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5. Hermeneutik

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Die Lehre vom Verstehen, die Hermeneutik, hat diese Einsichten in die Selektivität unserer Erkenntnis intensiv begründet und sie – in der Variante der „juristischen Hermeneutik“ – auch in den Zusammenhang des Rechts und rechtlicher Verfahren gestellt.[4]

Es geht um Verstehen: von Texten, von Menschen, von historischen Situationen, von Prozessen. Es geht also auch um die Beweisaufnahme im Strafverfahren. Die wichtigste Botschaft der Hermeneutik hierzu ist: Es gibt kein Verstehen ohne Vor-Verständnis, kein Urteil ohne Vor-Urteil und kein Erkennen ohne Sinnerwartung.

„Vorverständnis“ und „Vor-Urteil“ sind nicht abwertend gemeint. Damit ist vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass kein Mensch irgendetwas verstehen kann auf der tabula rasa einer je neuen und originären Zuwendung zur Sache, die verstanden werden soll. Verstehen kann er nur aufgrund der Fragen, welche er an die Sache hat, nur aufgrund der Vorverständnisse und Erwartungen, mit denen er an solche Sachen heranzugehen gewohnt ist. Solche Vor-Urteile sind durchaus auch Besonderheiten, die aus der jeweiligen individuellen Lebensgeschichte resultieren; es sind darüber hinaus im Wesentlichen aber auch die Sedimente unserer Kultur, unserer Tradition und unserer jeweiligen Schicht.

Dies ist andererseits aber auch weniger harmlos als es klingt. Wenn der Prozess des Verstehens nicht nur von der Sache geleitet wird, welche verstanden werden soll, sondern auch von Vorverständnissen, welche an diese Sache herangetragen werden und außerhalb ihrer bestehen, so kann man auf ein „reines“ oder „wahres“ Verstehen nicht hoffen. Das, was wir verstehen, ist zumindest teilweise auch das Produkt unserer Vorurteile, es ist nicht nur abgeschaut, sondern auch konstituiert.

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Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt die Hermeneutik nicht, man solle seine Vor-Urteile ablegen. Dies kann sie schon deshalb nicht empfehlen, weil sie zuvor gezeigt hat, dass es ohne Vor-Urteil ein Verstehen nicht geben kann. Es wäre aber auch naiv, dem Menschen ein Aussteigen aus seiner eigenen Geschichte und aus seiner kulturellen Tradition, seiner Welt-Sicht zu empfehlen. Derjenige, welcher von sich behauptet, er sei ohne Vor-Urteil, ist wohl dessen erstes Opfer. Der richtige Umgang mit dem Vorverständnis besteht – für das verstehende Individuum – in der Entschlossenheit, das Vorverständnis zu erkennen und transparent zu halten, sowie – für die Beteiligten am Verstehensprozess – darin, unterschiedliche Vor-Urteile zueinander in Vergleich und Konkurrenz zu setzen und ein Verfahren einzurichten, in welchem sämtliche Vorverständnisse eine faire Chance der Durchsetzung haben.

Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 6. Konsequenzen

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