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4. Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie

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Dass nicht die Inquisition eines einzelnen Beobachters, sondern die Auseinandersetzung mehrerer Beteiligter der richtige Weg zur Feststellung von Tatsachen ist, wird auch von modernen Erkenntnissen der Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung bestätigt. Diese Erkenntnisse belegen ebenfalls, wie wenig verlässlich die Wahrnehmung des Menschen ist.

Ausgangspunkt ist die einfache Erkenntnis, dass es nicht menschenmöglich ist, sämtliche Informationen aus der Außenwelt zu verarbeiten, die im jeweiligen Zeitpunkt der Beobachtung zur Verfügung stehen. Selbst innerhalb der kleinsten Zeiteinheit, in der wir die Außenwelt wahrnehmen, steht uns eine übergroße Zahl an möglichen Informationen zur Verfügung, die wir nur der Möglichkeit nach, nicht aber in Wirklichkeit verarbeiten können: im Gerichtssaal beispielsweise Einzelheiten der Kleidung oder der Mimik aller Anwesenden, Einzelheiten des Raumes, in dem verhandelt wird, des Lichts, der Farben, Geräusche und Gerüche, unwillkürlichhe Körperreaktionen usw.

Wir sind gewohnt, den übergroßen Teil dieser Informationen als „irrelevant“ gar nicht erst in die Wahrnehmung einzubeziehen. In der Sprache der modernen systemtheoretischen Handlungslehre[3] heißt das „Reduktion von Komplexität“. Damit ist gemeint, dass jedes System – und so auch das handelnde und wahrnehmende Individuum – die Informationen aus seiner Außenwelt reduzieren muss, weil sie sonst in ihrer übergroßen Komplexität nicht verarbeitet werden könnten. Dies bedeutet zwar nicht, dass unsere Wahrnehmung „falsch“ ist; jedenfalls aber ist sie unausweichlich selektiv. Wie aber lässt sich diese Selektion sichern?

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Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Wahrheitssuche besteht in der vernünftigen und verlässlichen Unterscheidung von relevanten und bedeutungslosen Informationen aus der Außenwelt. Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Selektion von Informationen aus der Außenwelt steht und fällt ihrerseits mit der Vernünftigkeit und Verlässlichkeit des Kriteriums, mit dessen Hilfe die Auswahl vorgenommen wird. Selektion ohne Kriterien gibt es nicht – und sei es das Kriterium des Zufalls, welcher die Auswahl steuert, welcher die eine Information als relevant auswählt und die andere als bedeutungslos verwirft. Werden die falschen Informationen ausgewählt und die richtigen verworfen, so sind Chaos und Desorientierung die notwendige Folge.

Natürlich überlassen wir im Alltagsleben die Wahrnehmungsselektion nicht dem Zufall. Und wir können auch unsere Selektionskriterien nicht jeweils von Fall zu Fall neu bilden, weil wir sonst die Kontinuität und die Intersubjektivität unserer Wahrnehmung nicht herstellen könnten. Die Orientierung jedes Einzelnen im Alltag und die Verständigung unter Menschen setzen vielmehr voraus, dass die Kriterien der Selektion auf Dauer gestellt sind und dass sie – jedenfalls zu einem guten Teil – allen gemeinsam sind, die miteinander umgehen. Sehr allgemein betrachtet, folgen wir bei der Auswahl für uns relevanter Informationen einer „Erwartung“. Wir beziehen das mit in unsere Wahrnehmung ein, was wir erwarten, wir achten auf „Sinn“ oder auf „Gestalt“ und reduzieren die Komplexität unserer Umwelt hinsichtlich der Informationen, welche in unsere Sinnerwartung nicht „passen“.

Dies bedeutet nicht, dass es keine Veränderung in den Auswahlkriterien für Informationen gäbe oder dass die Selektionskriterien für alle Individuen einheitlich verbindlich wären. Es bedeutet aber, dass Veränderungsprozesse der Sichtweisen langsam vonstatten gehen und dass die Kriterien der Auswahl zu derselben Zeit und in demselben Kulturkreis in einem hohen Maße allgemein verbindlich sind. Eine Chance für „Fortschritt“ und „Vielfalt“ von Erkenntnis liegt mithin in Kommunikation und Austausch. Übertragen auf das Strafverfahren, widerspricht diese Einsicht dem Prinzip der Inquisition und der Hoffnung, die pure gerichtliche Sachaufklärung sei der Königsweg zur Wahrheit; sie schließt aus, dass es eine bestimmte Wahrheit „gebe“, die nur zu „finden“ sei.

Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 5. Hermeneutik

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