen? Finde ich an mir nichts als Flecken und Mängel, wenn ich mich mit dem finstern Laternenlicht meines Gewißens anleuchte: wie soll mirs gehen, wenn mich die Sonne des göttlichen Auges anscheint, und Er mich vor Gericht zieht? Ein Prediger muß Heiligung predigen und Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit entflammen; ein Christ muß nachjagen der Heiligung, ohne welche niemand den Herrn sehen kann, auch muß er gute Werke wirken, die ihm nachfolgen vor Gottes Angesicht. Aber wie man den Menschen zum Kindessinn, zur Freiheit und Freude der Kinder Gottes auf dem Wege heiliger Werke führen soll, oder wie einer auf diesem Wege sich selbst Ruhe, Freudigkeit und Zuversicht erarbeiten könne: das verstehe ich nicht. Ich weiß es wol, daß jede wol vollbrachte Aufgabe und jedes gelungene Werk den Menschen erfreuen, und daß ein gut Gewißen in Mitte der Menschen, ja unter Räubern und Mördern ein sanftes Ruhekißen sein kann. Aber wenn ich auch einmal etwas recht gemacht habe und darüber natürlich vergnügter bin, als im umgekehrten Falle, so ist das doch nicht der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, und nicht die Freude des heiligen Geistes, sondern nur ein natürliches Vorbild oder ein Abglanz davon, der mir wie ein papierener Heiligenschein verraucht und vergeht, sowie ich vor Gottes Angesicht trete. Und wenn ich auch vor Menschen und gegen Menschen gut Gewißen und die Freudigkeit eines jungen Löwen hätte; wenn ich auch mit David meinen Feinden gegenüber beten könnte: „Vergilt mir nach der Reinigkeit meiner Hände;“ ja wenn ich selbst eine hohe Stufe der Vollendung durch die Gnade Gottes erreicht hätte, und mir die Liebe zuschreiben könnte, die des Gesetzes Erfüllung ist: es wäre doch alles miteinander nicht hinreichend, vor Gott zu stehen, vor welchem niemand ein gut Gewißen hat, vor welchem die Himmel nicht rein sind und seine Boten nicht ohne Tadel. Kurz, wenn ich Ruhe haben und mir der Sklavensinn vergehen soll, so nützt mir keine eigene Gerechtigkeit, und ich werde nimmermehr den Sinn eines Kindes Gottes und die Freudigkeit eines Menschen erlangen, der aus der Vormundschaft und in die Rechte der Kindschaft tritt, es sei denn, daß mich Gott rechtfertige und mir ein gnädiges Urteil der Vergebung meiner Sünden und in Christo Jesu Frieden und das Recht zuspricht, mich als sein Kind zu fühlen. Nur die Offenbarung der göttlichen Begnadigung, die Versicherung der Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit unsres Herrn Jesus Christus kann meine Seele vor Gott stillen, mich im Leben und Sterben froh und freudig machen. So gewis es daher ist, daß uns Christus Jesus versöhnt und erlöst hat, und mir alles bereitet hat, was ich bedarf, so gewis ist es doch auch, daß niemand in die Schätze und den Reichtum der Erlösung und Versöhnung eintritt, außer durch die Rechtfertigung, und daß allein diese die Pforte unsrer Freiheit und der alleinige Grund unsrer Ruhe vor Gott ist. Der Augenblick, in dem wir von diesem Grunde weichen, stößt uns wieder in Unruhe und Unfrieden hinein; wir finden weder im Leben noch im Sterben einen andern Weg des Friedens und der Freudigkeit zu Gott, als den der Rechtfertigung. Daher sagt auch der heilige Paulus, das Gesetz sei unser Zuchtmeister gewesen, damit wir die Rechtfertigung aus dem Glauben empfiengen; wenn der Glaube an Jesum Christum und an die Rechtfertigung da sei, dann sei man nicht mehr unter der Pein des Zuchtmeisters; durch den Glauben würden alle Gottes-Kinder, und es kommt also auf gar nichts an, als darauf, daß man Glauben faße und die Rechtfertigung empfange. – Fragst du nun, wie und wo soll ich die Rechtfertigung empfangen, den Freispruch und das gnädige Urteil meines Gottes hören, so ist die Antwort leicht. Wozu hat denn der Herr im Himmel der Kirche Seine Taufe, Sein Wort der Absolution, Sein Abendmahl gegeben, wenn nicht zu dem Ende, daß Er ein Zeugnis seines gnädigen Willens gegen uns auf Erden gebe, und uns durch Geist, Waßer und Blut, also in dreifacher, wunderlieblich verschiedener Weise Eins bestätige, daß wir Seine Kinder und Er unser gnädiger Vater sei, der mit uns um unsrer Sünden willen nicht mehr rechten wolle, sondern Gnade für Rechtergehen laße. Der Herr hat gesorgt, daß uns Sein gnädiges Urteil auf mancherlei Weise zukomme, weil wir täglich viel sündigen, eitel Strafe verdienen, und tagtäglich die wiederkehrende Sünde und Sündenlust unsre Ruhe, unsren Kindessinn und unsre Freude zerstören will. Der immer neuen Störung gegenüber steht das immer neue göttliche Zeugnis von der Gnade Gottes. In unsrem Texte ist insonderheit die Taufe als Zeugnis der Rechtfertigung hervorgehoben, und zwar mit einem solchen Glanze, daß uns aller Zweifel vergehen kann. Ganz offenbar liegen in der Rechtfertigung zwei göttliche Handlungen vereinigt, nemlich Vergebung der Sünden und Zurechnung der Gerechtigkeit des Herrn Jesus. Sind uns die Sünden vergeben, so sind wir straffrei, aber den Ruhm, den wir vor Gott haben sollten, haben wir damit doch noch nicht. Ist uns aber die Gerechtigkeit Jesu Christi zugerechnet, so haben wir auch diesen Ruhm, und es fehlt uns dann nichts, um als Gottes Kinder von Gott und all den Seinen behandelt zu werden. Diese Zurechnung der Gerechtigkeit Jesu Christi erscheint nun aber in dem Verse unsres Textes im schönsten Glanze, in welchem es heißt: „Alle, die ihr auf Christum getauft seid, habt Christum angezogen.“ Was heißt das anders, als ihr seid von Christo bedeckt, wie von einem Kleide, in Ihn eingehüllt und strahlet von Seinem Glanze, so daß man nicht mehr euch sieht, sondern Ihn, und ihr nicht mehr behandelt werden könnt nach euerm Werthe, sondern nach dem Werthe Deßen, der euch deckt. Wahrlich, lieber als durch dies Gleichnis könnte uns die Taufe durch nichts gemacht werden, und herrlicher als auf diese Weise könnte die Gerechtigkeit Christi, die wir an uns tragen, nicht geschildert werden. Da ist es freilich aus mit aller Hofmeisterei, wenn man Christum an uns hofmeistern müßte, und da muß freilich selbst das göttliche Gesetz vor uns verstummen, weil Christus von uns wiederscheint. Da sind wir freilich Gottes Kinder, wenn der Eingeborne uns gegeben und zugerechnet ist, und kein Zweifel kann mehr sein, daß wir in der Freiheit stehen, wenn Gott selbst die Glorie des ewigen Königs uns beigelegt hat. Da können wir Ruhe und Friede haben, in allen Fällen des Lebens und Sterbens, aber auch merken und verstehen, daß das unterscheidende Merkmal des Volkes Gottes und der Vorzug, vor welchem alle andern Vorzüge erblaßen, die Rechtfertigung ist, die dem Glauben beigelegt wird.
Hier stehen wir beim dritten Teile des Textes. Denn in der That, nicht blos muß ein jeder Christ, der es weiß, was es um die Rechtfertigung ist, sie für den kenntlichsten Vorzug der heiligen Religion halten, die er in seinem Herzen trägt, sondern auch für denjenigen, vor welchem alle übrigen Vorzüge und alle Verschiedenheiten dieses irdischen Lebens erbleichen und vergehen. Wenn ich vermöge der Rechtfertigung Christum angezogen habe, dann fühle ich mich sicher vor allem Uebel, der göttlichen Gnade gewis, als ein Kind Gottes und als einen Erben der ewigen Güter. Und wenn ich rücksichtlich eines andern Ursache habe anzunehmen, daß auch er gerechtfertigt sei, dann erkenne ich ihn ebensowol als meinen Bruder, wie ich mich als ein Kind Gottes erkenne; weil er auch ein Gotteskind ist, muß er mein Bruder sein und eins mit mir in allem, worinnen die Einigkeit nothwendig ist. Die Rechtfertigung ist die gemeinsame Gnade aller gläubigen armen Sünder in Christo Jesu, durch sie und ihre heiligen Folgen werden sie vor Gott zu eitel Kindern, zu einer Familie, zu einem Volke, zu einer wahrhaft heiligen Kirche, welche mit der Sonne bedeckt ist, die Jesus Christus heißt. Warum bist du ein Bruder deiner geistlichen Brüder, fragte mich einer; meine Antwort war: Erstens, weil ich von Natur so elend bin wie sie, und sie wie ich; zweitens, weil ich durch die rechtfertigende Gnade in einerlei Glück und Seligkeit gesetzt bin; drittens, weil ich einerlei Geschäft der Liebe auf Erden und einerlei Hoffnung im Himmel habe; jedoch zunächst deshalb, weil ich einerlei Rechtfertigung mit ihnen besitze. Nun ist es zwar richtig, daß Gottes Freispruch im Himmel geschieht und im Herzen der Gläubigen versiegelt wird durch den Glauben, daß man Gottes eigne freisprechende Stimme ebenso wenig mit den Ohren hören, als die Versiegelung der Rechtfertigung durch den Glauben mit Augen schauen kann, – daß deshalb niemand auf Erden schwuresgewis weiß und versichern kann, ob und daß sein Nachbar gerechtfertigt, Gottes Kind und ein Erbe des ewigen Lebens sei, – daß daher die wahre Kirche Gottes eine unsichtbare Schaar ist. Allein dieser richtige Satz soll mir nicht dazu dienen, mich an allen meinen Brüdern irre zu machen und außer mir und um mich her keinenMenschen zu sehen, den ich für meinesgleichen erachten könnte. Die Lehre von der unsichtbaren Kirche ist auch nicht blos ein letzter Trost derer, die an der ganzen sichtbaren Kirche irre geworden sind, nicht blos der letzte Rettungsanker für diejenigen, die unter täglichen Enttäuschungen und immer neuen Erfahrungen des Bösen, doch auch gerne noch den Glauben an eine heilige Menschheit auf Erden festhalten wollen. Wollten wir so von einer unsichtbaren Kirche reden, so würden wir in der That auf eine unapostolische Weise die Lehre gebrauchen, welche an und für sich richtig und wahr ist. Nicht mit dem Mistrauen eines Menschen, der rings um sich her möglicher Weise nur Heuchler sieht, sondern im Gegenteil mit jener brüderlichen Liebe, welche durch den wahren Glauben in das Herz des Menschen ausgegoßen ist, mit der Liebe, die alles hofft, sieht ein rechter Christ die Gemeinde um sich her an. Alle diejenigen, die er möglicherweise für gerechtfertigt halten kann, sind ihm Brüder, und er hält sie so lange dafür und behandelt sie als solche so lange, als nicht das Gegenteil sonnenklar vorliegt. Ein frommer Christ sieht also seine Glaubensgenoßen, die nicht in der Zucht stehen oder excommunicirt sind, als gerechtfertigte Kinder Gottes an, als seine Brüder, mit denen er eins ist im innersten Grunde der Seele. So haben die heiligen Apostel ihre Gemeinden trotz aller vorhandenen und gerügten Fehler angesehen und behandelt, und dieselbige Betrachtungsweise müßen auch wir auf die gegenwärtigen Gemeinden anwenden, so viel es nur immer deren zuchtloser und der Wahrheit ungetreuer allgemeiner Charakter gestatten wird. Die möglichst weite Ausdehnung unsers brüderlichen Vertrauens rechtfertigt sich vor dem Herrn selber durch das achte Gebot Seines Mundes. So gibt es also auch für unser irdisches Leben eine Kirche, welcher wir mit aller Liebe und in großem Frieden zugethan sind. Wir erkennen uns mit derselbigen als ein Leib, dieweil wir alle zu einem Leibe getauft und, wie wir in unserm Texte lesen, allzumal Einer sind in Christo Jesu. Unsre Einigkeit mit ihr gründet sich auf unser gemeinsames Ruhen in den Wunden Jesu, auf dieselbe Taufe und dasselbe Taufkleid und Kleid der Gerechtigkeit, welches wir alle vor Gott und vor den Menschen tragen.
Vor dieser Einigkeit treten alle Verschiedenheiten zurück. Was für ein Unterschied zwischen einem Juden und Griechen, einem Israeliten und einem Heiden! Aber wenn alle beide durch dieselbe Taufe eine und dieselbe Rechtfertigung erlangten, alle beide Christi Eigentum geworden sind, so weicht vor dem Glanze der Einigkeit die gewaltige Verschiedenheit zurück, die Trennung fällt hin, und auch ein Jude, der für seine Volksvorzüge wie Paulus begeistert ist, erkennt doch den Christ gewordenen Heiden für seinesgleichen, für ein Glied am Leibe Christi an, und ruft ihm zu: „Bist Du Christi, so bist Du auch Abrahams Saame und nach der Verheißung ein Erbe.“ Eben so ist es mit anderen großen Unterschieden unter den Menschen. Kann auch etwas jammervoller sein, als der Unterschied zwischen dem Freien und dem Sklaven. Man kann den Unterschied im irdischen Leben achten, wie St. Paulus im Brief an Philemon; man kann im Sklaven das Eigentum seines irdischen Herrn und Besitzers erkennen und trotz aller Uebel der alten und neuen Sklaverei sich doch nicht für berechtigt halten, andere Sklaven frei zu laßen, als die eignen. Aber ist nicht dennoch die Lage des Sklaven eine erschreckliche, und die Sklaverei selbst eine der bittersten Früchte der Sünde? Und wenn man auf Grund der heiligen Schrift nicht Macht und Befugnis findet, das Uebel geradezu mit der Wurzel auszurotten; soll man nicht doch mit allem treuen Fleiße dahin trachten, daß allmählich diese Schande der Menschheit und dieser Hohn der hohen Lehre von einer und derselbigen Abstammung aller Menschen hinweg gethan werde? Wenn es aber so ist, wenn man das sollte, was wird man denn für Mittel und Wege zum Ziele einzuschlagen haben? Leichte Antwort: Bekehre den Herrn und seine Sklaven zu Christo Jesu, so wird sich alles ändern, und wenn auch nicht mit einmal das ganze Verhältnis dahinsinkt, so wird es doch eine ganz andre Gestalt, ja ich möchte sagen, ein ganz andres Wesen annehmen. Der Sklave wird mit seinem Herrn zur Taufe, zu Gottes Tisch gehen und der Diener Gottes am Altare wird ihnen zurufen: „Da ist kein Sklave und kein Freier, ihr seid beide einer in Christo Jesu.“ Die siegreiche, einigende Macht des gleichen Himmelsweges wird die irdischen Unterschiede so verklären, daß Gott dadurch mehr gepriesen wird, als wenn sie nie bestanden hätten. – Ja der Apostel führt noch ein Beispiel an, welches wo möglich noch stärker ist, als diezwei erst genannten: „Da ist kein Mann und kein Weib,“ ruft er, „ihr seid allzumal einer in Christo.“ Was für ein Unterschied ist zwischen einem Manne und einem Weibe nach Leib und Seele; sie sind verschiedener unter einander, als die Völker und Racen. Und doch wird durch den einen Glauben und den Anteil, welchen beide an derselben Rechtfertigung haben, der gewaltige Unterschied zur lieblichsten Mannigfaltigkeit, und es baut sich der geistige Leib und Tempel Jesu Christi aus männlichen und weiblichen Gliedern zur harmonischesten Einheit auf. Da kommt das Weib zu Ehren, das früher wie eine Sklavin von Natur geachtet wurde, da steigt es an sittlichem und geistlichem Werthe, und der Mann neigt sich zu ihr, zu der gleich Weisen, Seligen und Heiligen, mit einer Achtung, von welcher die Heiden nichts zu sagen wißen. – Welch stärkere Beispiele hätte der Apostel wählen können, um die Einheit und Vereinigung des Volkes Gottes auf Erden anzuzeigen. Der Jude traut dem Heiden, der Herr dem Sklaven, der Sklave dem Herrn, und Männer und Weiber sind einig, weil sie sich alle für gleich verloren durch die Sünde, aber auch für eines Vaters ewig selige Kinder durch die Rechtfertigung erkennen. Hierin, meine lieben Brüder, sehe ich beides, das höchste Zeichen der Mündigkeit und den Triumph der sichtbaren Kirche. Gott rechtfertigt alle Tage durch Taufe, Absolution und Abendmahl, macht alle gleich durch das Verdammungsurteil ihrer Sünde, aber auch durch den Freispruch der Gnade. Da geht das Gotteskind mit allen Gerechtfertigten dieselbe Straße. Es sieht den Unterschied der Nationen und Stände und Geschlechter, aber er ist ihm kein Hindernis mehr. Gott rechtfertigt, so rechtfertigt er auch, spricht frei und ehrlich, kann achten und lieben, und wandelt also nicht allein selber in der Freiheit, sondern sieht auch andre mit Freuden in derselben gehen. Ein unvollkommnes Volk hält sich also zusammen im Bekenntnis der Gnade und göttlichen Rechtfertigung. Sie wißen es, daß trotz aller treuen Zucht und Vermahnung Heuchler und Maulchristen unter ihnen sind und sein werden; aber das ängstigt sie nicht; nicht das Mistrauen, das Vertrauen beherrscht dies Volk, welches durch Glauben und Vertrauen selig wird, sie erkennen einander auf dem gleichen Grunde der Rechtfertigung an und bilden miteinander eine heilige christliche Kirche, weil sie mit einander im Genuße derselben Gnade stehen, und in die Herrlichkeit desselben Christus eingehüllt sind.
Brüder, es ist eine Vorsehung Gottes, daß wir Deutsche, andre aber Franzosen, Spanier, Italiener sind, nicht ohne den Willen Gottes gibt es verschiedene Nationen, der Herr hat die Sprachen verwirrt und die Nationen geschieden. Auch hat Er einer jeden Nation ihr besonderes gegeben, es zu hegen und zu pflegen, und es werden sich diese Verschiedenheiten an Art und Gabe ohne Zweifel geltend machen bis in’s Heiligtum hinein, so daß man in Anbetracht derselben mit einem gewissen Rechte von einer deutschen Kirche und andern Nationalkirchen sprechen kann. Aber im eigentlichen Sinne kann man von Nationalkirchen nicht sprechen. Wo überall das Wort Gottes lauter und rein gepredigt, und die Sakramente nach der Einsetzung Jesu Christi verwaltet werden, da entsteht ein heiliges Volk, eine Kirche, Glieder desselben Leibes, Teilhaber desselben Geistes, eine selige Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit weit größer und wichtiger ist, als der Unterschied der Nationen. Als sich die Menschheit in Babel zu einer gottlosen Schaar vereinigen wollte, hinderte der Herr vom Himmel die heillose Einigkeit durch die weit erträglichere Verschiedenheit und machte verschiedene Sprachen und Nationen. Was Er aber dem Satan nimmermehr will gelingen laßen, nemlich die Menschheit zu einigen, das erstrebt und erreicht Er selber durch die rechtfertigende Gnade im Bau Seiner heiligen Kirche und bringt aus allen Völkern und Sprachen und Zungen eine Heerde zu dem einen Hirten. Einen lieblichern und größern Gedanken hat uns Gott nicht geoffenbart, als diesen, der von der Welt her verborgen und dem Satan entrückt, uns aber als ein von der Welt her verborgenes Geheimnis durch Seine heiligen Apostel und Propheten geoffenbart ist. Diesen heiligen großen Gedanken erkenne man an und laße die Menschheit durch die Erkenntnis Einer Kirche in ihre Freiheit gehen. So lange man im neuen Testamente das Evangelium an Nationalitäten binden will, sei’s auch die Deutsche, hängt man doch nur wieder an den Elementen der Welt und baut die Zäune auf, die vor dem Wirken des heiligen Geistes sinken sollen, hält auch die Mannigfaltigkeit der Gaben und Kräfte auf, durch die Vereinigung mit der heiligenKirche zu ihrer Verklärung zu kommen. Keinerlei Sonderung, sondern die Vereinigung der Kirche Gottes ist des dreieinigen Gottes größtes und liebstes Werk; aber freilich, ich rede von keiner Rechtfertigung, von keiner Freiheit und von keiner Einigung, als von der in Christo Jesu.
Jesus, das ist der Name, in welchem sich alle Kniee beugen, und mit welchem alle Zungen ihren Herrn bekennen sollen zur Ehre Gottes des Vaters. Jesus und Alles! In Christo Jesu liegen verborgen alle Schätze Gottes. Wer an den glaubt der hat alles was er bedürfen kann, ja mehr als er verstehen kann. Jesus, da ist mit zwei Silben ausgesprochen, was der Himmel in sich hält, und was die Kirche auf Erden zusammenhält. Am Namenstage Jesu find ich in diesem Namen alles, meine Rechtfertigung, den Glanz meiner Taufe, meine Absolution, die Herrlichkeit des Altarsakramentes. Alles heißt Jesus, und mit den zwei Silben spreche ich alles in allem aus. Jesus, das ist des Himmels Zier, der Beherrscher der Erde, das Haupt der Kirche und ihr Erlöser.
Ich habe euch heute allerlei Inhalt des Textes vor Augen und Ohren gebracht, euch auch die Rechtfertigung gepriesen, am wenigsten habe ich vom Glauben gesagt, obwol ich weiß und innerlich überzeugt bin, daß wir gerechtfertigt werden, allein aus Glauben, und daß das Wort rechtfertigen im Paulinischen Sinne, ohne das Wörtchen allein gar nicht verstanden werden kann. Es lebt und stirbt mit dem Wörtchen allein. Dennoch habe ich vom Glauben und Unglauben so wenig geredet. Am Namenstag Jesu ist es, wie wenn sich das glauben von selber gäbe; des Namens Ton und Deutung fordert und weckt den Glauben, und in einer christlichen Gemeine, vor deren Ohren man liest: „Nun aber ist der Glaube kommen,“ muß man den Glauben nicht blos predigen, sondern voraussetzen können, denn der ist unsers Lebens Element. Todeswort und Todesschall ist alles, was gesagt ist, ohne Glauben.
Amen.
Fußnote:
1 Per evangelica dicta deleantur nostra delicta.