Читать книгу Kinder erzieht man nicht so nebenbei - Wilma Burk - Страница 11
8. Kapitel - 1962
ОглавлениеAuch im beginnenden neuen Jahr wurde deutlich, dass die befürchtete Eskalation des kalten Krieges zu einer bewaffneten Auseinandersetzung nach dem Mauerbau ausblieb. Die Panzer, die beim Bau der Mauer in Ost und West an der Grenze postiert worden waren, wurden zurückgezogen. Nun abgegrenzt und nicht mehr im Vergleich zu West-Berlin stehend, wurde Ost-Berlin jetzt Stück für Stück zur Hauptstadt der DDR gestaltet. Da wurde der Berlin-Status noch weniger als vorher beachtet, sondern Walter Ulbricht, der starke Mann der DDR, forderte erneut das Ende des Viermächte-Status, den Abzug der alliierten Streitkräfte aus West-Berlin und die Umwandlung zur „Freien Stadt“.
„Die Forderungen von denen da drüben sind geradezu unverschämt.“ Konrad war empört.
„Aber was kann man dagegen tun?“ Mich ängstigte wieder dieser erneute Versuch, West-Berlin vom Westen zu trennen.
„Wenn uns die Westmächte nicht aufgeben, können die im Osten machen, was sie wollen, sie werden nichts erreichen. Nur das ist wichtig. Und ich glaube fest daran, dass sie zu uns halten.“ Konrad war davon überzeugt.
Doch je weniger der Westen sich aus der Ruhe bringen ließ, desto mehr nahmen die Schikanen zu. Gefährliche Störmanöver mit Stanniolstreifen, von sowjetischen Flugzeugen im Luftkorridor abgeworfen, sollten den Luftverkehr auf den Transitstrecken über der DDR erschweren. Die Verständigung über Funk und auch Radar waren dadurch gestört. Das bedeutete zugleich eine Gefährdung des Luftverkehrs zwischen West-Berlin und der freien Welt.
Glaubten die Machthaber im Osten, West-Berlin damit in der Falle zu haben? Wollten sie versuchen, diese einzige freie Verbindung nach dem Westen unter ihre Kontrolle zu bringen? So, wie sie es mit den Transitwegen zu Bahn, Wasser und Straße geschafft hatten? Auch die Maifeier in West-Berlin auf dem Platz der Republik am Brandenburger Tor wurde von der nahen Grenze her mit lauter Propaganda und Musik aus Großlautsprechern gestört. Sie ließen nichts aus, wenn es darum ging, West-Berlin ihre vermeintliche Macht spüren zu lassen.
Mama rief oft besorgt an. Plötzlich schien sie mehr Angst davor zu haben als wir, dass der Westen dem Druck aus dem Osten eines Tages nachgeben könnte. Doch das geschah nur so lange, bis sie mir wieder eine Neuigkeit berichten konnte. „Stell dir vor, Bruno ist Vater geworden“, teilte sie mir aufgeregt mit. Damit war für sie vorerst jede noch so aktuelle Nachricht zweitrangig.
„Nein“, staunte ich, „davon habe ich ja vorher gar nichts erfahren.“
„Ich auch nicht“, sagte sie. „Bruno scheint es zu lieben, mich vor vollendete Tatsachen zu stellen.“ Und dies klang fast gekränkt.
„Was ist es denn?“
„Ein Mädchen, eine kleine Belinda. Das ist mein drittes Enkelkind. Schade, dass ich es nicht sehen kann“, bemerkte sie traurig.
„Hast du nicht Lust zu Bruno nach Australien zu fliegen? Wenn Traudel und ich uns das Geld für das Flugticket teilen, vielleicht könnten wir dir damit den Flug ermöglichen“, schlug ich ihr vor. Ich wusste, wie brennend gern sie ihre neue kleine Enkelin einmal in den Arm genommen hätte.
Doch sie wehrte sofort ab: „Wo denkst du hin? Wer soll dann für Susanne und Klaus sorgen?“
„Aber, Mama, vorübergehend wird sich sicher mal Traudel um ihre Kinder kümmern können.“
„Hast du eine Ahnung! Da würde etwas Schönes bei herauskommen. Nein, nein, das wäre keine gute Idee. Die Kinder brauchen mich hier, und damit basta!“
Trotz aller Sehnsucht, die Kinder waren ihr wichtiger, als eine Reise zu Bruno.
*
Auch bei Margot und Helmut gab es eine freudige Neuigkeit für uns, auch sie erwarteten im nächsten Jahr ein Kind. Wie Konrad damals, als ich schwanger war, gab sich Helmut ebenso besorgt um Margot. Noch war nichts zu sehen, nur zu ahnen, da riet er ihr, Umstandskleider zu tragen, damit es das Kleine bequem hätte.
„Das meinst du nicht im Ernst!“, lachte Margot so laut auf, dass die Nachbarn aus dem Nebengarten neugierig zu uns herübersahen.
„Nun übertreibst du aber!“, wies auch ich ihn zurecht.
Das hielt ihn aber nicht davon ab, weiter besorgt um Margot herum zu sein.
Schließlich zog sogar Konrad ihn damit auf.
„Mit fast vierzig Jahren bin ich eben schon ein alter werdender Vater“, verteidigte er sich. „Und außerdem, fass dich mal an deine eigene Nase, Konrad, wie hast du dich gehabt, als Katrina schwanger war? Du hast wohl vergessen, dass deine Schwiegermutter sagen musste: Eine Schwangerschaft sei keine Krankheit!“, erinnerte er launig herausfordernd. Aber dann hielt er erschrocken inne und sah zu mir herüber.
Auch Konrad blickte besorgt zu mir.
„Ist schon gut!“; versicherte ich und winkte ab. Dennoch fragte ich mich, ob es jemals aufhören würde wehzutun, wenn ich an mein verlorenes Kind dachte. Lass dich von dem überängstlichen Helmut nicht unterkriegen!“, riet ich Margot. und lachte ihr zu.
*
Das Leben in der Stadt nahm seinen geschäftigen Gang. Die trennende Mauer wuchs. Die Männer, die daran arbeiteten, wurden von bewaffneten Grenzsoldaten der DDR schwer bewacht, damit sie keine Gelegenheit finden konnten, über die Grenze in den Westen zu springen. Der Todesstreifen hinter der Mauer zum Osten hin wurde wie eine Schneise durch die Stadt gezogen und immer breiter.
Doch die meisten Menschen hinter dieser Mauer und diesem Todesstreifen wurden nicht zufriedener mit ihrem ungeliebten Arbeiter- und Bauern-Staat. Bei vielen war der Wunsch zu fliehen mit der immer perfekter werdenden Abgrenzung zum Westen hin nicht zu unterdrücken. Da wurden die abenteuerlichsten Pläne geschmiedet, wie die Grenze überwunden werden konnte.
„Hast du gelesen?“, fragte mich frohlockend Konrad eines Morgens. „Passagiere eines Ausflugsdampfers haben den Kapitän aus Ost-Berlin betrunken gemacht und das Schiff dann auf das Westufer der Spree zu gesteuert.“ Diejenigen, die in den Westen wollten, sind dort hinuntergesprungen und sicher auch so manch einer, der die Gelegenheit ergriff und vorher gar nicht daran gedacht hatte zu fliehen.
Man freute sich über jeden, dem so eine abenteuerliche Flucht gelang. Doch leider erfüllten sich auch viele tragische Schicksale an dieser Mauer, wenn einem die Flucht nicht gelang, er gefasst oder sogar erschossen wurde. Wie viele versuchten die Spree bei Nacht zu durchschwimmen und kamen nie am Westufer an, weil auch sie zuletzt noch gefasst wurden oder ertranken. Tunnel wurden gebaut, durch die etliche unter der Mauer durchkrochen. Die Grenzsoldaten der DDR schossen auf wegstrebende Menschen wie auf Hasen. Und alle wollten nur von Ost nach West, niemand kam auf die Idee, die Mauer illegal von West nach Ost zu überwinden.
Wir hatten uns gerade unseren ersten Fernseher angeschafft. Wie gebannt und erschüttert saßen wir davor und glaubten, dass nicht wahr sein konnte, was wir sahen. Dies alles gezeigt zu bekommen, war doch etwas anderes, als es in der Zeitung zu lesen.
In Hannover hatte man sich schneller an die neuen Gegebenheiten in Berlin, die Mauer, gewöhnt als wir. Man war eben weit weg, hatte andere Interessen. Da war es wichtig, dass die Räumlichkeiten der Werkstatt langsam zu eng wurden. Traudel hatte eine glückliche Hand für den Betrieb.
„Sie zieht neue Kunden förmlich an“, betonte Onkel Oskar vergnügt und rieb sich die Hände. „Ihr müsstet mal erleben, wie sie mit einem Kunden verhandelt. Da holt sie glatt den höchsten Preis heraus, und der Kunde meint noch, er bekomme etwas geschenkt.“
Traudel protestierte sofort. „Übers Ohr gehauen habe ich noch niemanden.“
„Das habe ich auch nicht gesagt“, betonte Onkel Oskar. Aber schmunzelnd fragte er sie: „Doch wo hat nur deine Tochter Susanne das her? Wenn sie mit ihrem kleinen Bruder um Süßigkeiten feilscht, haut sie ihn glatt übers Ohr.“
Da lachte Traudel. „Von mir jedenfalls nicht!“
„Na, etwa von mir?“, wehrte auch Karl-Heinz ab.
Und alle sahen belustigt zu Susanne, die gerade dabei war, ihrem Bruder die Schokolade abzuschwatzen, die wir für die Kinder mitgebracht hatten.
Susanne, sechs Jahre alt, war in die Schule gekommen. Ihre Schultüte war fast größer als sie selbst gewesen.
„Jetzt ist es ja mit ein paar Süßigkeiten - wie bei euch damals - nicht mehr getan. Es muss unbedingt noch Spielzeug dabei sein“, kritisierte Mama.
Susi bekam nicht nur eine Puppe, sondern auch noch einen neuen Rock und einen Pulli. Sie entwickelte zeitig ihren eigenen Geschmack in der Kleidung. Sie wusste sehr genau, was sie anziehen wollte. Wenn Mama etwas anderes zehnmal praktischer fand, sie weigerte sich, es anzuziehen. Da setzte sie ihren Dickkopf durch und Mama konnte machen, was sie wollte.
Traudel stand auf Susis Seite. „Zwing sie nicht dazu, wenn sie es nicht will!“, wies sie Mama zurecht.
„Was heißt hier zwingen? Was ist das für eine Erziehung, wenn Kinder tun können, was sie wollen?“, empörte sich Mama.
Wieder griff Karl-Heinz beruhigend ein. „Das ist doch nicht so schlimm, wenn Susi hübsch aussehen will. Ich mag es“, redete er Mama zu.
„Ihr müsst es ja wissen!“, brummte Mama und wandte sich ab.
Wenn Karl-Heinz etwas sagte, widersprach Mama selten. Wenn er das so wollte, dann war das für sie in Ordnung.
Das änderte aber nichts daran, dass sie sich bei mir über Traudels seltsame Erziehungsmethoden - wie sie es nannte - beklagte. Wie oft sagte sie am Telefon empört: „Das hätte es bei mir nicht gegeben!“ Sanft versuchte ich dann, sie daran zu erinnern, dass sie schon zwischen Traudel und mir Unterschiede in der Erziehung gemacht hatte, weil sich - wie sie selbst einmal sagte - in den acht Jahren Altersunterschied zwischen uns bereits viel verändert hatte. Wie viel erst musste sich von damals bis heute verändert haben, versuchte ich ihr klarzumachen.
Karl-Heinz hatte zu tun, die beiden stets aufs Neue zu versöhnen. Doch selbst dann, wenn Mama androhte, sie würde nach Berlin zurückgehen, schien er es zu schaffen.
Auf Karl-Heinz ließ Mama so leicht nichts kommen, schließlich war er der Mann im Haus. Wenn Traudel mal gegen ihn aufbocken wollte, musste sie sich von ihr anhören, dass sich alles um den Mann zu drehen hätte. Dabei war es ihr egal, dass es Traudel war, die immer mehr den Betrieb schmiss und nicht Karl-Heinz. Dass einer Frau dies gelang, war in dieser Zeit sowieso noch ungewöhnlich.
„Wo sie das nur her hat?“, überlegte Mama manchmal.
Wenn Karl-Heinz dann gut gelaunt neckend zu ihr sagte: „Ist sie denn überhaupt von Papa?“, dann konnte sie ihm empört drohen. Aber sie lachte dabei, denn Karl-Heinz nahm sie so leicht nichts übel, er konnte sich das erlauben.
Wenn Mama auch nicht verstand, weshalb immer mehr junge Frauen glaubten, nur der Beruf könne Erfüllung in ihr Leben bringen, Kinder, Ehe und Haushalt müssten nebenbei erledigt werden, so konnte sie bei allem Streit darum mit Traudel nicht verbergen, dass sie eigentlich sehr stolz darauf war, was ihre Tochter leistete.