Читать книгу Beweisantragsrecht - Winfried Hassemer - Страница 21

6. Konsequenzen

Оглавление

31

Was allen diesen Einsichten in den menschlichen Erkenntnisprozess gemeinsam ist, lässt sich leicht sehen. Es ist auf der einen Seite die Relativität, Selektivität und Subjektivität menschlicher Erkenntnis, auf der anderen Seite die Empfehlung, diese Begrenzungen durch ein regelgeleitetes Verfahren zu überschreiten, in welchem jede einzelne Erkenntnis eine Chance hat, sich zur Geltung zu bringen.

Übertragen auf das Erkenntnisverfahren im Strafprozess, sprechen diese Einsichten eine deutliche Sprache. Sie erweisen ein reines Inquisitionsverfahren bzw. die alleinige Zuständigkeit des Gerichts für die Aufklärung des Sachverhalts als naiv. Sie votieren demgegenüber für einen Prozess der Wahrheitsfindung, an dem mehrere unterschiedliche Vorverständnisse und Sinnerwartungen und damit mehrere Sichtweisen des Geschehens (und sogar Interessen) gleichmäßig beteiligt sind. Es versteht sich, dass der institutionelle Diskurs des Strafverfahrens die letzte Entscheidung über den richtigen Weg der Wahrheitssuche auch institutionell zuteilen muss (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO). Vor dieser Entscheidung muss sich, nach dieser Betrachtungsweise, ein Prozess der Konkurrenz von Vorverständnissen regelgeleitet abgespielt haben.

32

Vor diesem Hintergrund kann man das Beweisantragsrecht verstehen als den gesetzlich garantierten Versuch, Wahrnehmungsfixierungen des am Ende entscheidenden Gerichts dadurch aufzubrechen und bis zum Ende der Wahrheitssuche offen zu halten, dass konkurrierende Verständnisse in den Prozess der Wahrheitsfindung eingebracht, dass sie für die Wahrheitsfindung und ihr Ergebnis folgenreich und bedeutsam gemacht werden. Die Suche nach Wahrheit wird auf mehrere Wahrnehmende differenziert verteilt und einem transparenten Verfahren unterworfen. Das Beweisantragsrecht und seine Unentbehrlichkeit lassen sich vor diesem Hintergrund stark begründen. Es ist nicht nur eingerichtet im Interesse dessen, dem dieses Recht zusteht, sondern auch im Interesse des Beweisverfahrens, dem es auf die Feststellung der „wahren“ Tatsachen ankommt, auf die größtmögliche prozedurale Annäherung an das, was wir als die materielle Wahrheit niemals vollständig erreichen können, den Urteilen im Strafverfahren aber gleichwohl zugrunde legen müssen. Das Beweisantragsrecht ist eingerichtet im Interesse eines fairen, auf Wahrheit verpflichteten Verfahrens.

Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 7. Justizförmigkeit der Wahrheitssuche

Beweisantragsrecht

Подняться наверх