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Teil 2 Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme › III. Beweisermittlungsanträge

III. Beweisermittlungsanträge

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Hier ergeben sich die Abstriche vom unbedingten Beweisbegehren weniger aus der Intensität des Petitums als aus dem Maß an Bestimmtheit der Behauptungen. Die dabei zum Ausdruck gebrachte Ungewissheit beim Antragsteller kann sich auf dreierlei beziehen:

Unbestimmtheit bezogen auf das Beweismittel

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Beispiel:

„Es wird beantragt, den Rektor des Goethe-Gymnasiums zu bitten, in seiner Schule festzustellen, ob noch weitere Schüler bestätigen können, dass nicht Herr A. (der Angeklagte), sondern der Nebenkläger den ersten Stein geworfen hat.“

Ergiebigkeit des Beweismittels, z.B. das Aussageverhalten des Zeugen

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Beispiel:

„Es wird beantragt, den Mitschüler des Herrn A., Herrn B (ladungsfähige Anschrift: …) als Zeugen zu vernehmen. Sollte der Zeuge sich entschließen können, die Wahrheit zu sagen, woran allerdings Zweifel bestehen, so wird durch seine Aussage bewiesen werden, dass nicht Herr A., sondern der Nebenkläger den ersten Stein geworfen hat.“

Fehlende Behauptung einer Beweistatsache

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Beispiel:

„Es wird beantragt, Herrn R als Zeugen zu der Frage zu vernehmen, wer den ersten Stein geworfen hat.“

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Solche Beweisermittlungsanträge unterscheiden sich von den Beweisanregungen in der Bestimmtheit des Petitums: Während Beweisanregungen lediglich einen gewissen Appell an die Amtsaufklärungspflicht darstellen, enthalten Beweisermittlungsanträge schon das Verlangen, von einem bestimmten Beweismittel Gebrauch zu machen. Von den eigentlichen Beweisanträgen unterscheiden sie sich jedoch dadurch, dass das Beweisthema nur allgemein und neutral genannt wird, ohne dass sich der Antragsteller eine bestimmte Beweisbehauptung zu eigen macht, so etwa wenn bestimmte Zeugen „zum Verhalten des Angeklagten am 7.6.2002“ oder „zum Verhältnis der Eheleute T.“ gehört werden sollen.[1]

Der Beweisermittlungsantrag erweist sich damit in der Praxis zumeist als defizitärer Beweisantrag. Typische Fälle, in denen dieses Defizit immer wieder auftritt, sind etwa der Antrag, ein Sachverständigengutachten (mit unbestimmtem Ausgang) zum Geisteszustand des Beschuldigten einzuholen[2], oder der Antrag auf Einnahme eines Augenscheins ohne die Prognose eines bestimmten Ausgangs.[3] Als Beispiele für die zu geringe Bestimmtheit des Beweismittels können gelten der Antrag, einen Zeugen „aus der Nachbarschaft“ zu vernehmen[4] oder der Hinweis auf eine „Urkundensammlung“[5] oder eine Vielzahl von Augenscheinsobjekten (wie z.B. abgehörten Telefongesprächen).[6] Auch Anträge, in denen lediglich ein Kreis von Zeugen benannt wird, aus dem derjenige, der das Beweisthema bestätigen kann, erst herausgefunden werden soll, sind als Beweisermittlungsanträge zu behandeln.[7] Ebenso bewertet hat die Rechtsprechung einen Antrag auf Vernehmung von ca. 170.000 nicht mit vollem Namen und voller Anschrift benannten Grundstückseigentümern.[8]

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Als „Beweisermittlungsantrag“ versteht man dementsprechend vielfach eine Beweisanregung, welche gewissermaßen ein Beweisantrag im Entwicklungsstadium ist, bzw. eine Intervention, welche zur Vorbereitung eines Beweisantrags dient.[9] Der Beweisermittlungsantrag ist jedoch nicht stets – worauf schon Herdegen mit Recht hingewiesen hat[10] – eine Vorstufe für den eigentlichen Beweisantrag. Oftmals ergibt sich das Defizit gegenüber dem Beweisantrag auch daraus, dass der Antragsteller eine bestimmte Behauptung nicht vorbringen oder ein bestimmtes Beweismittel nicht angeben kann. Praktisch zielt auch der Beweisermittlungsantrag meist auf die unmittelbar sachverhaltsaufklärende Tätigkeit des Gerichts, das heißt eine Beweiserhebung im Strengbeweisverfahren. Seine Qualität als prozessualer Antrag steht außer Frage, weil er vom Gericht ein Tätigwerden verlangt, mit dem ein unmittelbarer oder mittelbarer Aufklärungseffekt erzielt werden soll.[11]

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Als prozessualer Antrag ist der Beweisermittlungsantrag in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen (§ 273 Abs. 1 StPO).[12] Über ihn wird nach Maßgabe von § 244 Abs. 2 StPO entschieden.[13] Da es zu seiner Ablehnung keines Beschlusses bedarf, weil § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO nicht gilt[14], muss insoweit lediglich der Vorsitzende bekannt geben, weshalb er dem Ermittlungsantrag nicht folgt. Die Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO ist möglich.[15] Die verschiedentlich vertretene Auffassung, auch die Ablehnung eines Beweisermittlungsantrages bedürfe eines Gerichtsbeschlusses[16], überzeugt nicht, da § 244 Abs. 6 S. 1 StPO nur für den förmlichen Beweisantrag die Entscheidung durch Beschluss vorsieht und die StPO kein generelles, von der Normierung in konkreten Einzelvorschriften unabhängiges Prinzip enthält, wonach über prozessuale Anträge jedweder Art stets durch Beschluss entschieden werden muss.

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Das Beschlusserfordernis des § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO greift jedoch, wenn ein Antrag zunächst als Beweisantrag gestellt wurde, das Gericht ihm aber nicht nachgehen will, weil es ihn als Beweisermittlungsantrag einstuft und zugleich glaubt, die Amtsaufklärungspflicht gebiete die Beweiserhebung nicht.[17] Wird ein Antrag zulässigerweise durch Entscheidung des Vorsitzenden abgelehnt, dann muss der Antragsteller aus der Begründung erfahren, weshalb das Gericht keinen Anlass zur Beweiserhebung sieht.[18]

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Wenn der Verteidiger einen Beweisantrag anbringen wollte, es aber in den Augen des Gerichts nur zu einer Beweisanregung, insbesondere also zu einem Beweisermittlungsantrag, gebracht hat, so darf er im Regelfall davon ausgehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Dieser Fehler liegt typischerweise darin, dass es an der Bestimmtheit des Antrages mangelt (sei es hinsichtlich der bezeichneten Tatsache, sei es hinsichtlich des Beweismittels). Es ist deshalb sinnvoll, sich die Anforderungen an das Merkmal der „Bestimmtheit“, welche die Rechtsprechung formuliert hat, zu vergegenwärtigen. Dabei zeigt sich im Ganzen, dass jedenfalls die höchstrichterliche Rechtsprechung – von einigen neueren Entscheidungen abgesehen – durchaus nicht formal ist (s. dazu im Einzelnen unten Rn. 137 ff.).

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Nicht stets liegt in einem Beweisermittlungsantrag jedoch ein „verunglückter“ Beweisantrag. Zum Beweisermittlungsantrag als Mittel der Einflussnahme auf die Beweisaufnahme greift der Verteidiger gezielt dann, wenn er die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung durch das Gebrauchmachen von einem (mehr oder weniger) bestimmten Beweismittel geltend machen will, ohne dass es jedoch vertretbar wäre, sich ein erhofftes konkretes Beweisergebnis zu eigen zu machen. Im Offenbleiben des Beweisergebnisses liegt aber auch die Problematik aus der Sicht des Verteidigers: Die Pflicht zur strengen Einseitigkeit kann es verbieten, einen riskanten Beweisermittlungsantrag zu stellen. Andererseits gibt es Beweisthemen, bei denen es unseriös wäre, das gewünschte Ergebnis in Form einer Beweisbehauptung vorwegzunehmen. Beweisermittlungsanträge empfehlen sich – verallgemeinernd – immer dann, wenn weder Informationen noch Anhaltspunkte für eine entlastende Tatsache vorliegen, die Beweiserhebung jedoch eine solche zu Tage fördern kann, ohne dass der „negative“ Ausgang dem Mandanten schadet.

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Ein praktisch häufiges Beispiel hierfür dürfte ein Beweisermittlungsantrag zur Frage der Schuldfähigkeit sein:

Beispiel:

„Zur Klärung der Frage, ob sich der Angeklagte zum Tatzeitpunkt in einem psychischen Zustand befand, der die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erfüllte, wird beantragt, einen forensisch psychiatrischen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zu beauftragen.“

Äußeres Erkennungszeichen des Beweisermittlungsantrages ist das Wörtchen „ob“ anstelle des beim Beweisantrag die Beweisbehauptung einleitenden Wortes „dass“[19]. Zwar grenzt in diesen Fällen die Unsicherheit über den Ausgang der Beweiserhebung den Beweisantrag vom Beweisermittlungsantrag ab. Das darf aber nicht zu dem Missverständnis führen, dass auch in den Fällen, in denen zwar der Antragsteller die Bestätigung einer bestimmten Beweisbehauptung für möglich hält, nicht aber das Gericht, die insoweit bestehende Unsicherheit über den Ausgang der Beweiserhebung als generelles Unterscheidungskriterium für die Abgrenzung zwischen Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag herangezogen wird (s. dazu im Einzelnen unten Rn. 189 ff.).

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