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5. Kapitel - 1959
ОглавлениеAls neuen Trumpf veröffentlichte die Sowjetunion den Entwurf zu einem Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten, wobei wiederum West-Berlin eine entmilitarisierte „Freie Stadt“ werden sollte. Als das nichts half, drohten sie mit einem separaten Friedensvertrag mit der DDR.
„Mein Gott, nimmt denn dieser Nervenkrieg kein Ende!“, klagte Mama. „Um Papas willen würde ich die Zeitung am liebsten abbestellen. Du glaubst nicht, wie er verbissen beim Lesen dasitzen kann mit hochrotem Kopf. Er braucht nichts zu sagen, ich sehe, wie er sich über jedes Wort aufregt.“
„Sollte er nicht zum Arzt gehen? Das ist nicht mehr normal bei ihm“, versuchte ich Mama zuzureden.
„Na, das schlag ihm mal vor! Dahin geht er im Leben nicht. Ich bin froh, wenn er erst seine Rente bekommt. Die Kollegen machen ihn auch verrückt, will mir scheinen.“
*
Papa sollte seine Rente nicht mehr erreichen. Er war gerade vierundsechzig Jahre alt, als er sich nach der Arbeit an einem schönen Frühlingstag zum Zeitungslesen in seinen Sessel setzte und für immer einschlief. Plötzlich und unerwartet!
Mama erzählte hundertmal, wie sie ihm etwas mitteilen wollte und das Zimmer betrat, wie sie nicht glauben konnte, dass er tot sei. Er ist wieder eingeschlafen wie so oft, redete sie sich ein. Aber da kroch in ihr bereits so eine Ahnung hoch, nein, eher ein Wissen, gegen das sie sich nur noch wehrte. Sie versuchte verzweifelt ihn aufzuwecken, sie schüttelte ihn voller Angst, nun doch die Wahrheit erkennend. Und sie beschrieb, wie kalt sie das Gefühl der Einsamkeit in diesem Augenblick überfiel. Mich schauderte jedes Mal, wenn sie davon sprach.
Es war ein schöner erstmals warmer Frühlingstag, so, wie ihn Papa liebte, als er zu Grabe getragen wurde. Ein linder Wind strich durch das zarte Grün der Bäume und die Sonne schien durch die Zweige auf einen langen Trauerzug. Alle waren gekommen: Verwandte, auch die, die man nur zu Hochzeiten oder Beerdigungen sieht, Freunde, Nachbarn und die erschrockenen Kollegen von Papa, die zu erzählen wussten, wie sehr er sich auf seine Rentenzeit gefreut hatte.
Gestützt von Karl-Heinz und Konrad folgte Mama gebeugt dem Sarg. So zusammengesunken wirkte sie zwischen beiden noch kleiner als sie ohnehin war. Traudel ging neben mir und schluchzte leise vor sich hin. Sie konnte nicht aufhören zu weinen.
„Fast vier Jahre habe ich Papa nicht gesehen. Immer konnten wir nicht weg wegen des Betriebes und weil die Kinder noch so klein waren. Und nun?“, hatte sie verzweifelt geklagt, als Karl-Heinz und sie mit Susanne und Klaus nach Berlin gekommen waren. „Warum geht es jetzt, warum so vieles erst, wenn es zu spät ist?“
„Quäle dich nicht!“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Wenn du nicht Sehnsucht hattest herzukommen, weil du dort glücklich warst, dann war dies Papa bestimmt mehr wert, als wenn du vor lauter Sehnsucht ständig nach Hause gekommen wärst.“
„Warum nur ist er nicht einmal mit Mama zu uns mitgekommen?“, fragte sie ratlos.
„Du kennst ihn doch! Er sagte immer, er sei im Krieg lange genug von zu Hause weg gewesen, da brauche er jetzt nicht mehr irgendwohin zu fahren“, erinnerte ich sie.
Onkel Anton, Papas Bruder, war aus Immenstadt nicht zur Beerdigung gekommen. Er hatte einen großen Kranz mit riesiger Schleife geschickt. Seit er vor Jahren aus West-Berlin weggegangen war, hatten die Brüder sich nicht mehr wiedergesehen.
Doch auch unser Bruder Bruno hatte aus Australien nicht zur Beerdigung kommen können, worauf Mama so gehofft hatte.
„Wenigstens das hätte er möglich machen müssen!“, sagte sie traurig und enttäuscht.
Der Pfarrer hatte das letzte Gebet für Papa gesprochen, Erde war auf den Sarg gefallen und ein Berg von Blumen türmte sich neben dem noch offenen Grab. Mama stand wie gelähmt und ließ die Menschen an sich vorbeiziehen. Ich fragte mich, ob sie überhaupt auch nur einen davon wahrnahm. Die Menschen verliefen sich über die Wege zwischen den Gräbern dem Tor zur Straße zu.
Mama stand noch immer unbeweglich da. Schweigend blickte sie in das Grab mit leerem Blick. „Hier ist er nicht!“, sagte sie dann auf einmal und wandte sich ab.
Ja, wo war Papa jetzt? Gab es wirklich das ewige Leben im Himmel, wie die Kirche uns versprach, und wovon uns Kindern Mama früher erzählte? Niemals zuvor hatte ich mir eine solche Frage gestellt. Gut, ich konnte ihn nicht mehr berühren, konnte ihn nicht mehr spüren oder wahrnehmen, aber einfach weg? Ich wollte es mir nicht vorstellen, dass alles von ihm vergangen sein sollte in ein Nichts. Er ist doch hier auf dieser Erde gewesen. Irgendwo musste von ihm noch etwas zurückgeblieben sein. Am liebsten hätte ich Mama gefragt, wo sie meinte, dass er nun sei. Vielleicht bei ihr, bei dem wichtigsten Menschen, den er im Leben hatte?
Nur ein kleiner Kreis ging mit uns zu Mama, zu Kaffee und Kuchen. Die Kinder, Susanne und Klaus, von einer Nachbarin während der Beerdigung betreut, holten uns ins Leben zurück. Was wussten sie vom Sterben. Klaus bald ein Jahr alt, führte seine ersten Steh- und vorzeitigen Gehversuche vor, und Susi, fast drei Jahre alt, fand so viel fremde Menschen aufregend.
Besonders Helmut hatte es ihr angetan. Eifrig brachte sie ihm ihre Bauklötzer, schließlich knallte sie ihm ihren Teddy auf den Schoß. „Da, lieb haben!“, forderte sie von ihm. Und als Helmut so tat, als würde er den Teddy umarmen, schob sie diesen beiseite, kroch zu ihm auf den Schoß und gab ihm einen schmatzenden Kuss.
Alle lachten verhalten, außer Mama. Triumphierend schaute sich Susi um. Sie war im Mittelpunkt, das mochte sie.
Karl-Heinz zog Susi energisch von Helmut weg. „Du bist wieder sehr aufdringlich“, rügte er.
Sie aber strampelte, schrie: „Nein, nein!“ Sie machte sich von ihm los und rannte zu Helmut zurück.
„Lass sie doch“, sagte Helmut, „wir vertragen uns schon.“
„Vorsicht! Die hat dich um den Finger gewickelt, ehe du dich versiehst“, warnte Traudel.
„Woher sie das wohl hat?“, fragte Helmut augenzwinkernd zurück. Er kannte Traudel gut, aus der Zeit, als sie selbst noch ein halbes Kind, ihm in unserem Schrebergarten voller Begeisterung wie ein Schatten gefolgt war.
„Mir scheint, du hast eine Eroberung gemacht, Helmut“, zog Konrad ihn auf. „Nur müsstest du ewiger Junggeselle lange warten, bis du sie heiraten kannst.“
„Du kannst es wohl nicht erwarten, mich unter der Haube zu sehen?“, gab Helmut zurück.
Susi interessierte sich nicht dafür, was die Erwachsenen redeten. Sie lief eifrig umher und sammelte ein, was sie jedem abschwatzen konnte: einen Bonbon, ein Stück Zucker, eine Serviette oder einen Teelöffel. Alles brachte sie zu Helmut, als wären es besondere Schätze. Sie mochte ihn spontan und sie zeigte es ihm auf Kinderart. Es war wirklich so, als hätte an diesem Tag eine besondere Zuneigung zwischen Susi und Helmut begonnen.
Dann kam der Moment, als auch der letzte Besucher gegangen war. Nun spürten wir alle beklemmend die Lücke, die Papa hinterlassen hatte. Mama saß blass und teilnahmslos auf ihrem Platz.
„Oh, Katrina, könntest du doch morgen nur herkommen, wenn wir abfahren. Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich davor fürchte, Mama hier allein zu lassen“, klagte Traudel.
Ja, ich machte mir auch Sorgen, wie es mit Mama weitergehen sollte.
*
In der folgenden Zeit dachte ich manchmal, Mama geht Papa hinterher, sie schafft es nicht, allein weiterzuleben. Sie war erst sechsundfünfzig Jahre alt, nach dreiunddreißig Ehejahren. Sie wirkte so verloren in der Wohnung, in der so viel Leben gewesen war, in der Bruno und ich miteinander gebolzt hatten, in der Traudel, neugierig auf das Leben, nicht erwarten konnte, erwachsen zu werden. Stets waren Menschen um Mama gewesen, für die sie denken musste, um die sie sich sorgte. Und nun? Es war, als hätte sie niemanden mehr. Dabei gab es doch uns. Sie hatte zwei Töchter, die sie noch immer brauchten und einen Sohn, für den sie eigentlich bereit sein wollte, wenn er vielleicht enttäuscht aus Australien zurückkehrte. Doch zunächst sah es so aus, als sei ihr dies alles gleichgültig geworden. Sie hatte auch aufgehört, darüber zu klagen, wie Traudel ihre Kinder großzog, „so nebenbei“, wie sie es verständnislos nannte.
Der Sommer war ins Land gezogen, die Blumenkränze auf dem Grab verwelkt und durch blühende Pflanzen ersetzt worden, da erfolgten die ersten Hilferufe von Traudel an Mama.
Doch Mama seufzte nur, strich sich müde die weißer werdenden Haare glatt, und reagierte nicht darauf.
Als der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower nach Berlin kam und seine Entschlossenheit bekundete, die Freiheit West-Berlins zu schützen, seufzte Mama. „Hätte er nicht früher kommen können? Vielleicht wären seine Worte für Papa beruhigend gewesen und er hätte sich nicht so aufgeregt. Vielleicht würde er dann heute noch leben“, sagte sie.
„Ach, Mama, dass Papa sich auf einmal so aufgeregt hat, war bestimmt ein Zeichen seiner Krankheit gewesen. So reagierte er doch sonst nie“, versuchte ich sie zu trösten.
Sie aber schüttelte nur traurig den Kopf. „Woher willst du das wissen?“
Traudel rief fleißig an, fragte Mama, wie es ihr gehe, und fragte auch mich nach ihr. Aber Traudel war selbst bei den Telefonaten stets in Eile. Mama nahm es hin. Es war, als würde sie sich nicht mehr darüber wundern. „Sie ist alt genug, hat Papa gesagt“, begründete sie ihr mangelndes Interesse. Stets war es jetzt für sie wichtig, was Papa zu diesem oder zu jenem gesagt hatte, als könnte sie ohne seine Meinung dazu nicht leben.
Ich sorgte mich sehr um sie. Doch Konrad meinte: „Lass ihr Zeit! Vaters Tod hat sie zu unvorbereitet getroffen. Irgendwann wird sie sich dem Leben wieder zuwenden.“
*
Und das geschah, als der Kirschbaum in unserem Garten die ersten bunten Blätter abwarf. Der Sommer ging zu Ende, ein Gewitterregen wie mit Eimern vom Himmel gegossen überschwemmte die Straßen der Stadt. 210 Liter seien auf den Quadratmeter heruntergekommen, hieß es hinterher. Autos blieben im Wasser stecken oder versanken in Seen, die sich schnell bei Bahn- oder Straßenunterführungen gebildet hatten. Ausgerechnet da waren wir unterwegs zu Mama. Sie wird sich Sorgen machen, wie wir bei diesem Wetter zu ihr kommen können, dachte ich. Aber weit gefehlt! Als wir endlich bei ihr ankamen, fanden wir sie erregt und so lebhaft wie lange nicht mehr vor.
Traudel hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie verschiedene Kurse belegen wollte, um sich in der Buchhaltung und anderen wichtigen Dingen für das Geschäft ausbilden zu lassen. Dabei hatte sie darüber geklagt, dass sie nun nicht wisse, wie das mit den Kindern gehen solle.
Da regte sich zum ersten Mal die alte energische Mama in ihr wieder. „Was macht das Mädel nur? Ist das denn wichtiger als ihre Kinder? Kann sie diese Dinge nicht dem Karl-Heinz und seinem Onkel überlassen! Was ist bloß in euch junge Frauen gefahren? Ihr tut gerade so, als sei Hausarbeit und Kindergroßziehen minderwertig und eine Strafe“, schimpfte sie.
Als dann noch die Nachricht von Traudel kam, dass sie eine Tagesmutter für die Kinder suche, war Mama nicht mehr zu halten. „Ist sie denn noch gescheit, einer fremden Frau ihre Kinder zu überlassen!“ Nun zögerte sie keine Sekunde mehr. Sie packte ihre Koffer und fuhr ab nach Hannover zu Traudel und den Kindern.
„Sie soll sich aber nicht einbilden, dass ich ihr ihre Kinder großziehe. Ich bleibe nur, bis sie diese verrückten Kurse hinter sich hat. Dann muss sie sich ihre Zeit besser einteilen, damit sie auch Zeit für die Kleinen findet. Kinder erzieht man nicht so nebenbei!“ So schimpfte sie noch, bevor sie in den Interzonenzug stieg.
Wochen vergingen. Der Herbst zog ins Land, Weihnachten näherte sich. Jetzt erst begann Mama davon zu sprechen, dass sie nach Hause kommen wollte. Sie wollte zu Papas Grab. Traudel aber und besonders Karl-Heinz redeten ihr zu, wenigstens über Weihnachten bei ihnen zu bleiben.
„Wo kann man besser zu Weihnachten aufgehoben sein, als dort, wo Kinder sind. Es sind doch Ihre Enkelkinder“, schaltete sich auch Onkel Oskar ein.
Das sah Mama ein. Danach aber wollte sie bestimmt zurückkommen.