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2. Der Hilfsbeweisantrag

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Hierbei handelt es sich um einen Sonderfall[14] des bedingten Beweisantrages. Die Bedingung für das Beweisbegehren besteht darin, dass das Gericht einem vom Beweisführer gestellten Hauptantrag nicht entspricht.

Der regelmäßig im Schlussvortrag gestellte Beweisantrag bedarf nicht einer ausdrücklichen Bezeichnung als „Hilfsantrag“, solange durch die Verbindung mit einem (unbedingten) Hauptantrag unzweifelhaft ist, dass die Verteidigung in erster Linie die mit diesem begehrte Sachentscheidung (zumeist den Freispruch) anstrebt. Umgekehrt gilt allerdings ein Antrag, der im Schlussvortrag gestellt wird, im Zweifel als Hilfsantrag.[15] Aus diesem Grund sollte ein im Schlussvortrag gestellter unbedingter Beweisantrag ausdrücklich als solcher bezeichnet werden, um beim Gericht in dieser Hinsicht keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.[16] Werden an einem gesonderten Hauptverhandlungstag nach den Schlussanträgen noch weitere Beweisanträge gestellt, dann werden diese hingegen nicht ohne Weiteres als Hilfsbeweisanträge gewertet. Der Antragsteller muss vielmehr klarstellen, ob er die Anträge unter einer bestimmten Bedingung stellt oder ob er sie als selbständige Beweisanträge gewertet wissen will, die von seinem Hauptantrag völlig unabhängig sind.[17]

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Ist ein Beweisantrag hilfsweise für den Fall gestellt, dass das Gericht nicht ohnedies zum Freispruch gelangen sollte, so wird über ihn in der Urteilsberatung entschieden. Entspricht das Gericht dem Hauptantrag nicht, d.h. gelangt es in der Schlussberatung zu der Überzeugung, dass ein Schuldspruch zu ergehen hat, dann tritt damit die im Antrag enthaltene Bedingung für das Beweiserhebungsverlangen ein. Sieht das Gericht Veranlassung, den beantragten Beweis zu erheben, so muss es erneut in die Beweisaufnahme eintreten. Will es den Antrag ablehnen, so braucht es die Ablehnungsgründe erst zusammen mit den Urteilsgründen bekannt zu geben.[18] Der Antragsteller erfährt in einem solchen Fall also erst mit der Urteilsbegründung, aus welchem Grund das Gericht seinem Beweiserhebungsverlangen nicht entsprochen hat.

Dieses Ergebnis ist mit einer konkludenten Verzichtserklärung des Antragstellers begründet worden: Wer einen Antrag von einem Umstand abhängig mache, über den erst in der Urteilsberatung befunden werde, der gebe damit zu erkennen, dass es ihm nicht darauf ankommt, dass über seinen Antrag noch vor der Urteilsverkündung entschieden wird. Andernfalls würde er den Antrag ohne die Bedingung stellen.[19] In Rechtsprechung und Lehre umstritten ist jedoch, welche Konsequenzen sich hieraus ergeben.

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Nach zutreffender Ansicht folgt aus dem Umstand, dass der Zeitpunkt, zu dem über den Hilfsantrag entschieden werden muss, maßgeblich aus dem Verhalten des Antragstellers abgeleitet wird, die Befugnis des Antragstellers, durch ausdrückliche Erklärung den weiteren Verfahrensverlauf zu bestimmen. Soll in der hilfsweisen Antragstellung im Schlussvortrag ein Verzicht auf die Mitteilung der Gründe für eine eventuelle Antragsablehnung vor der Urteilsverkündung liegen, dann muss der Antragsteller auch die Befugnis besitzen, hierzu eine eigene Erklärung abzugeben. Er kann deshalb durch einen entsprechenden Zusatz zu seinem Hilfsbeweisantrag (sog. „Bescheidungsklausel“) deutlich machen, dass er Wert darauf legt, etwaige Ablehnungsgründe noch vor der Urteilsverkündung zu erfahren.[20] In Betracht kommt etwa eine Formulierung folgenden Inhalts:

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„Für den Fall des Bedingungseintritts wird auf eine Bescheidung durch Beschluss vor dem Abschluss der endgültigen Urteilsberatung nicht verzichtet. In diesem Fall ist beabsichtigt, weitere Beweisanträge zu stellen.“[21]

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Gegen die Zulässigkeit einer solchen „Bescheidungsklausel“ sind jedoch in der Literatur grundsätzliche Bedenken geltend gemacht worden[22], denen sich die Rechtsprechung weitgehend angeschlossen hat. Bei allen Hilfsbeweisanträgen, die für den Fall eines bestimmten Beratungsergebnisses in der Schuldfrage gestellt werden, dürfe die „Bescheidungsklausel“ nicht dazu führen, dem Antragsteller Informationen zu verschaffen, die er durch einen unbedingten Beweisantrag nicht erhalten würde. Kein Verfahrensbeteiligter habe einen Anspruch darauf, vor der Urteilsverkündung das Beratungsergebnis zu erfahren.[23] Zwar war in der älteren Rechtsprechung bis zum Jahre 1988 die Wirksamkeit einer Bescheidungsklausel anerkannt[24], dies haben jedoch der 1., 4. und der 5. Senat später nicht mehr aufrechterhalten.[25]

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Die Gründe, die gegen die Zulässigkeit der Bescheidungsklausel geltend gemacht werden, überzeugen überall dort nicht, wo die in dem Beweisantrag enthaltene Bedingung durchaus erfüllt sein kann, ohne dass dies bereits das endgültige Urteil vorwegnehmen oder „verraten“ würde. War der Antrag für den Fall gestellt, dass der Angeklagte nicht ohnedies freigesprochen werden sollte und verkündet das Gericht sodann in der Hauptverhandlung den Beschluss zur Ablehnung des Beweisantrages, so muss der Angeklagte davon ausgehen, dass das Gericht im Begriff war, ihn schuldig zu sprechen, dass also ein bevorstehender Freispruch jedenfalls nicht der Grund für die Ablehnung der beantragten Beweiserhebung war. Es müssen also andere mit den gesetzlichen Vorgaben aus § 244 Abs. 3-5 StPO vereinbare Gründe sein. Nicht einzusehen ist aber, dass der Antragsteller hiervon keine Kenntnis erlangen darf. Und was das von der Nichtannahme des Hilfsfalles ausgehende Signal (voraussichtlich Schuldspruch!) angeht, so wird in der Literatur mit Recht darauf hingewiesen, dass die Bekanntgabe der vorläufigen Bewertung des Sachverhalts in der Hauptverhandlung auch sonst kein ungewöhnlicher Vorgang ist.[26] Das Gericht ist z.B. in Haftentscheidungen und in Entscheidungen über in der Hauptverhandlung gestellte unbedingte Beweisanträge häufig gezwungen, Auskunft über seine vorläufige Bewertung des Sachverhalts und die wahrscheinliche Gesamtwürdigung der Beweisaufnahme zu geben. Der Urteilsberatung kann insoweit keine andere Qualität zukommen. Ihr Ergebnis wird konkludent auch dann offen gelegt, wenn das Gericht in der Beratung zu der Überzeugung gekommen ist, der Angeklagte sei nach dem bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme zu verurteilen, die im Hilfsbeweisantrag beantragte Beweiserhebung müsse unter diesen Umständen aber durchgeführt werden. Dass die konkludente Bekanntgabe derselben Tatsache in den Fällen, in denen das Gericht beabsichtigt, den Beweisantrag abzulehnen, eine gänzlich andere Rechtsqualität haben soll als in den Fällen, in denen das Gericht dem Antrag stattgeben will, ist nicht begründbar. Zudem muss der Antragsteller Gelegenheit erhalten, sich zu den Gründen zu äußern, die aus der Sicht des Gerichts die Ablehnung des Antrages rechtfertigen sollen.[27] Die besseren Gründe sprechen deshalb dafür, auch weiterhin von der Wirksamkeit der Bescheidungsklausel auszugehen.

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Bis zum Beschluss des 1. Strafsenats vom 23.9.2008[28] war in der Rechtsprechung anerkannt, dass eine Pflicht des Gerichts zur Entscheidung über den Hilfsbeweisantrag durch Beschluss in der Hauptverhandlung ausnahmsweise auch unabhängig von einer „Bescheidungsklausel“ besteht, wenn der Hilfsbeweisantrag wegen Verschleppungsabsicht abgelehnt werden soll. Das Gericht musste bis dahin nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung die Ablehnung des Hilfsbeweisantrags dem Antragsteller noch in der Hauptverhandlung mitteilen, damit dieser Gelegenheit erhielt, den Vorwurf zu entkräften.[29] Der 1. Strafsenat ist in der genannten Entscheidung hiervon abgerückt. Er hat die Zurückweisung eines Hilfsbeweisantrages wegen Verschleppungsabsicht in den Urteilsgründen jedenfalls für den Fall gebilligt, dass zuvor in der Hauptverhandlung durch einen entsprechenden Hinweis des Gerichts klargestellt wurde, dass es als Indiz für eine Verschleppungsabsicht gewertet werden kann, wenn Beweisanträge nach Ablauf einer durch den Vorsitzenden gesetzten Frist gestellt werden. Durch eine solche Fristsetzung werde der Antragsteller auf die drohende Rechtsfolge hingewiesen. Er könne etwaige weitere Beweisanträge sodann ohne Bedingung stellen oder von seinem Selbstladerecht Gebrauch machen.[30] Eine gegen diesen Beschluss gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen.[31]

Diese Rechtsprechung ist in der Literatur auf Ablehnung gestoßen.[32] Ihr lag eine unzutreffende Auslegung des Ablehnungsgrundes der Verschleppungsabsicht zu Grunde. Sie sah ferner zu Unrecht in § 238 StPO eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Bestimmung von Fristen durch den Vorsitzenden (s. dazu im Einzelnen unten Rn. 237 und Rn. 367 ff.).

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Durch Gesetz vom 17.8.2017 wurde nunmehr § 244 Abs. 6 StPO ergänzt und damit erstmals eine gesetzlich geregelte „Fristenlösung“ geschaffen.[33] Nach dem Gesetzeswortlaut darf der Vorsitzende (ohne weitergehende einengende Voraussetzungen) „nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme“ eine Frist zur Stellung weiterer Beweisanträge setzen. Nach Fristablauf gestellte Anträge müssen erst im Urteil beschieden werden (s. dazu im Einzelnen unten Rn. 234 ff. und Rn. 305 ff.). Nach ihrem Wortlaut kann diese Regelung auch Hilfsbeweisanträge erfassen: War vor den Schlussvorträgen eine Frist i.S.v. § 244 Abs. 6 S. 2 StPO gesetzt und wurde der Antrag erst nach Fristablauf gestellt, dann muss über ihn schon im Hinblick auf § 244 Abs. 6 S. 3 StPO erst im Urteil entschieden werden, sofern nicht i.S.v. § 244 Abs. 6 S. 4 StPO konkrete Tatsachen benannt werden, aus denen sich ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte. Die Bestimmung bedarf jedoch einer einschränkenden Auslegung (s. dazu im Einzelnen unten Rn. 234 und Rn. 306).

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Wurde keine Frist gesetzt, so verbleibt es demgegenüber bei der bisherigen Rechtslage: Der Hilfsbeweisantrag darf schon dann im Urteil beschieden werden, wenn über den Eintritt der Bedingung erst im Rahmen der Schlussberatung zu entscheiden war.

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Durch die Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2 StPO und die Rechtsprechung des 1. Strafsenats zum Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht hat sich dabei verfestigt, was schon bisher galt: Hilfsbeweisanträge bieten in prozesstaktischer Hinsicht kaum noch Vorteile, wohl aber eine Reihe von Nachteilen im Vergleich zu Anträgen, die unabhängig vom Hauptantrag in der Hauptverhandlung gestellt werden. Ein Grund für die Formulierung eines Hilfsbeweisantrages sollte jedenfalls nicht die Hoffnung sein, das Gericht werde es tunlichst vermeiden, den „Hilfsfall“ eintreten zu lassen. Die praktische Erfahrung stützt eher die gegenteilige Annahme. Ist ein Gericht nach einer längeren Hauptverhandlung zur Verurteilung entschlossen, so lässt es sich hiervon auch durch einen „in letzter Minute“ gestellten Hilfsbeweisantrag nur selten abbringen. Überdies ist das Gericht bei der Ablehnung des im Schlussvortrag gestellten Hilfsbeweisantrages schon deshalb freier, weil es die Ablehnungsgründe leichter in das Gesamtgefüge seiner Beweiswürdigung einordnen kann.

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Die bei einem Hilfsbeweisantrag bestehende Befugnis des Gerichts, die Gründe für die Ablehnung des Antrages erst zusammen mit den Urteilsgründen bekannt zu geben, stellt daneben aber auch deshalb einen schwerwiegenden Nachteil für den Antragsteller dar, weil er damit nicht mehr die Möglichkeit hat, etwa vorhandene Missverständnisse über den Inhalt des Beweisthemas noch rechtzeitig aufzuklären.[34] Er erfährt von diesen Missverständnissen erst aus den Urteilsgründen.

Durch die zitierte Rechtsprechung des BGH und die neue Regelung in § 244 Abs. 6 S. 2–4 StPO kann dieses Risiko nunmehr in einer noch größeren Zahl von Fällen eintreten als bisher. In Fällen, in denen eine Frist gesetzt wurde, diese abgelaufen ist und keine hinreichenden Gründe für die Antragstellung nach Fristablauf vorgebracht werden können, ist jetzt nach der Gesetzeslage eine Bescheidung im Urteil ausdrücklich zulässig, so dass der Antragsteller – unabhängig von allen Kontroversen um die „Bescheidungsklausel“ – schon aus diesem Grund nicht mehr davon ausgehen kann, dass er durch Zusätze zu seinem Antrag die Bekanntgabe der Ablehnungsgründe noch vor Verkündung des Urteils erzwingen kann. Eine der wesentlichen Funktionen des Beweisantrages, die rechtzeitige Erkennung der Überzeugungsbildung des Gerichts aus dem Inhalt ablehnender Beschlüsse, geht bei einer solchen Konstellation damit verloren.

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Auf Hilfsbeweisanträge kann aber gleichwohl nicht gänzlich verzichtet werden. Sie haben etwa dann eine wesentliche Funktion, wenn ein bestimmter entlastender Aspekt in der Hauptverhandlung bereits zur Sprache gekommen ist, die Verteidigung aber nicht sicher sein kann, dass das Gericht diesen Umstand bereits als erwiesen ansieht. Sofern hier nicht bereits während der Beweisaufnahme ein „affirmativer“ Beweisantrag gestellt wird, kann sich im Einzelfall ein Hilfsbeweisantrag im Schlussvortrag als geeignetes Mittel anbieten, um das Gericht nochmals darauf hinzuweisen, dass es das Verteidigungsvorbringen nicht als widerlegt ansehen darf, ohne das zusätzliche Beweismittel zum Gegenstand der Verhandlung gemacht zu haben.

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