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7. Justizförmigkeit der Wahrheitssuche

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Wie die Gerechtigkeit das Ethos des materiellen Rechts, so ist die Wahrheit das Ethos des Verfahrensrechts. Wenn die im Strafverfahren erarbeiteten Tatsachenfeststellungen nicht „wahr“ im beschriebenen Sinne sind, so ist schon damit ein gerechtes Urteil ausgeschlossen.[5] Es ist deshalb nicht falsch zu sagen, im Strafverfahren gehe es um die Suche nach „materieller Wahrheit“; es ist aber zu wenig differenziert, und es ist unvorsichtig.

Die weiterführende Frage lautet: Stört das Beweisantragsrecht die Suche nach der „materiellen Wahrheit“, oder befördert es sie? Oder: Passen Beweisantragsrecht und „materielle Wahrheit“ zusammen?

Zwei Überlegungen scheinen zu begründen, dass das Beweisantragsrecht insoweit nichts als ein Störfaktor ist (den man wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Subjektstellung des Beschuldigten missbilligend in Kauf nehmen muss). Zum einen ist die Pflicht des Gerichts zur Sachaufklärung in § 244 Abs. 2 StPO so umfangreich und umsichtig ausgestattet, dass alles, was darüber hinausgeht, als bloße Störung erscheinen muss. Zum anderen ist schwer einzusehen, wie man über die „materielle Wahrheit“ verhandeln und abstimmen kann; schließlich stimmen ja auch Mathematiker nicht ab, sondern rechnen und finden ein Ergebnis.

Dass das so nicht richtig sein kann, haben schon die Überlegungen zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis[6] gezeigt. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts ergibt sich aber darüber hinaus auch aus einem genaueren Blick auf das, was im Strafverfahren „Wahrheit“ heißen kann. Dabei stellt sich heraus, dass das Beweisantragsrecht sich nicht nur auf „menschliche Erkenntnis“ berufen kann, sondern auch auf „Rechtsstaat“, nicht nur auf die empirischen Bedingungen von Wahrheitssuche, sondern auch auf die normativen Verbürgungen für die Wahrheitssuche aus der strafrechtlichen Tradition und aus der Verfassung:

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Wenn man, wie gerade skizziert, ein Beweisantragsrecht (insbesondere mit Blick auf seine Wahrnehmung durch den Angeklagten) als Störfaktor im Rahmen der Suche nach materieller Wahrheit versteht – und dies war in der Tat das Verständnis des reinen Inquisitionsprozesses, in dem auch gleich die Verteidigung als überflüssig galt –, dann kommt man schon in Schwierigkeiten, wenn man sich bemüht, überhaupt den Sinn von Strafverteidigung zu verstehen oder gar zu begründen. Wenn schon das Gericht alle Tatsachen und Beweismittel aufzuklären hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO), wenn darüber hinaus die Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Beschuldigten zu ermitteln hat (§ 160 Abs. 2 StPO), so wäre eigentlich nicht einzusehen, was in einer solchen Verfahrenskonstruktion noch eine Verteidigung soll – gar die notwendige (§§ 140 ff. StPO). So verstanden, kann eine Verteidigung im Rahmen der umfassenden und auch die Interessen des Beschuldigten berücksichtigenden Aufklärung des Falles durch Staatsanwaltschaft und Gericht nur stören.

Schwierigkeiten hätte ein solches Verständnis auch mit dem Akkusationsprinzip in unserem Strafverfahren. Warum soll man die Einleitung und Durchführung eines Verfahrens auf mehrere institutionelle Rollen verteilen, wenn jede dieser Rollen schon ausreichend ausgestattet ist, die Wahrheit umfassend (und überdies auch beschuldigtenfreundlich) herauszufinden? Hinter einer solchen Frage steht nichts anderes als die Ideologie des Inquisitionsprozesses: Der Inquirent weiß alles und macht alles richtig, wenn man ihn nur mit allen notwendigen Befugnissen der Wahrheitserforschung ausstattet und Störmanöver anderer Verfahrensbeteiligter unterbindet.

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Ein solches Verständnis entspricht der Konstruktion unseres Strafverfahrens nicht. Unser Strafverfahren ist eine agonale und kompliziert angelegte Veranstaltung.[7]

Das Gesetz schreibt keine ungestörte Suche nach der Wahrheit vor, sondern es installiert im Strafverfahren konflikthafte Konstellationen, indem es die Störfaktoren für die Wahrheitssuche nutzbar macht. Nicht die Harmonie, sondern der Streit ist das Grundmuster des Strafprozesses. Gerade dadurch zeichnet es sich in einem modernen Sinne als rechtsstaatlich und liberal aus, was man an den Tendenzen der nationalsozialistischen Strafgesetzgeber, die Konflikte unter einer Schein-Harmonie zu verdecken,[8] gut studieren kann.

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Ein Verständnis, welches das Beweisantragsrecht als Störfaktor der Wahrheitssuche qualifiziert, hat aber auch einen zu naiven Begriff von „Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens. Die Rechtsprechung sowohl des BVerfG[9] als auch des BGH[10] hält zu Recht fest, dass es nicht um „Wahrheitssuche um jeden Preis“ gehen kann. Auch in der Literatur[11] hat sich durchgesetzt, von „forensischer Wahrheit“ zu sprechen[12] und damit zum Ausdruck zu bringen, dass rechtsstaatliche Wahrheitssuche spezifische Bedingungen und Grenzen hat, was sich auf Art und Qualität der dann gefundenen „Wahrheit“ zwangsläufig auswirkt. Ein Blick auf die Zeugnisverweigerungsrechte, die Beweiserhebungs-, Beweisverwertungs- oder Beweisthemaverbote zeigt, dass die Strafprozessordnung fundamentale Regelungen enthält, welche gerade verhindern können, dass herauskommt, „wie es wirklich war“.

Am Prinzip der „materiellen Wahrheit“ ist richtig, dass zur Grundlage des Urteils nichts gemacht werden darf, was sich so nicht zugetragen hat wie festgestellt. Falsch aber wäre es anzunehmen, dass Aufgabe der prozessualen Tatsachenfeststellung die Auffindung der „wirklichen“ Tatsachen wäre. Herauszufinden ist vielmehr die „forensische Wahrheit“; diese kann nichts anderes sein als die justizförmig gefundene Wahrheit. Und zu dieser Justizförmigkeit gehört auch das Beweisantragsrecht, dessen Regelungen freilich auch zum Ausdruck bringen, dass der Abstand zwischen der „materiellen Wahrheit“ und der „forensischen Wahrheit“ nicht zulasten, sondern immer nur zugunsten des Angeklagten als rechtstaatlich verträglich anzusehen ist. Den Rest muss dann eine saubere und begründbare Beweiswürdigung des Gerichts unter Beachtung des Zweifelssatzes (in dubio pro reo) leisten.[13]

Beweisantragsrecht

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