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2. Konvergenzphilosophie

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Die Überzeugung, dass der Mensch einer Sache niemals vollständig und adäquat habhaft werden kann, gehört nicht nur zur Tradition der europäischen Philosophie. Sie durchzieht die philosophische Anthropologie aller Kulturvölker: Es fehlt nicht nur ein hinlänglicher Beweis für die Existenz einer Außenwelt, es gibt auch keine Methode, sich dieser Außenwelt verlässlich zu vergewissern. Auch gehört es zu unseren Alltagserfahrungen, dass Dinge, Gegenstände, Tatsachen für unterschiedliche Betrachter Unterschiedliches bedeuten. Was wir bei der Feststellung von Tatsachen erwarten können, ist nicht Objektivität, sondern bestenfalls Intersubjektivität.

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Auf diese Erfahrung antwortet eine lange Tradition europäischer Erkenntnistheorie mit der „Konvergenzhypothese“[1]. Sie geht davon aus, dass sich auch die empirisch wahrnehmbare Welt – um die es in der Beweisaufnahme ja geht – dem einzelnen Beobachter nur von der Seite her präsentiert, von der her er die Dinge anschaut. Folglich darf dieser Beobachter nicht hoffen, dass ihm die Anschauung der Dinge vollständig, dass sie ihm adäquat gelinge. Er ist vielmehr – will er sich der Gegenstände verlässlich vergewissern – auf die Beobachtung derselben Gegenstände durch andere zwingend angewiesen. Also wird von ihm Austausch, Kommunikation verlangt. Nicht schon von der Sicht eines einzelnen Beobachters, sondern erst von der Konvergenz der unterschiedlichen Zugänge zu einem Gegenstand darf Verlässlichkeit erwartet werden. Auch diese Verlässlichkeit ist freilich nur eine historische und relative: menschliche Erkenntnis ist immer verbesserungsbedürftig, sie kann sich ihres Gegenstands niemals vollständig, sondern nur asymptotisch vergewissern.

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Daraus folgt, dass „wahre“ Erkenntnis nicht erhofft werden kann von den Beobachtungen eines einzelnen Individuums – und seien sie auch noch so sorgfältig. Erkennen ist vielmehr ein Annäherungsprozess, an dem unterschiedliche Sichtweisen beteiligt sein müssen und der auf eine Konvergenz dieser Sichtweisen abzielt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beobachter sich untereinander konfliktfrei oder „friedfertig“ austauschen; auch im Streit kann sich Konvergenz herstellen, so lange die streitenden Beobachter sich auf die Sache beziehen. Auf diese Sicht menschlicher Erkenntnisfähigkeit kann sich zwanglos berufen, wer das Beweisantragsrecht im Strafprozess begründen will.

Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 3. Konsensustheorie der Wahrheit

Beweisantragsrecht

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