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6. Kapitel - 1960

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Doch Mama blieb nicht nur über Weihnachten, sie blieb auch über Sylvester. Das neue Jahr begann. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis feststand, Mama wird für immer in Hannover bei Traudel und den Kindern bleiben. „Das kann man nicht mit ansehen, wie die armen Würmchen herumgeschoben werden“, sagte sie.

Der Onkel von Karl-Heinz hatte sich bereit erklärt, für sie im Dachgeschoss seines Wohnhauses, das an dem Hof zur Werkstatt mit dem großen Garten dahinter stand, eine kleine Mansardenwohnung auszubauen.

„Traudel ist für den Betrieb unbezahlbar. Was tut man da nicht alles für eine tüchtige Kraft“, sagte er dazu.

Und der Kfz-Betrieb schien immer besser zu gehen, was man so hörte.

Auch bei uns begann man zu staunen, wer sich alles in der Nachbarschaft ein Auto leisten konnte. Was Wunder! Hochkonjunktur herrschte in der Wirtschaft, Vollbeschäftigung war erreicht, Gastarbeiter aus der Türkei wurden nach Deutschland geholt. Wer nichts mehr erlernen wollte, fand irgendwo in der Industrie eine Beschäftigung. Die Löhne stiegen. Die Arbeitslosigkeit erreichte ihren tiefsten Stand seit Kriegsende. Die Bautätigkeit boomte, Häuser, ganze Häuserblöcke wuchsen schneller aus dem Boden, als man es mitbekommen konnte. Und doch war die Nachfrage nach Wohnraum noch immer größer als das Angebot. Zwar gab es inzwischen den freien Wohnungsmarkt, dort wurden aber Wohnungen zu so hohen Mieten angeboten, dass sie sich niemand so leicht leisten konnte. Gefragt waren in der Hauptsache preiswerte, an das Mietengesetz gebundene oder im sozialen Wohnungsbau erstellte Wohnungen.

Zwar stiegen die Einkommen allmählich Jahr für Jahr, doch auch die Kosten für den Lebensunterhalt und die gesetzlich festgesetzten Mieten. Man sprach von einer schleichenden Inflation.

*

Mama kam nur noch einmal nach Berlin, um ihre Wohnung aufzulösen. Als sie ihre Kündigung dafür abgab, sagte sie: „Nun schau dir an, was wir für die Wohnung gezahlt haben, als wir hier vor dem Krieg eingezogen sind, ganze vierundfünfzig Reichsmark. Und jetzt? Wie lange könnte ich wohl die Wohnung für mich allein noch halten, wenn die Miete weiterhin so steigt?“

„Die Reichsmark hatte damals aber auch einen anderen Wert, als heute die D-Mark“, gab ich ihr zu bedenken.

„Du vergisst, dass meine Witwenrente aus der Angestelltenversicherung nicht allzu hoch ist“, antwortete sie.

Ich half Mama beim Zusammenpacken ihrer Sachen, so viel wie es meine Zeit zuließ. Klein und energisch, so, wie ich sie immer gekannt habe, ordnete sie alles, bestimmte, wovon sie sich trennte und was sie mitnahm. Nur manchmal sah ich sie versonnen dasitzen mit irgendetwas aus der Vergangenheit in ihren Händen. Dann war auch ein schmerzlicher Ausdruck in ihrem Gesicht. Doch bald räumte und packte sie weiter.

Schließlich stand der Möbelwagen vor der Tür. Zurück blieben nur die Sachen, die sie wirklich nicht mitnehmen konnte. Ein Trödelladen, so, wie es diese jetzt an manchen Straßenecken gab, sollte den Rest aus der Wohnung abholen.

Traudel, die inzwischen einen Führerschein gemacht hatte, wollte sich einen Tag frei nehmen und mit einem Auto nach Berlin kommen, um Mama abzuholen.

„Du kannst die Kinder nicht allein lassen“, protestierte Mama sofort. „Ich bin doch immer mit dem Zug zu euch gekommen. Und wenn dir das nicht schnell genug ist, dann spendiere ich mir eben ein teures Flugticket. Der neue Flughafen Tegel ist gerade eröffnet worden, dann komme ich eben von da aus nach Hannover geflogen.“

Traudel lachte. „Du und fliegen!“, sagte sie nur, gab ihre Kinder zu einer Freundin und kam mit dem Auto nach Berlin, um Mama abzuholen.

„Na“, sagte sie, als sie das Gepäck sah, was Mama noch zurückbehalten hatte, „damit wolltest du fliegen? Mir scheint, ich wäre besser mit einem kleinen Lastwagen hergekommen.“

Dann war der Moment des Abschieds da. Mama sah mit Tränen in den Augen noch einmal hoch zu dem Haus, zu den Fenstern, hinter denen sich fast ihr ganzes Leben mit Papa abgespielt hatte. Danach richtete sie sich energisch auf. Ein neues Leben begann für sie, doch viele Gedanken ließ sie hier zurück.

Ehe sie endgültig abfuhr, versäumte sie nicht, mir noch Anweisungen zu geben, wie ich Papas Grab zu pflegen hätte, und dass ich dies ja nicht vergessen dürfe.

*

Für die Besucher aus dem Osten wurde West-Berlin zum „Schaufenster des Westens“, wie man es nannte. Sie kamen in Scharen, besonders zur Grünen Woche und zur Industrieausstellung. Aber auch die DDR strengte sich an, auch Ost-Berlin begann stellenweise sein Gesicht zu verändern. Da entstanden Hochhäuser in neuer Bauweise mit vorgefertigten Platten, besonders zum im Krieg zerstörten Alexanderplatz hin. Die DDR strebte danach, international neben West-Berlin beachtet zu werden.

Helmut, der durch seine Baufirma manchmal quasi über die Grenze schauen konnte, sagte: „Ihr glaubt nicht, wie das da drüben ist. Für Ost-Berlin ziehen sie aus dem Land alle möglichen Kräfte und Materialien zum Bau zusammen, nur um neben uns renommieren zu können. Dafür klagen die Leute auf dem Land, dass oft das Nötigste fehlt, um eine Straße oder ein Dach zu flicken.“

Hier vom Westen der Stadt berichtete er von einem Kummer ganz anderer Art, der ihm am Bau zu schaffen machte: „Die Arbeiter sind jetzt zu überheblich. Wenn die mehr Geld fordern, so gleich eine geschlossene Kolonne. Gehst du darauf nicht ein, so kündigen sie alle. Andere Betriebe nehmen sie mit Kusshand zu dem höheren Lohn. Hier und da wird schon über Abwerbung geredet.“

„Das kann doch auch nicht gesund sein“, überlegte Konrad.

„Was willst du machen? Die wissen, wie begehrt sie sind. Nur steigen auf diese Weise die Baupreise ins Uferlose.“

Das war eine Folge davon, dass statt Arbeitslosigkeit, nun ein Mangel an Arbeitskräften herrschte.

Helmut war der Einzige, der jetzt mal sonntags zu uns kam, seit Mama in Hannover war. Klein war die Runde unter unserem Kirschbaum in unserem Garten geworden.

Manchmal fehlte mir richtig etwas, jetzt, da ich von unserer Familie plötzlich allein in Berlin war. Wo war die Zeit hin, als es uns beinahe zu viel geworden war, wenn alle: Mama, Papa, Traudel, Bruno und Helmut fast jeden Sonntag zu uns kamen?

Nun war auch Helmut nicht mehr so häufig wie früher bei uns. Er, langsam Ende dreißig, hatte noch immer wechselnde Bekanntschaften, die er uns nicht vorstellte. Doch eines Tages erzählte er von einer Tochter seines Chefs. Dabei spürten wir die Veränderung, die mit ihm vorging. Er lachte zwar noch, meinte, als kleine Göre hätte er sie nie beachtet, aber jetzt säße sie bei ihm in der Buchhaltung. Der alte Buchhalter war in Rente gegangen, und da sie Buchhaltung in einer anderen Firma erlernt hatte, übernahm sie diesen Posten. Er merkte gar nicht, wie er schwärmte, als er betonte, dass sie zu einer reizvollen dunkelhaarigen Erscheinung herangewachsen sei. Mit ihrer Ruhe und Sicherheit, die sie ausstrahlte, nahm sie ihn für sich ein. Helmut hatte eine neue Liebe gefunden, das wurde uns bald klar.

Verschmitzt erzählte er uns von ihrer ersten Begegnung. Das, was er zuerst von ihr zu sehen bekam, waren ihre schönen Beine gewesen, die verführerisch unter einem hochgerutschten Rock hervorschauten, weil sie sich nach etwas bückte, das ihr unter ihren Schreibtisch gefallen war. Mit hochrotem Kopf hatte sie sich wieder aufgerichtet, als sie Helmut bemerkte. Sie fing sich aber schnell und fragte ihn kühl, was er denn wolle. Jetzt war es an ihm gewesen, verlegen zu stottern, zu seiner eigenen Überraschung.

Von diesem Tag an konnte er nicht genug in der Buchhaltung zu tun haben. Bald bemerkte er, auch sie folgte ihm mit ihren Blicken, wenn sie am Fenster stand und er über den Bauhof ging. Zuerst lachte er sie einfach an, so dass sie sich ertappt wegdrehte. Bald aber drängte es ihn, ihr näher zu kommen. Und so fragte er sie, ob sie wohl mit ihm ins Kino gehen würde.

„Und stellt euch vor, sie hat ja gesagt“, erzählte er mit strahlenden Augen.

Hier erst fiel ihm auf, dass sie wesentlich jünger war als er, fünfzehn Jahre. Doch sie wirkte so wunderbar ausgeglichen, dass er den Altersunterschied nicht empfand, ließ er uns wissen. Auch, dass jetzt sein erster Blick dem Fenster der Buchhaltung galt, sobald er den Bauhof betrat, verriet er uns, und wie enttäuscht er war, wenn sie dort nicht stand und ihm zuwinkte. Er war verliebt, bis über beide Ohren. Das gestand er uns irgendwann ein.

Wie es wohl aussah, dieses Mädchen, von dem Helmut so schwärmte? Ich wurde neugierig darauf. Ob er sie so liebte, wie er mich damals geliebt hatte? Zu meiner eigenen Überraschung überkam mich dabei so etwas wie Eifersucht.

„Und was ist mit ihr? Erwidert sie deine Zuneigung?“, wollte Konrad wissen.

„Ich hoffe es“, antwortete Helmut unsicher.

„Was denn, du hast sie noch nicht gefragt?“, wunderte sich Konrad.

„Aber, Helmut, das spürt man doch. So, wie sie dich beachtet, kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen“, redete ich ihm zu. Sollte er zögern, weil er befürchtete, auch diese Liebe könne hoffnungslos sein wie bei mir damals? Hielt ihn das zurück?

Doch es gab noch einen anderen Grund. Sie war die Tochter des Firmeninhabers der Baufirma „Zumbold“ und zusammen mit ihrem Bruder würde sie einmal wohlhabende Erbin dieses Geschäftes sein. Er dagegen war nur ein Angestellter, der ihr nichts weiter bieten konnte als seine Liebe.

Doch diese Liebe sollte trotzdem nicht hoffnungslos bleiben. Es dauerte nicht lange, bis er wusste, dass sie ihm die gleichen Gefühle entgegenbrachte, die er für sie empfand. Sie, Margot Zumbold, 23 Jahre alt, scheute sich nicht, den ersten Schritt auf ihn zuzugehen. Sie wusste, was sie wollte.

„Wer hier wem den Heiratsantrag gemacht hat, weiß ich eigentlich nicht so genau“, berichtete uns Helmut lachend.

Dann kam der Tag, an dem er sie zu uns mitbringen wollte und ich sie kennenlernen sollte.

„Auf diesen Tag hat Mama gewartet“, erinnerte Konrad. „Und nun ist sie nicht einmal dabei.“

Ich hatte Mama längst mitgeteilt, dass Helmut auf Freiersfüßen ging. Ich hörte es sogar durchs Telefon, wie sie aufatmete. „Das wurde ja langsam Zeit!“, sagte sie. Hatte sie etwa immer noch befürchtet, dass er mir gefährlich werden könnte?

*

Es war ein schöner Spätsommertag, als Helmut mit Margot Zumbold zu uns in den Schrebergarten kam.

Mit besonderer Sorgfalt hatte ich den Kaffeetisch unter dem Kirschbaum gedeckt. Nach allem, was Helmut von ihr erzählte, bewegte sie sich in anspruchsvollen Kreisen, wo Geld keine große Rolle spielte. Würde ihr überhaupt gefallen, was wir ihr hier bieten konnten? Ein wenig kritisch musterte ich das Geschirr, das ich in der Laube hatte, es war wirklich nicht das Beste. „Vielleicht hätten wir sie das erste Mal lieber zu uns nach Hause einladen sollen“, überlegte ich.

„Es war Helmuts Wunsch, mit ihr hierher zu kommen“, antwortete Konrad. „Er meinte, hier würde sie am besten die Atmosphäre spüren, in der er sich wohl fühlt, und das müsse sie wissen.“

„Hier, unseren klitzekleinen Schrebergarten meint er? Das ist doch sicher für sie ein zu großer Unterschied zu dem, was sie gewöhnt ist.“ Ich wollte es nicht glauben.

„Helmut wird sich bestimmt dabei etwas gedacht haben. Schließlich will er sein Leben mit ihr teilen. Eine hochnäsige Person, die nur auf alles herabsieht, was ihm bisher etwas bedeutet hat, wäre sicher nicht die Richtige.“

„Meinst du wirklich, Helmut denkt so?“

„Warum nicht? Doch nach allem, was er bisher von ihr erzählt hat, glaube ich nicht, dass sie hochnäsig ist, trotz ihres reichen Vaters, trotz der Villa im Grunewald in einem Garten, der so groß wie ein Park sein soll.“

„Mut gehört wohl bei beiden dazu, miteinander eine Verbindung einzugehen, so unterschiedlich wie sie bisher gelebt haben. Sie verwöhnt und wohlhabend, er dagegen ein Angestellter ihres Vaters, der noch immer in bescheidenen Verhältnissen bei seinen Eltern wohnt.“

„Und der große Altersunterschied. Fünfzehn Jahre kann bereits viel sein“, meinte Konrad.

Voller Spannung warteten wir auf unsere erste Begegnung mit Margot Zumbold.

Jung und ungezwungen trat sie mit Helmut durch unser quietschendes Gartentor ein. Lächelnd kam sie auf mich zu, als hätten wir gestern erst miteinander gesprochen. Aus dunklen Augen sah sie mich warmherzig an, das gewellte schwarze Haar fiel ihr leicht ins Gesicht und sie umfasste meine Hand mit herzlichem Druck. „Ich kenne Sie beide fast besser, als Sie sich selbst“, sagte sie. „So viel hat mir Helmut von Ihnen bereits erzählt.“

„Ich hoffe, nur Gutes!“, lachte Konrad und ging auf sie zu.

Ich errötete und wusste nicht warum. Hilfe suchend blickte ich zu Helmut, wie früher, wenn ich mich von Konrad allein gelassen fühlte. Diesmal jedoch erkannte ich, wie hilflos Helmut selbst war. Hing für ihn so viel davon ab, wie Margot das alles hier aufnahm?

Nein, darum brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Das erkannte ich bald. Was Margot auch dachte, sie strahlte Verbindlichkeit und Selbstbewusstsein aus. Dabei war sie nicht überheblich, sondern wir spürten, sie fühlte sich einfach wohl bei uns. Sie verstand es, sich dezent zu kleiden. Ich mochte nicht daran denken, wie teuer das gewesen sein musste, was sie anhatte. Sie trug eine helle, noch keineswegs übliche lange Hose. Und doch wirkte sie darin, als trüge sie ein vornehmes Kostüm.

Verstohlen abschätzend betrachtete ich sie. Plötzlich dachte ich an unser Plumpsklo hinter der Laube. Der Gedanke, was sie dazu sagen würde, begann mich zu plagen. Verlegen wies ich ihr den Weg, als sie mich danach fragte. Doch auch das konnte sie nicht schrecken. Sie lachte nur vergnügt, als sie zurückkam. „Dass es so etwas noch gibt!“

Sie fand unsere kleine alte Laube idyllisch. Sie sagte, unter dem Kirschbaum sei ein besonders schöner Platz und sammelte, wie selbstverständlich, die herabfallenden Blätter von ihrem Teller.

Langsam fiel die Spannung von mir ab, auch spürbar bei Helmut. Immer ungezwungener gingen wir miteinander um. Es war, als wollte Margot keine Fremdheit aufkommen lassen. Befreit, versuchten wir uns regelrecht mit Scherzen gegenseitig zu überbieten.

Wie damals, als Helmut mich seine Liebe spüren ließ und sich Hoffnungen gemacht hatte, nannte er mich dabei für einen Moment vielleicht zu vertraut „Kati“. Plötzlich fing ich von Margot einen nachdenklichen Blick auf. Wie viel hatte er ihr von uns erzählt? Abschätzend schien sie mich zu mustern. Sofort glaubte ich, eine gewisse Zurückhaltung bei ihr zu spüren. Irritierte sie die besondere Vertraulichkeit, die zwischen Helmut und mir herrschte? Konrad machte es nichts mehr aus, er wusste es einzuschätzen, aber Margot mochte es überrascht haben. Vielleicht überkam auch sie so etwas wie Eifersucht?

Bald jedoch war auch das überwunden. Wir schienen beide zu begreifen, dass wir uns gegenseitig nichts wegnahmen. So wurde dieser Nachmittag in unserem Garten zum Beginn einer wundervollen Freundschaft zu viert.

Lachen schallte von uns aus wieder zu unseren Nachbarn hinüber, wie früher. Ich sah, wie sie neugierig ihre Hälse reckten. Was war es nur, was mich sofort für Margot einnahm, was mir nicht einmal bewusst machte, dass sie zehn Jahre jünger war als ich? War es ihre Herzlichkeit? War es ihre Sicherheit, die man bei jedem Wort, das sie sagte, spürte? Oder war es einfach die Warmherzigkeit, die sie ausstrahlte? Es wirkte, wie eine besondere Geste, wenn sie sich Helmut zuwandte, leicht ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn aus ihren dunklen Augen verliebt ansah. Auch seine Augen verrieten, wie sehr er sie liebte, wenn er ihre Schultern umfasste.

Hat er mich auch einmal so angesehen? Doch nur kurz fragte ich mich das, dann lächelte ich. Nach dem Gestern mit all seinen Verwirrungen sehnte ich mich nicht zurück. Verstohlen, ein wenig glücklich lehnte ich mich an Konrad.

*

Wieder verbrachten wir in diesem Jahr unseren Urlaub in den Bergen, diesmal aber im Land Tirol. Längst hatten wir Österreich als preiswertes Reiseland für uns entdeckt. Auf der Rückfahrt machten wir erneut einen Umweg über Hannover, um Mama und Traudel zu besuchen. Das gehörte jetzt fast zu jeder Reise, wenn wir unsere Insel West-Berlin verließen.

Ich war aufgeregt vor Freude, als wir unser Ziel erreicht hatten und von der Straße her auf den Werkstatthof fuhren. Überrascht stellten wir fest, dass hier wohl an Arbeit kein Mangel herrschte. Da stand auf dem großen Hof Auto neben Auto. Wir hatten Mühe, einen Platz für unseren VW-Hannibal zu finden. Lebhaft ging es hier vor der Werkstatt zu. Einige Kunden liefen durch Autoreihen, die zum Kauf angebotenen wurden, andere verhandelten mit einem Gesellen. Auch Karl-Heinz war an einem Auto beschäftigt. Traudel war nicht zu sehen. Etwas ratlos sahen wir uns um. Wurden wir erwartet?

Konrad hupte. Sofort drehte sich Karl-Heinz um, lachte und winkte uns zu.

Onkel Oskar steckte seinen Kopf aus dem Büro „Hallo! Schön dass ihr da seid!“, rief er und verschwand wieder.

Doch dann sah ich Mama. Sie kam mit fliegender Schürze aus dem Haus gelaufen. „Katrina, endlich! Kind, bin ich froh, dass ihr hergekommen seid!“, rief sie, reckte sich auf, umarmte mich und drückte mich fest an sich.

Es tat mir gut, wenigstens ein bisschen zu spüren, dass sie mich vermisste. Doch schon zupfte jemand an meinem Rock. Susi streckte mir ihre Ärmchen entgegen, sie forderte mit ihren vier Jahren noch energischer als sonst Aufmerksamkeit. Doch hinter ihr näherte sich noch jemand, ein bisschen unsicher auf den strammen Beinchen, vorsichtig auf Abstand zu mir bedacht, aber möglichst in der Nähe von Mama, wackelte Klaus heran. Zwei Jahre war er jetzt alt.

Ich staunte, wie sie wieder gewachsen waren. „Das geht viel zu schnell, Mama.“

„Das stimmt! Leider hat Traudel kaum etwas davon. Hoffentlich tut ihr das eines Tages nicht leid.“

„Wo ist sie überhaupt?“ Ich sah mich suchend um.

„Sie wird mit einem Kunden verhandeln. So langsam sitzt Onkel Oskar nur noch daneben. Ich verstehe das nicht! Sie ist vierundzwanzig Jahre alt, da kann sie doch noch nicht so wie er den richtigen Überblick haben.“ Mama ließ sofort ihren Unmut heraus.

Konrad war inzwischen zu Karl-Heinz gegangen. Autos, natürlich, Autos interessierten auch ihn.

Mama und ich nahmen die Kinder und gingen mit ihnen ins Haus. Sie zeigte mir als Erstes ihre kleine Wohnung oben unterm Dach, die fast fertig war. Bis dahin war sie bei Traudel und Karl-Heinz untergekommen, eine Etage tiefer. Die Treppe zu der Dachwohnung lief sie behände vor mir her, dabei hatte sie sogar noch Klaus auf dem Arm.

„Ich hatte befürchtet, die Treppe hier hochzukommen, könnte dir schwerfallen“, bemerkte ich und folgte ihr mit Susi an der Hand vorsichtig Stufe um Stufe.

„Das sagst du nicht im Ernst!“, erwiderte Mama. „Mit siebenundfünfzig sollte das noch kein Problem sein.“

Richtig stolz war sie, als sie die Tür öffnete und mir alles zeigen konnte. Zwei hübsche Zimmer waren es, sonnig und hell, eins davon mit einem Balkon an der von der Straße abgewandten Giebelseite. Dazu gab es noch eine Küche und ein kleines Duschbad. Vom Balkon aus hatte man einen herrlichen Blick weit über Wiesen bis zu einem Wald.

„Mama, hier ist es wirklich schön“, sagte ich und dachte an die elterliche Wohnung in Berlin in einer engen Straße. Ich hatte sie stets als hell und freundlich empfunden. Doch gegen diese hier, war sie alt, mit ihrer gusseisernen Badewanne und dem Öl-Paneel an den Wänden in Küche und Bad.

„Onkel Oskar spart an nichts“, versicherte mir Mama. „Was ich mir auch aussuche, wie teuer die Kacheln für Küche und Bad sind oder die Auslegware für die Böden der Zimmer, nie fragt er nach dem Preis.“

„Traudel wird ihm das wohl wert sein“, scherzte ich.

Sofort winkte Mama ab und ihr strahlendes Lächeln machte Sorgenfalten Platz. „Mir wäre lieber, die Kacheln hätten weniger gekostet und sie würden Traudel dafür nicht so mit Arbeit im Betrieb belasten.“

„Ob das aber im Sinne von Traudel wäre?“, bezweifelte ich.

Mama wollte darauf noch etwas antworten, doch von unten ertönte Traudels Stimme: „Wo seid ihr eigentlich?“

Dann knirschte die Treppe unter ihren schnellen Schritten. Überrascht sah ich ihr entgegen. Zur Tür herein kam eine mir wohl bisher unbekannte sehr selbstbewusste junge Frau. Die roten Haare hatte sie am Hinterkopf hochgesteckt und nur ein paar Löckchen über der Stirn milderten die Strenge der Frisur. In ein nicht zu modisches Kostüm gekleidet, machte sie bereits den Eindruck einer erfolgreichen Geschäftsfrau.

Mit den Worten: „Schwesterherz, lass dich umarmen!“, kam sie auf mich zu. Zugleich aber entdeckte sie Susi und Klaus in einer Ecke, die sich voller Behagen mit klebrigen Tapetenresten beschäftigten. „Mama, siehst du nicht, was die beiden da tun?“, fragte sie leicht gereizt und ließ mich los.

„Sie spielen“, antwortete Mama.

„Und sie machen sich dreckig!“, erwiderte Traudel kurz, noch darum bemüht, verbindlich zu klingen.

„Du musst sie ja nicht sauber machen!“, konterte Mama unbeeindruckt.

Mit zwei energischen Schritten war Traudel bei den Kindern, packte die Tapeten und wollte sie ihnen wegnehmen. Sofort begann ein Sirenengeheul. Sie wehrten sich, bockten und hielten die Tapetenresten fest. Sie gehorchten Traudel nicht.

Erst als Mama ihnen gut zuredete, gaben sie freiwillig ihre herrliche Beute her. Klaus auf Mamas Arm klammerte sich an ihren Hals und Susi versteckte sich hinter ihrem Rock. Noch mit Tränen in den Augen sahen sie vorwurfsvoll zu ihrer Mutter auf.

„Nun sieh dir das an!“, lachte Traudel etwas zu betont. „Mama untergräbt mir jede Autorität.“

Nicht nur bei diesem kleinen Zwischenfall, sondern auch später sollte ich den Eindruck bekommen, als wären Susanne und Klaus vielmehr zu Mamas Kindern geworden als zu Traudels.

Als wir alle um den Kaffeetisch saßen, war diese kleine Unstimmigkeit vergessen. Jetzt wollten sie als Erstes wissen, wie unsere Reise gewesen war – und sie hörten uns sogar geduldig zu. Voller Begeisterung erzählten wir und zeigten Bilder, die wir fotografiert hatten: Mal war ich mit Rucksack auf einem schmalen Bergpfad zu sehen, mal Konrad mit Rucksack auf einem steilen Weg, dann standen wir an einem Gipfelkreuz oder saßen im Restaurant vor einer Riesenportion Salzburger Nockerln. Als wir die Bilder wieder einpackten, fiel mir auf, wie still Traudel geworden war. Mit zusammengekniffenen Lippen saß sie da. „Ihr habt es gut, ihr könnt verreisen, wann ihr wollt“, bemerkte sie.

Warum sagte sie das?

Mama wechselte offensichtlich schnell das Thema und fragte nach den Ereignissen in Berlin.

Während Konrad begann, davon zu berichten, blickte ich zu Mama. Wie zufrieden sie sich in diesem Kreis umsah, der jetzt ihre Welt war. Auf ihrem Schoß hielt sie Klaus, der krümelnd einen Keks aß, und immer wieder ging ihr Blick zu Susi, die ausdauernd von einem zum andern lief und versuchte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sie schien sich hier, am Rand von Hannover, wirklich gut eingelebt zu haben. Dabei musste sich Traudel nicht mehr um ihre Kinder sorgen, sondern sie konnte sich völlig dem Betrieb widmen. Das tat sie offenbar auch mit Begeisterung. Für sie schien es kaum noch ein anderes Gesprächsthema zu geben als Autos und Geschäft. Karl-Heinz saß daneben, hörte ihr zu, pflichtete ihr bei und war sichtlich stolz auf sie. Onkel Oskar betonte Traudel zublinzelnd, dass es wohl nicht nur an dem zunehmenden Wohlstand der Menschen liege, wenn der Betrieb jetzt so gut ginge.

Trotzdem sollte ich bald Gelegenheit haben, zu bemerken, wie sehr Traudel bei der Kindererziehung ihre eigenen Vorstellungen hatte. Sie scheute sich nicht, Mama klarzumachen, wie sie die Kinder erzogen haben wollte. Kein Wunder also, dass Mama und Traudel darüber manchmal aneinandergerieten.

„Lass dir nicht einfallen, Susanne den Knicks und Klaus später den Diener vor anderen Leuten zur Begrüßung beizubringen“, forderte Traudel misstrauisch von Mama.

Die fühlte sich sofort zurechtgewiesen und verletzt. „Na, so altmodisch bin ich nun auch nicht!“, wehrte sie beleidigt ab. „Aber die Worte: Bitte und Danke kommen doch wohl noch in eurer neumodischen Erziehung vor, oder nicht?“

Prompt beklagte sich Mama darüber bei mir. Dabei erfuhr ich, dass sie mitunter so weit ging, Traudel anzudrohen, sie werde nach Berlin zurückgehen, dahin, wo ihr geliebter Mann ruhe. „Schließlich habe ich nur alles aufgegeben, um Traudel zu helfen“, stellte sie beleidigt fest. „Und wenn sie nicht fähig oder willens ist, ihre Aufgabe als Mutter voll zu erfüllen, dann soll sie mir auch gefälligst nicht dreinreden.“

Mir sträubten sich ein wenig die Haare. Als dann auch noch Traudel sich empört an mich wandte, dachte ich, das geht schief mit den beiden, die sich so sehr ähnelten in ihrem energischen Temperament. Als ich Mama aber darauf aufmerksam machen wollte, lehnte sie den Vergleich empört ab. „Schließlich bin ich nie auf die Idee gekommen, meine Kinder wegen einer so genannten Berufstätigkeit andern zu überlassen.“

In den wenigen Tagen, die wir bei ihnen verbrachten, bekam ich mit, wie gut der ruhige, ausgeglichene Karl-Heinz für die beiden war. Wie er sie stets zu versöhnen wusste. Er kannte seinen „kleinen roten Teufel“, wie er Traudel noch immer nannte. Und er schaffte es, dass sie Mama bald wieder bettelnd umschnurrte.

Dabei erkannte ich sogar, wie stolz Mama eigentlich auf ihre geschäftstüchtige Tochter war. Auch wenn sie sich zehnmal darüber mokierte, über die so genannte Emanzipation und erklärte: „Nun sag mir mal, worin die Frauen den Männern gleich geworden sind? Kinder kriegen Frauen wie eh und je. Haben die Männer etwa etwas von ihren Vorrechten aufgegeben, damit die Frauen etwas gewinnen konnten? Nein! Neben all ihren bisherigen Aufgaben im Leben haben die Frauen bloß noch zusätzliche berufliche Leistungen übernommen. Und das soll erstrebenswert sein?“

So dachte Mama, und davon ließ sie sich nicht abbringen. Es würde immer wieder Reibereien zwischen ihr und Traudel geben. Trotzdem fuhr ich nicht zu beunruhigt nach West-Berlin zurück. Wichtig war, Mama hatte eine neue Aufgabe gefunden.

„Mit Hilfe von Karl-Heinz werden die beiden es bestimmt schaffen, miteinander auszukommen. Es wäre ja das erste Mal, wenn Mutter und Tochter stets übereinstimmten. Oder warst du immer Mamas Meinung?“, fragte mich Konrad und schmunzelte richtig hinterhältig dabei.

Natürlich konnte ich mich gut daran erinnern, wie oft auch ich mich gegen Mama aufgelehnt hatte.

Kinder erzieht man nicht so nebenbei

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