Читать книгу Kinder erzieht man nicht so nebenbei - Wilma Burk - Страница 4
1. Kapitel - 1955
ОглавлениеDie Teilung Berlins und die Schwierigkeiten, mit denen die Sowjetunion und die Führung der DDR West-Berlin seit Jahren bedrängten, setzten sich fort. Aber die drei Westmächte, Amerika, England und Frankreich, beharrten darauf, in ihren drei Westsektoren der Stadt präsent zu sein. Sie beriefen sich auf den Viermächte-Status der Stadt, den die vier Siegermächte bei Kriegsende miteinander ausgehandelt und vereinbart hatten, und sie protestierten heftig, wenn die UdSSR dagegen verstieß oder von der SED-Regierung in Ost-Berlin eigenmächtige Handlungen zuließ. Längst waren aus einer ehemals einheitlichen Stadt zwei einander fremde Städte geworden, obgleich man noch von der einen in die andere gelangen konnte. Nur das Umland von Berlin war weder für West-Berliner noch für Bundesbürger frei zugänglich, seit die DDR 1952 mit Straßensperren ganz Berlin abgeriegelt und nur einige Übergänge in Ost-Berlin freigelassen hatte. Noch scheuten sie sich, Ost-Berlin gegen West-Berlin genauso abzuriegeln, denn noch versuchten sie, so manche Forderung mit dem Viermächte-Status der Siegermächte für die Stadt zu begründen. Um eben diesen Status von Berlin gab es immer wieder Spannungen und Streit zwischen Ost und West. Jeder berief sich darauf und jeder legte ihn anders aus.
Die Bundesrepublik erreichte man von West-Berlin aus über Transitwege durch die DDR, mit Interzonenzügen oder durch die Luftkorridore der Westmächte, die aber nur von alliierten Flugzeugen benutzt werden durften.
In West-Berlin pulsierte das Leben, die Hungerjahre waren vergessen. Die West-Berliner wussten die Freiheit ihrer Insel, umgeben vom Ostblock - und doch nicht gefangen - sehr zu schätzen. So nahmen sie es hin, Straßenbenutzungsgebühren für Pkws und Lkws für die Benutzung der Transitstrecken auf dem Gebiet der DDR bis zur Bundesrepublik bezahlen zu müssen. Die stabile D-Mark der Bundesrepublik verachteten die östlichen Machthaber dabei nicht, die nahmen sie gern ein.
*
Wie Traudel es sich vorgenommen hatte, so machte sie ihr Abitur. Sie erreichte dabei eine so gute Note, dass Papa noch einmal enttäuscht seufzte: „Schade, du hättest wirklich das Zeug zum Studieren gehabt.“
„Lass man!“, tröstete Mama ihn. „Bei einem Mädchen ist das nicht so wichtig. Irgendwann hätte sie später geheiratet. Dann wäre das ganze Studieren umsonst gewesen.“
„Wir hätten sie aber noch eine Weile bei uns gehabt“, wandte Papa ein. Er hatte sich sehr schwer damit abfinden können, dass sein Nesthäkchen schon mit gerade neunzehn Jahren das Elternhaus verlassen wollte. Doch Traudel war ihm schnurrend so lange um den Bart gegangen, bis er seine Einwilligung zur Hochzeit gegeben hatte. Und die war zu der Zeit noch erforderlich. Erst mit einundzwanzig wäre Traudel volljährig gewesen und hätte darüber allein entscheiden können.
Kurze Zeit später, nachdem Traudel ihr Abitur gemacht hatte, heiratete sie ihren Karl-Heinz an einem schönen und heißen Sommertag. Wie bei der Hochzeit von Konrad und mir vor sieben Jahren kamen alle Verwandten und Freunde aus West und Ost zur Feier. Aus dem Osten allerdings nur die, die noch kommen konnten. Die Gäste aus dem Westen erkannte man daran, dass sie nicht mehr - wie noch bei unserer Hochzeit - umgearbeitete alte Kleider trugen, sondern neue Garderobe, die sie extra für die Hochzeit gekauft hatten. Die Männer füllten ihre Anzüge wieder aus, verschwanden vor Magerkeit nicht mehr darin wie früher. Auch die Hochzeitstafel zu füllen, wäre jetzt für Mama nicht mehr schwer gewesen wie bei uns damals, als gerade die sowjetische Blockade von West-Berlin begonnen hatte. Doch diesmal musste sie sich nicht darum kümmern. Die Feier fand in einem Raum für Vereinssitzungen oder Familienfeiern in der Kneipe an der Ecke unserer Straße statt. Hier sorgte der Wirt für Speisen und Getränke. Mama rannte nicht zwischen Küche und Hochzeitstafel hin und her, sondern sie saß mit Papa auf einem Ehrenplatz gleich neben Karl-Heinz, dem Bräutigam.
„Was haben sich die Zeiten doch gebessert“, stellte sie zufrieden fest.
„Ja, wenn nur auch die Spannungen um Berlin aufhören würden“, meinte Karl-Heinz.
„Darum werdet ihr euch in Hannover bald nicht mehr kümmern“, vermutete Konrad. Wir wussten von unserer Reise in die Berge her, wie wenig sich die Bundesdeutschen für Berlin interessierten.
„Das sicher nicht!“, wehrte Traudel ab. „Dazu habe ich hier viel zu lange gelebt.“
„Ich sollte dir eigentlich böse sein, dass du uns Traudel so zeitig und so weit weg entführst“, sagte Mama zu Karl-Heinz und gab ihm scherzhaft einen Klaps auf seinen Arm. Es war aber nicht zu übersehen, er hatte längst ihr Herz erobert.
Sahen Konrad und ich damals als Brautpaar auch so glücklich aus wie die beiden, die da nebeneinander auf den bekränzten Stühlen saßen? Ja, man ging noch voller Illusionen in eine Ehe. Ich dachte daran, wie Traudel mich damals vor meiner Hochzeit besorgt gefragt hatte, ob sie jemals eine schöne Braut sein könnte, weil sie rote Haare hatte. Die Sorge hatte ihr wohl Karl-Heinz längst genommen, wenn er sie verliebt „Mein kleiner roter Teufel“ nannte.
Und Traudel war eine hübsche Braut. „Wie eine Prinzessin“, hörte ich jemand sagen, als wir in die Kirche gingen. Ihr kurzer Schleier - wie es gerade modern war - wurde von einem Krönchen aus Myrtenzweigen auf ihrem roten Haar gehalten. In langen Locken fiel es ihr über die Schultern. Dabei leuchteten ihre meergrünen Augen wie unergründliche Bergseen - so drückte es Karl-Heinz in seiner Verliebtheit aus.
Er hielt sie fest, als befürchtete er, sie könne jeden Moment verschwinden wie ein schöner Traum. Beim Laufen zum Altar in der Kirche hatte er Mühe, nicht auf ihren langen, weit schwingenden Rock zu treten, unter dem Traudel - wie jetzt üblich - einen steifen Petticoat trug. Das ließ ihre Taille besonders schlank erscheinen.
Sie waren ein schönes Brautpaar, und es war ein schönes Fest.
Zum Tanz spielte kein Akkordeonspieler mehr auf wie bei uns, sondern hier stand eine Musikbox mit den neuesten Platten und Schlagern.
Es wurde aber noch Walzer getanzt neben all den modernen aufkommenden Tänzen. Da sah ich dann auch Mama und Papa sich beschwingt im Kreise drehen. Dabei bemerkte ich, Mama sah Papa an, als hätte sie sich gerade eben erst in ihn verliebt.
Ich lächelte, schmiegte mich tiefer in Konrads Arm und drehte mich mit ihm. Auch uns überkam ein Gefühl inniger Verbundenheit.
Onkel Oskar, der Onkel aus Hannover von Karl-Heinz, hatte eine besondere Überraschung für das Brautpaar. Plötzlich hupte es laut und vernehmlich vor der Kneipe. Onkel Oskar hatte sein Geschenk geholt. Geschmückt mit einer großen Schleife auf der Motorhaube, stand da ein kleines Auto.
Traudel rannte aufgeregt hinaus und zog Karl-Heinz mit sich. Neugierig folgten die Gäste, neugierig kamen Kinder auf der Straße dazu und blieben Passanten stehen.
„Soll der für uns sein?“, fragte Traudel ungläubig und drückte ihre Hände an die Brust.
„Was dachtest du?“, fragte Onkel Oskar selbstgefällig. „Ein Kfz-Meister in meinem Betrieb, der kein Auto besitzt, wo gibt es denn so was?“ Und er blickte verschmitzt über den Rand seiner silbern eingefassten Brille. Dabei lachte er zufrieden, dass sein kleiner Schmerbauch vergnügt dazu auf und ab hüpfte. Er hatte sich extra einen neuen dunklen Anzug zu der Feier gekauft und eine schwarze Fliege umgebunden. Seine dünnen, mit weißen Fäden durchzogenen dunklen Haare hatte er besonders sorgsam von dem tiefen Scheitel aus gleichmäßig über den Kopf verteilt.
Ich sah wohl Konrads sehnsüchtigen Blick nach dem Auto. Auch Onkel Oskar sah es. „Lassen Sie man, junger Mann“, wollte er ihn trösten, „das dauert nicht mehr lange, dann haben auch Sie ein Auto. Nicht umsonst bauen sie jetzt hier in der Stadt das erste Stück einer Stadtautobahn. Die Zukunft gehört dem Auto. Da führt nichts dran vorbei. Bald geht keiner mehr zu Fuß.“
Ich sah ihn zweifelnd an.
„Bestimmt! Glauben Sie mir, kleine Frau! Ich kann das in meiner Autowerkstatt spüren“, bekräftigte er seine Worte.
Helmut Bruns, Konrads Freund aus Kriegstagen, den wir seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatten, besaß bereits ein eigenes Auto. Wie oft war er mit uns durch die Stadt gefahren, damals, als unsere Freundschaft mit ihm noch bestand, hatte es Konrad nichts ausgemacht. Doch jetzt, da immer häufiger dieser oder jener plötzlich ein Auto vor der Tür stehen hatte, spürte ich, wie gern auch er eins hätte. Zunächst aber war uns das nicht möglich, ohne einen Kredit aufzunehmen – und davor scheute er zurück.
Kaufen auf Kredit, das wurde jetzt üblich. Man hatte Arbeit, man verdiente sein Geld und konnte somit in die Zukunft planen. Die Wirtschaft in West-Berlin entwickelte sich zwar nicht so schnell und so gut wie in der Bundesrepublik - bedingt durch die Insellage der zweigeteilten Stadt innerhalb der DDR -, aber es ging spürbar aufwärts.
Darüber redeten die Alten auch auf Traudels Hochzeit. Vielleicht taten sie sich sogar wichtig mit dem, was sie bereits erreicht hatten. Die Jungen aber tanzten lieber in die Nacht hinein. Eigentlich waren Konrad und ich schon fast ein altes Ehepaar, doch an diesem Tag fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt. Ich sah ihn mit den verliebten Augen der ersten Tage, sein schmales Gesicht unter dunklen Haaren, und schmiegte mich beim Tanzen enger an seine schlanke aufrechte Gestalt. Wie gut ihm der dunkle Anzug stand. Ein paar Falten um seine Augen, die ihren warmen Glanz nicht verloren hatten, verrieten, dass er keine zwanzig mehr war. Jetzt mit zweiunddreißig Jahren war er etwas breiter geworden. Aber auch mich ärgerten bereits gewisse kleine, fast unmerkliche Pölsterchen um die Taille. Ein Zeichen der Zeit, dass es allen wieder besser ging. Längst gab es Dicke, man kämpfte mit seinem Gewicht, mit Torte und Sahne. So mancher Hochzeitsgast sagte bei einem Gläschen auch ein „Prost“ zu viel. Damit war man nicht zimperlich, man war fröhlich. Es war viel zu schön, dass es sich nach dem Krieg wieder zu leben lohnte.
Alle verabschiedeten sich gegen Morgen in guter Laune, wenn auch müde. „Wann sehen wir uns wieder?“, wurde gefragt.
„Bei der nächsten Hochzeit“, sagte jemand.
Doch einen hörte ich murmeln: „Vielleicht auch bei der nächsten Beerdigung.“
Ärgerlich wollte ich etwas erwidern. Doch Konrad zog mich zur Seite. „So ist das nun einmal mit Familienfeiern“, sagte er.
Und es stimmte ja. Entfernte Verwandte, wann sah man sie? Zu Hochzeiten oder zu Beerdigungen.
Karl Heinz verabschiedete sich hier schon von seinen Eltern, während das junge Paar mit zu Mama und Papa gingen.
Obgleich Karl-Heinz nach der Feier nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen war, ließ er es sich nicht nehmen, sein neues, kleines Auto die paar Meter in der Straße bis vor das Haus von Mama und Papa zu fahren. Traudel hatte sich fröhlich beschwipst dazu neben ihn geklemmt. Myrtenkrönchen und Schleier waren längst verschwunden, doch den weiten Rock in dem engen Auto unterzubringen, hatte sie Mühe. Ich stopfte ihr noch die letzen Zipfel von Rock und Petticoat mit hinein. Die Hochzeitsgesellschaft umstand johlend das Auto. Da waren wohl alle Leute in der Umgebung wach geworden. Alle winkten zum Abschied, als gingen Traudel und Karl-Heinz auf Hochzeitsreise. Alle lachten und winkten immer noch, als sie nur ein paar Meter weiter wieder hielten, ausstiegen und mit Mama und Papa im Haus verschwanden.
Die Hochzeitsgäste zerstreuten sich. Die einen gingen zur U-Bahn, die andern zur S-Bahn und einige zur Straßenbahn wie wir.
Als die Bahn mit uns so gemütlich, manchmal quietschend, nach Hause zuckelte, dachte ich an Traudel und Karl-Heinz. Doch ich erinnerte mich auch an unsere enttäuschende Hochzeitsnacht von damals, bei der Konrad vor Trunkenheit einfach eingeschlafen war. Im Nachhinein musste ich darüber lachen.
„Na, ob Traudel und Karl-Heinz eine bessere Hochzeitsnacht haben werden als wir?“, neckte ich Konrad.
Er grinste. „Bei denen ist es bestimmt nicht das erste Mal wie bei uns. Und außerdem konnte er tatsächlich noch ein Auto bewegen, dann ist er wohl nicht so betrunken, wie ich es damals war.“
„Mein Gott, ist das schon lange her!“, stellte ich fest, gähnte und sah müde aus dem Fenster der Straßenbahn auf die noch stillen Straßen und verschlafenen Häuser dieses Morgens.
*
Am nächsten Tag verabschiedete sich Traudel ohne Wehmut von Mama und Papa und von ihrem bisherigen Leben. Sie stieg zu Karl-Heinz in ihr vollgepacktes Auto. Da war alles drin, was ihnen mitnehmenswert erschien, Erinnerungsstücke neben praktischen Dingen und Geschenken. Sie hatten nicht mehr in der Hauptsache Glaswaren und mehrere Likörservice zur Hochzeit bekommen, wie wir damals. Bei ihnen hatte sich jeder vorher informiert und gezielt gekauft, was sie brauchen konnten. Eingeklemmt zwischen Beuteln, Kisten, Taschen und Koffern saß Traudel neben Karl-Heinz und strahlte glücklich.
„Da werden bei euch die Vopos an der Grenze zur DDR ganz schön was zu kontrollieren haben“, vermutete Konrad.
„Ich fürchte auch, dass wir den Wagen auspacken müssen“, befürchtete Karl-Heinz. „Dabei haben wir bereits vieles zu Paketen verpackt, die Mama uns mit der Post zuschicken will.“
„Ach was“, meinte Traudel optimistisch, „dann dauert die Kontrolle an der Grenze eben länger als sonst. Wir werden es überstehen. Haben ja nichts Verbotenes dabei.“ Und sie fuhr zuversichtlich ab, nach Hannover in ein neues Leben. Ich wusste, sie war froh, Berlin verlassen zu können, da sie meinte, es werde nie aufhören, Spannungen um diese Stadt zwischen Ost und West zu geben.
*
Mama und Papa blieben nun allein zurück. Es war ruhig bei ihnen geworden, alle Kinder aus dem Haus. Abends, nach meiner Arbeitszeit in einem Verlag, fuhr ich jetzt manchmal für kurze Zeit zu ihnen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie weiterleben sollten, nur sie beide, kein Lachen, kein Rufen mehr von einem ihrer Kinder, für die sie doch immer da gewesen waren.
Mama freute sich, wenn ich, das einzige Kind, das noch in Berlin lebte, zu ihnen kam. Kaum hatten wir die ersten Worte gewechselt, lief sie schon und holte von Traudel oder Bruno einen Brief, den sie mir vorlas. Und Traudel schrieb zuerst fleißig. Sie berichtete von ihrer kleinen Wohnung, die Onkel Oskar ihnen in seinem Haus eingerichtet hatte. Es war außerhalb Hannovers, da, wo die Stadt begann, wo eine schon lebhaft befahrene Landstraße aus der Stadt hinausführte und sich weiter im Land verlor. Das Haus stand in einem großen verwilderten Garten. Daneben gab es einen geräumigen Hof, auf dem stets irgendwelche Autos standen, nicht nur zur Reparatur, sondern auch einige zum Verkauf. Dahinter befand sich die Werkstatt und dann dehnten sich nur noch weite Wiesen neben der Landstraße bis hin zu einem kleinen Fluss und weiter bis zu einem Waldesrand.
Den Garten würde Traudel am liebsten gleich in Ordnung bringen, berichtete sie. Sie schwärmte aber auch davon, dass man sie in dem Büro der Werkstatt zu beschäftigen wusste. Dabei betonte sie, wie sehr sie sich Mühe gab, alles zu verstehen, was dort geschah.
„Warum hat ein Tag nur so wenige Stunden?“, schrieb sie. „Ich würde am liebsten alles auf einmal tun. Und da ist ja auch noch der Haushalt. Jetzt weiß ich erst, wie viel Arbeit du immer hattest, liebe Mama. Noch ist mein Haushalt klein und doch ist es nicht so einfach, alles Nötige zu tun, weil ich so gern im Betrieb mitarbeite. Onkel Oskar begrüßt das sehr. Er lobt mich, ich hätte gute Ideen. Seine alte Bürohilfe, die Frau Jäger, meint auch, auf mich höre er bestimmt, ich sollte versuchen, ihm abzugewöhnen, alles auf irgendwelche Zettel zu notieren, die sie dann zusammensuchen muss. Sie sagt, an mir hätte er einen Narren gefressen. Ich mag Onkel Oskar besonders gern. Karl-Heinz ist sehr fleißig. Sooft ich will, kann ich ihn durch das Fenster vom Büro aus zur Werkstatt hin sehen, wie er in seinem grauen Kittel an den Autos arbeitet, manchmal unter ihnen liegt, manchmal halb in ihnen steckt.“
Mamas Augen glänzten, ihre Jüngste war glücklich. Dann lachte sie leise. „Kommt uns doch bald einmal besuchen, so schreibt sie noch. So ganz ohne Sehnsucht geht es eben doch nicht, wenn man aus der Heimat weggeht.“
Auf Briefe von Bruno musste sie länger warten. Und sie wartete sehnsüchtig darauf. Australien war weit. Sie berichtete mir von ihm, dass er als Elektromeister in einer kleinen Firma arbeitete, und dass sich für ihn zu dem Besitzer, einem Handwerker, eine freundschaftliche Verbindung entwickelt habe.
„So hat der Junge wenigstens Familienanschluss“, stellte Mama erleichtert fest. „Bruno ist offensichtlich sehr fleißig“, betonte sie noch.
Sie musste es mir nicht sagen, ich spürte, wie sehr sie ein Wort von Heimweh oder Sehnsucht in seinen Briefen vermisste. Irgendwann bemerkte ich, dass in dem Kleiderschrank in meinem alten Jungmädchenzimmer die Sachen von Bruno hingen, die er hiergelassen hatte, als er vor drei Jahren nach Australien ausgewandert war. Das Zimmer war immer ordentlich aufgeräumt, als könne jeden Moment einer einziehen. Ich glaube, Mama hoffte insgeheim, er könnte eines Tages zurückkommen.
Wenn Papa abends von der Arbeit nach Hause kam, ihn keine Probleme um die Kinder empfingen, wenn er wirklich ungestört seine Zeitung genießen konnte, während Mama in der Küche das Essen zubereitete, dann seufzte er: „Diese Ruhe, weißt du, daran muss ich mich erst gewöhnen. Ein Tag geht wie der andere vorbei. Soll ich dir etwas verraten? Ich fange an, meine Rentenzeit herbeizusehnen.“
„Papa, du bist gerade sechzig geworden. Bis dahin hast du noch ein paar Jahre Zeit“, erinnerte ich ihn.
*
Traudel war noch nicht lange fort, da tobte ein böses Unwetter über Berlin. Es wurde fast so dunkel wie in der Nacht. Sturm jagte durch die Stadt, es goss in Strömen, die Straßen waren bald überschwemmt und der Verkehr brach zusammen. Grell blitzte es, es donnerte unaufhörlich und es krachte, wenn ein Blitz einschlug. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und der Sturm pfiff durch alle Ritzen. In kurzer Zeit verwandelte sich auch die Straße vor unserem Haus in einen reißenden Bach. Ich hatte es von der Arbeit gerade noch nach Hause geschafft. Ich fürchtete mich wie lange nicht mehr bei einem Gewitter und sehnte Konrad herbei. Ich machte mir Sorgen, wie sollte er bei diesem Wetter nach Hause kommen. Unruhig lief ich ständig ans Fenster.
Es war bereits spät am Abend, das Unwetter hatte nachgelassen, als ich glaubte zu träumen. Zischend, Fontänen zur Seite spritzend, bahnte sich ein mir wohlbekanntes kleines Auto seinen Weg durch Wasser und Schlamm bis vor unsere Haustür. Nein, ich irrte mich nicht, nach Konrad stieg Helmut Bruns aus, sein Freund aus Kriegstagen. Sie sprangen beide mit großen Schritten auf unser Haus zu.
Einen Moment lang verharrte ich wie gelähmt. Zwei Jahre war es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Davor hatte Helmut nicht nur Konrad, sondern auch mir als Freund sehr nah gestanden. Als ich irgendwann bemerkte, dass er in mich verliebt war, hätte ich mich, von Konrad enttäuscht, beinahe mit meinen Gefühlen zu ihm hin verirrt. Nachdem ich das jedoch erkannt hatte und wir unsere fast gescheiterte Ehe noch retten konnten, gingen wir uns aus dem Weg.
Und jetzt kam Konrad mit ihm die Treppe hoch, als wäre es nie anders gewesen. Ich hatte nicht mehr viel Zeit zum Überlegen. Ich hörte wie Konrad die Tür aufschloss, hörte sein unbekümmertes Lachen und ging ihnen entgegen.
Nun also standen wir uns wieder gegenüber, Helmut und ich, nach zwei Jahren. Befangen lächelte ich ihn an. Auch er reichte mir mit einem zwar neugierigen, doch scheuen Lächeln die Hand. Abschätzend musterte er mich, während er sich mit einer hilflosen Bewegung durch seine widerborstigen Haare strich.
„Wie geht es dir?“, fragte er verhalten.
„Danke, gut.“
Konrad tat so, als bemerke er unsere Befangenheit nicht. „Zieh die nasse Jacke aus, Helmut! Und Lass uns erst mal einen Schnaps zum Aufwärmen trinken.“, sagte er und ging voran ins Wohnzimmer.
Ich nahm Helmut die Jacke ab. Dabei traf mich noch einmal ein fragender Blick aus seinen mir so vertrauten blauen Augen. Dann aber rieb er sich die Hände, wandte sich ab und folgte Konrad, als hätte er es gestern erst getan.
Ich hängte seine Jacke auf einen Bügel und sah ihm nach. Ich schaute auf seine breiten Schultern und dachte daran, wie gut es mir einmal getan hatte, mich an ihn lehnen zu können. Zugleich spürte ich aber auch, dass für mich von ihm nun keine Anziehungskraft mehr ausging.
Schon im Laufe des Abends legte sich die Verlegenheit zwischen uns. Konrad beobachtete uns nicht mehr misstrauisch wie früher. Vorsichtig fanden wir zu unserem alten freundschaftlichen Ton zurück, so, wie es war, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Und doch bemerkte ich bald, dass eine besondere Vertrautheit zwischen uns bestehen geblieben war. Das aber tat niemandem mehr weh.
„Den Helmut schickte mir der Himmel“, erzählte Konrad. „Ich stand zusammen mit anderen Fahrgästen im U-Bahnausgang und wusste nicht, wie ich weiterkommen sollte. Alles war überschwemmt. Keine Straßenbahn fuhr mehr. Da kam plötzlich Helmut mit seinem Auto zischend durch das Wasser angefahren und hielt neben mir. Er rief mir nur zu, ich solle schnell einsteigen. Dazu brauchte er mich nicht lange aufzufordern.“
„Hast du gesehen, wie die andern dich beneidet haben?“, ergänzte Helmut.
„Doch weit sind auch wir nicht mehr gekommen“, berichtete Konrad. „Die Wassermassen, die da vom Himmel kamen, wurden so bedrohlich und die Straße zu einem reißenden Fluss, dass wir es doch vorzogen, an einer Kneipe zu halten, wo wir die Eingangstür noch erreichen konnten, ohne dass uns Wasser in die Schuhe lief. Hier warteten wir ab, bis der herabstürzende Regen nachließ.“
Der Zufall also, dieses verheerende Wetter, hatte sie wieder zusammengeführt. Doch wie schafften sie es, sich jetzt so ungezwungen zu begegnen, als hätte es die verwirrende Zeit zwischen uns nie gegeben? Es musste ihnen wohl gelungen sein, sich dort in der Kneipe auszusprechen.
Ich war erleichtert, als ich spürte, dass nun eine echte Freundschaft ohne jedes Begehren zwischen Helmut und mir möglich wurde. Ich war auch glücklich darüber, dass an unserm Ehezwist, in den Helmut damals hineingezogen wurde, die Freundschaft der beiden nicht zerbrochen war.
*
Zwei Jahre war das her, als die Ehe von Konrad und mir fast an unserem Stolz, an dem Kampf, unsere Erwartungen gegenseitig durchzusetzen, gescheitert war. Da hatte sich Helmut große Hoffnungen darauf gemacht, dass ich für ihn frei werden könnte. An jenem Tag aber, als ich unglücklich zu Mama geflüchtet war und bei ihr saß, weil Konrad mich betrogen hatte, als ich begriff, wie viel mir Konrad trotz allem bedeutete, da musste Helmut erkennen, dass seine Hoffnung vergeblich war. Enttäuscht und traurig hatte er mich verlassen. Von da an war jeder Kontakt zwischen uns abgebrochen. Ich ging zu Konrad zurück. Danach suchten wir Helmut nicht und er uns auch nicht.
Konrad und ich hatten genug damit zu tun, wieder zueinander zu finden. All die Verletzungen, die wir uns zugefügt hatten, mussten wir überwinden und neues Vertrauen zwischen uns aufbauen.
Ich war bald wieder berufstätig, hatte eine Anstellung in einem Verlag gefunden. Die Arbeit gefiel mir, sie war nicht so eintönig wie in der Versicherung, in der ich früher gearbeitet hatte. Nur machte es mir Schwierigkeiten, wieder Haushalt und Beruf in Einklang zu bringen, nachdem ich schon längere Zeit arbeitslos gewesen war.
Konrad vertrat noch sehr die Meinung alter Generationen. Er kam nach Hause und tat das Wenige, was eben Männersache war, wie er meinte. Wobei er nicht einmal mehr wie früher Kohlen aus dem Keller hoch zu tragen brauchte, denn wir wohnten in einer zentralbeheizten Neubauwohnung am Rande der Stadt, dort, wo hinter Gärten und Einfamilienhäusern die Felder begannen. Von mir erwartete er, dass sonst alles unauffällig und reibungslos funktionierte. Ich tat mein Bestes. Und doch bockte ich manchmal gegen die einseitige übermäßige Arbeitsbelastung im Haushalt auf, die sich voll auf die Zeit nach einem Arbeitstag im Verlag konzentrierte. Aber ich tat es leise, denn ich war bemüht, keine Spannung in unsere neu wachsende Beziehung zu bringen. Das ging so, bis es Konrad auffiel, wie müde ich oft war. Da setzten wir uns zusammen und sprachen darüber.
Konrad verstand mich, nur bat er mich, nicht zu erwarten, dass er am Ende ein Verfechter der aufkommenden Emanzipation der Frauen werde. Er könne seine Einstellung zu alldem nicht so leicht ändern.
Und doch änderte er sich. Er griff zu, wenn er abends sah, dass ich mich plagte. Er scheute sich nicht, einkaufen zu gehen, wenn mir die Zeit dazu fehlte.
„Zuerst kam ich mir in den Geschäften zwischen den Frauen ziemlich komisch vor“, gestand er mir ein, „und die musterten mich auch so seltsam. Dabei wollen die Frauen heute doch, dass die Männer ihnen bei ihrem Kram helfen sollen, denke ich.“
Ich wollte das nicht weiter vertiefen, aber eigentlich hätte ich ihn gern gefragt, warum das von ihm gekaufte Brot - zum Beispiel -, das er doch auch aß, mein Kram sein sollte? Ich lachte nur und sagte: „Das kommt sicher daher, dass du mit deiner Aktentasche einkaufen gehst und da Butter und Wurst hineinpackst.“
„Na, wenn ich schon einkaufe, dann will ich nicht auch noch mit einem Einkaufsnetz die Straße entlanggehen“, meinte er. „Wie sieht denn das aus?!“
Über Helmut sprachen wir anfangs nicht mehr. Später, wenn es zufällig doch geschah, spürte ich Konrads Misstrauen, ob da nicht vielleicht mehr zwischen Helmut und mir gewesen war, als er wusste.
Doch mit der Zeit fiel es uns immer leichter darüber zu reden, wie das gewesen war mit Helmut und uns. Ja, es wurde mir zum Bedürfnis, damit auch mir zu erklären, wie wir uns so hatten entfremden können, dass Konrad mich schließlich betrog und ich mich zu Helmut hingezogen fühlte.
Erst allmählich hatte ich gespürt, wie Konrad begriff, dass ich selbst in jener Zeit eigentlich nur ihn geliebt hatte und es nur durch die Enttäuschungen über unser Zusammenleben möglich geworden war, dass Helmut eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausüben konnte.
Irgendwann hatten wir dann ohne jede Scheu wieder über alles reden können. Dabei war mir auch klar geworden, wie sehr Konrad es bedauert hatte, dass seine langjährige Freundschaft mit ihm zu Ende sein sollte.
*
Und nun war Helmut wieder da. Ein Unwetter über Berlin hatte ihn zurückgebracht.
Am nächsten Tag waren die Straßen voller Schlamm. Ziegel von den Dächern lagen auf den Gehwegen. Ich bahnte mir den Weg zu meiner Arbeitsstelle. Alle Feuerwehreinheiten waren im Einsatz. Sie pumpten die Keller leer, beseitigten umgestürzte Bäume und räumten schwere Äste von den Fahrbahnen. So ein schweres Unwetter hatte die Stadt noch nicht erlebt, meinte ich.
Gleich früh am Morgen klingelte bei mir im Büro das Telefon. Traudel war es. Sie machte sich Sorgen, hatte von dem Unwetter erfahren und wollte wissen, ob bei uns und Mama alles in Ordnung sei.
„Na, Gott sei Dank!“ Sie war sichtlich erleichtert. „Ihr könntet euch bald mal ein Telefon zulegen“, fügte sie noch hinzu. „Es ist schlimm, dass ich dich nicht zu jeder Zeit anrufen kann. Am liebsten wäre mir, Papa und Mama hätten auch eins.“
„Dann sparst du das Briefschreiben“, neckte ich sie.
„Als ob es darauf ankommt.“
„Ich glaube nicht, dass Mama für ein Telefon zu begeistern ist“, vermutete ich.
„Warte nur ab, bis auch Bruno einmal anrufen kann, dann wirst du dich wundern, wie schnell sie ein Telefon hat“, behauptete Traudel.
Und so geschah es.
*
Die Tage waren kürzer geworden, die Schatten am Abend länger, wenn wir uns sonntagabends wieder auf den Heimweg aus unserem Schrebergarten machten. Noch kamen Papa und Mama nachmittags zu uns und wir konnten zusammen unter dem Kirschbaum Kaffee trinken. Mama hatte immer den neuesten Brief von Bruno oder Traudel dabei. Auch Helmut stellte sich mitunter bei uns ein.
Zuerst hatte Mama ihn reserviert begrüßt. Doch ihre Sorge war umsonst, mich verband nur Freundschaft mit ihm. Mama wollte natürlich wissen, was er jetzt mache, doch eigentlich interessierte sie viel mehr, ob er eine Freundin hatte.
Er lachte. „Natürlich habe ich eine Freundin“, versicherte er.
„Und warum bringen Sie ihre Freundin nicht einmal mit?“, fragte sie lauernd.
„Mama!“, mahnte ich.
Aber sie ließ sich nicht beirren. „Man wird doch mal fragen dürfen.“, beharrte sie.
„Natürlich!“, bestätigte Helmut und fügte hinzu: „Und sollte es mal eine feste Beziehung sein, so werde ich sie auch mitbringen.“ Dennoch spürte ich, es war ihm nicht recht, danach gefragt zu werden, und sein Lächeln gezwungen verbindlich.
„Aha“, sagte Mama kurz und sah prüfend zu mir.
Ich angelte aus meiner Kaffeetasse eines der Blätter, die jetzt, vom sanften Wind gelöst, vom Kirschbaum auf unseren Kaffeetisch fielen. So hätte Mama ihn nicht aushorchen müssen, fand ich.
Doch es dauerte nicht lange, bis auch Mama mit ihm wieder so vertraut wie früher umging, als sie über seine Späße herzhaft lachen konnte.
So häufig wie früher kam Helmut allerdings nicht mehr zu uns. Es gab eben diese Freundin, mit der er ausging. Bald jedoch erfuhren wir, diese Beziehung war schnell zu Ende gegangen. Danach hatte er eine andere. Doch auch das war nicht von Dauer.
„Du mit deinen wechselnden Bekanntschaften“, zog Konrad ihn auf.
„Ich genieße meine Freiheit“, behauptete Helmut.
Ich aber fragte mich im Stillen: War er noch nicht fähig zu einer neuen Liebe, weil er mich einmal geliebt hat?
*
Seit Traudel in Hannover weilte, war Mamas erster Weg, wenn sie sonntags mit Papa zu uns kam, zu den Eltern von Karl-Heinz gegenüber von unserem Garten. Die besaßen bereits ein Telefon in ihrer Stadtwohnung. „Ich muss mal hören, ob Erna etwas Neues von den Kindern weiß. Der letzte Brief von Traudel ist bereits zwei Wochen alt“, rief sie uns zu, ehe sie verschwand.
Und Erna, die Mutter von Karl-Heinz, wusste bestimmt wieder etwas von den „Kindern da in Hannover“, was Mama noch nicht bekannt war.
„Was die alles weiß! So ein Telefon wäre vielleicht doch ganz schön“, sagte sie einmal nachdenklich.
„Wieso?“ fragte Papa verwundert. „Traudel kann dir alles schreiben. Außerdem ist es viel zu teuer.“
„Hast ja recht“, stimmte sie ihm sofort zu.
*
Dann aber bekamen wir ein Telefon gelegt. Der Betrieb von Konrad war daran interessiert, dass er auch außerhalb der Arbeitszeit erreicht werden konnte. Sie boten ihm an, wenn er sich Telefon legen ließe, würden sie ihm einen Teil der Kosten erstatten.
Das fand mein sparsamer Konrad annehmbar. Und so bimmelte eines Tages bei uns zu Hause ein Telefon, wie jetzt bei immer mehr Leuten in der Stadt.
Jetzt fand man es wichtig, auch privat telefonisch erreichbar zu sein. Außerdem konnte man damit zeigen, wie gut es einem ging. Das Telefonbuch wurde von Jahr zu Jahr umfangreicher. Auch das war ein Zeichen dessen, was man begann als Wirtschaftswunder zu bezeichnen.
Ich rief sofort bei Traudel an.
Sie jubelte. „Dann kann ich jetzt sicher auch einmal mit Mama sprechen.“
Ich stutzte. Das klang, als würde sie Mama vermissen. „Hast du Kummer?“, fragte ich vorsichtig.
Da druckste sie herum. „Ich bin schwanger“, gestand sie schließlich fast schuldbewusst.
„Du bist was?“ Ich war fassungslos.
„Du hast richtig gehört.“
„Aber du bist doch erst seit ein paar Monaten verheiratet. Hast du vor Kurzem nicht noch gesagt, Kinder müssten nicht gleich kommen?“
„Na und? Ist eben passiert!“, antwortete sie leicht pikiert.
Das war ja eine Neuigkeit!
Mama war aus dem Häuschen. Sie kam sofort zu uns, als sie davon erfuhr, und rief Traudel an. Es wurde ein langes Gespräch. Ich sah schon unruhig auf die Uhr. Mama aber hatte so viele Ratschläge und Ermahnungen für sie, dass ich mir vorstellen konnte, wie ungeduldig Traudel dabei wurde. „Also, Liebes, arbeite jetzt nicht zu viel, denke daran, dass du nicht mehr nur Verantwortung für dich allein trägst“, waren noch Mamas letzte Worte.
Mich beschlich fast Eifersucht. Wie sagte sie doch damals mahnend, wenn Konrad mich zu sehr umsorgte, bevor ich das Kind verlor: „Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit!“
Doch nicht nur für die jetzt häufigen Anrufe und Gespräche mit Traudel war unser neues Telefon gut. Auch Bruno rief sofort zu Weihnachten an, als Mama und Papa bei uns waren. Sie hatte ihm unsere Telefonnummer brieflich mitgeteilt. Ich dachte zuerst, wir seien falsch verbunden, englische Sprache, die ich nicht verstand, dann Stille und endlich wie aus weiter Ferne Brunos Stimme. Ich holte Mama sofort ans Telefon. „Geht’s dir gut, mein Junge?“, fragte sie wieder und wieder, als hätte er es ihr nicht längst geschrieben. Dann lauschte sie und Tränen liefen über ihre Wangen. Papa musste ihr fast gewaltsam den Hörer aus der Hand nehmen, um auch ein Wort von Bruno zu hören. Seine Stimme zitterte verdächtig, als er fragte, ob es jetzt Sommer bei ihm in Australien sei. Dann lachte er und fuhr sich verstohlen über die Augen.
Als er danach den Hörer vorsichtig auflegte, sah Mama ihn gespannt an und sagte glücklich: „Das war Brunos Stimme!“ Sie sagte es so, als müsse sie es ihm erklären. „Heinrich, über das Telefon kann man wirklich mit ihm sprechen“, setzte sie noch hinzu.
Papa wusste, was das bedeutete. Und schon in den nächsten Tagen beantragten auch sie ein Telefon.
Mama und ihre Küken da draußen, außerhalb der Insel von West-Berlin!