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3. Konsensustheorie der Wahrheit

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Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule hat den Grundgedanken der Konvergenzphilosophie differenziert und weiter ausgebaut.[2] Auch diese „Konsensustheorie der Wahrheit“ vermag die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts im Strafverfahren einsichtig zu machen.

Gemeinsamer Ausgangspunkt ist, dass es Wahrheit aus bloßer Anschauung nicht geben kann, wie dies noch die frühe „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ behauptet hatte. Dort war die Wahrheit der Erkenntnis durch die schlichte Übereinstimmung zwischen Sache und erkennendem Subjekt bestimmt worden („adaequatio rei et intellectus“); die Sichtweise der Korrespondenztheorie ist freilich zu simpel. Eine solche Übereinstimmung (und damit die Wahrheit) lässt sich nämlich nur feststellen, wenn die Sache, die „res“, außerhalb des Erkenntnisprozesses zur Verfügung steht – wie sonst sollte eine „adaequatio“, eine Übereinstimmung, erkannt werden können? Eine solche Voraussetzung ist nie erfüllbar. Es gibt kein Maß außerhalb unserer Erkenntnis, an welchem sich diese Erkenntnis als „wahr“ erweisen könnte.

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Wenn nicht in der Korrespondenz von Beobachtungsgegenstand und Beobachtung – wo sonst ist dann die Wahrheit von Erkenntnis begründet? Die Antwort der Frankfurter Schule, dass es nämlich um den Konsens der beteiligten Beobachter geht, ist eigentlich zwingend. Denn wenn es kein objektives Kriterium wahrer Erkenntnis gibt, so muss die Übereinstimmung der beteiligten Subjekte das Wahr-Zeichen sein. Oder anders gedacht: Wenn die Wahrheit nicht in den Inhalten, den Gegenständen liegt, so muss man sie im Verfahren suchen, welches sich mit diesen Gegenständen befasst.

Dass sich, nach Ansicht der Kritischen Theorie, die Wahrheit im „herrschaftsfreien Diskurs“ der Beteiligten herstellt, diskreditiert diese Theorie nicht etwa deshalb, weil es im Strafverfahren niemals „herrschaftsfrei“ zugehen könnte. Das ist zwar heute richtig und mag möglicherweise für immer richtig sein, ändert aber nichts daran, dass Wahrheit nur in einem diskursiven Vorgehen aller Beteiligten erwartet werden darf. Man kann die Verfahrensregeln der StPO, und speziell auch die des Beweisantragsrechts, durchaus verstehen als Regulierungen einer Auseinandersetzung, welche Fairness und Waffengleichheit herstellen sollen. Dass es nicht um einen „privaten“ oder freiwillig geführten Diskurs, sondern um Auseinandersetzung innerhalb einer Institution geht, ändert nichts daran, dass die Auseinandersetzung regelgeleitet sein muss. Nur wenn diese Regeln jedem Beteiligten eine faire Chance der Intervention geben, kann sich die Auseinandersetzung auf die Herstellung, anstatt auf die Unterdrückung, von Wahrheit zubewegen. Dass es am Ende nicht um „Konsens“ in einem alltäglichen Verständnis gehen kann, ist klar. Es geht vielmehr – im Strafverfahren – eher um eine regelgeleitete Verarbeitung von Dissens.

Einer der wichtigsten Bestandteile dieser Regeln ist das Beweisantragsrecht. Es ordnet die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zur Erkenntnis von Tatsachen, die als wahr, als bestätigt, als verlässlich gelten dürfen. Es geht davon aus, dass an der Auseinandersetzung um diesen Weg kontroverse Sichtweisen beteiligt sind, und es teilt jeder dieser Sichtweisen Durchsetzungschancen zu. Es reguliert – etwa in § 244 Abs. 3–5 StPO –, welche Wege zur Feststellung von Tatsachen nicht begangen werden dürfen, und es ordnet – etwa in § 244 Abs. 6 StPO – ein Verfahren für die Verarbeitung von Dissensen an.

Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 4. Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie

Beweisantragsrecht

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