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Teil 2 Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme › II. Beweisanregung

II. Beweisanregung

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Eine Beweisanregung im weiteren Sinne besteht in der – gesetzlich nicht formulierten, aber zulässigen – Möglichkeit des Verteidigers, die Aufklärungspflicht des Gerichts dadurch zu beeinflussen, dass er eine Information aktenkundig macht.

Die Beweisanregung ist kein prozessualer Antrag, sie enthält nicht das formalisierte Begehren einer bestimmten Beweiserhebung[1]. Teilt der Verteidiger dem Gericht lediglich mit, es gebe für einen bestimmten Vorfall noch einen bestimmten Zeugen, oder legt er mit dem Hinweis auf eine bestimmte beweisrelevante Passage eine Urkunde vor, so enthält dies regelmäßig nicht die Aussage, die Erhebung des Beweises sei notwendig und das förmliche Petitum an das Gericht, das benannte Beweismittel auch zu nutzen. Wo eine solche Aufforderung fehlt, etwa weil die Beweiserhebung „anheim gestellt“ wird, fehlt es an dem für den eigentlichen Beweisantrag charakteristischen Ansinnen an das Gericht, eine bestimmte Beweiserhebung auch durchzuführen.

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Beweisanregungen bringen im Gegensatz zur schlichten Informationsweitergabe durchaus schon zum Ausdruck, dass der Verteidiger die Beweiserhebung unter gewissen Voraussetzungen für erforderlich hält. Der „Wunsch“, den Beweis zu erheben, wird aber sozusagen halbherzig vorgebracht. Dafür kann es aus der Verfahrenssituation heraus Gründe geben, die der Verteidiger offen legen kann, um zu erreichen, dass die rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen man die Beweiserhebung für nützlich hielte, im Rahmen eines Rechtsgespräches erörtert werden.

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Beispiel:

„Wenn der Staatsanwaltschaft in ihrer Rechtsauffassung zuzustimmen wäre – das Gericht weiß, dass die Verteidigung anderer Meinung ist – wonach es darauf ankäme, ob ein „hinterlistiger Überfall“ gegeben ist (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB), dann müsste darüber Beweis erhoben werden. Die Verteidigung regt für den Fall, dass das Gericht der Rechtsmeinung der Staatsanwaltschaft zuneigen sollte, die Vernehmung der Zeugen X und Y an.“

oder:

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„Aus den Fragen des Gerichts an den Zeugen … ist bei der Verteidigung der Eindruck entstanden, dass Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit bestehen könnten. Wir regen deshalb an, auch noch die Zeugen … zu vernehmen, die bestätigen können, ….“

oder:

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„Das Verhalten des Angeklagten bei Begehung der Tat und der Umstand, dass er eine Blutalkoholkonzentration von 1,5 Promille hatte, legen es nahe, dass seine Steuerungsfähigkeit vermindert war. Ich rege deshalb an, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen.“

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Werden sie in der Hauptverhandlung vorgebracht, so sind Beweisanregungen in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen,[2] ihre Ablehnung erfordert aber keinen Gerichtsbeschluss.[3] Weist der Vorsitzende die Anregung zurück, kann nach § 238 Abs. 2 gerichtliche Entscheidung beantragt werden.[4]

Die Beweisanregung hat ihren Platz, wo der Verteidiger eine klare Behauptung über das Ergebnis einer zu erwartenden Beweisaufnahme nicht aufstellen will oder kann. Sie kann in bestimmten Verfahren auch dazu dienen, näheren Aufschluss darüber zu erhalten, welche Themenbereiche für das Gericht noch von Interesse sind. Wird für einen solchen Themenbereich eine Beweisanregung formuliert, so vermeidet dies die Förmlichkeit eines Beweisantrages und verhindert damit bisweilen ungewollte Schärfen.

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Von der Beweisanregung im weiteren Sinne lässt sich die Beweisanregung im engeren Sinne unterscheiden. Hierunter versteht man eine Intervention, die nicht den Umfang, sondern die Art und Weise der Beweisaufnahme betrifft; beispielsweise eine Anregung auf Durchführung einer Gegenüberstellung, auf Durchführung von bestimmten Experimenten oder die Anregung auf Wiederholung einer Beweiserhebung zu derselben Beweisfrage.[5]

Der häufigste Grund dafür, dass die Verteidigung an Stelle eines förmlichen Beweisantrages lediglich eine Beweisanregung vorbringt, dürfte darin liegen, dass die Verteidigung die Hinzuziehung eines ungewöhnlichen („außerordentlichen“) Beweismittels, das nicht der Typologie der Strafprozessordnung entspricht, für sinnvoll hält. Das gilt insbesondere für die „synthetischen“ Beweismittel, die sich aus verschiedenen Beweisarten zusammensetzen, wie zum Beispiel Experimente des Gerichts, Fahrversuche in Begleitung eines Sachverständigen u.Ä. Auch eine Gegenüberstellung namentlich in der Form der Wahlgegenüberstellung gehört zu den rechtlich nicht durchsetzbaren und deshalb nicht in der Form eines Beweisantrages „beantragbaren“, aber vielfach doch sinnvollen Beweiserhebungsmaßnahmen.[6]

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Beispiel:

„Für die Frage, ob der Tatvorwurf zu Recht erhoben wird, ist von entscheidender Bedeutung, ob der Zeuge den Angeklagten als den Fahrer des Fahrzeugs, das den Unfall verursacht hat, wieder erkennt. Nach den Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie kann ein solcher Vorgang entscheidend durch die Situation beeinflusst werden, in der sich der Zeuge und der Angeklagte gegenüberstehen. Wir regen deshalb an, den Angeklagten für die Dauer der Vernehmung des Zeugen im Zuschauerraum Platz nehmen zu lassen.“

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Weiterhin ist der Verteidiger dann auf die Möglichkeit einer Anregung an Stelle eines Antrages angewiesen, wenn die Beweiserhebung noch von Umständen abhängt, die weder im Einflussbereich des Verteidigers noch im Einflussbereich des Gerichts liegen. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Antrag auf Erstattung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens nach ausführlicher Exploration eines Zeugen. Ein solches Gutachten setzt regelmäßig voraus, dass der Zeuge bereit ist, sich den Tests und Fragen des Gutachters zu stellen. Deshalb ergeht die Anregung an das Gericht, ein Gutachten in Auftrag zu geben und zuvor den Zeugen nach seiner Mitwirkungsbereitschaft zu fragen.

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Mehr als eine Beweisanregung kann der Verteidiger auch dann nicht anbringen, wenn in einer länger dauernden Hauptverhandlung Streit darüber entsteht, was ein Zeuge in einer früheren Phase des Verfahrens ausgesagt hat oder nicht. Der Beweisantrag auf nochmalige Vernehmung des Zeugen zu demselben Beweisthema ist nach allgemeiner Meinung unzulässig und wird deshalb als bloße Beweisanregung angesehen.[7] Ein Anspruch auf Wiederholung einer bereits durchgeführten Beweiserhebung besteht generell nicht, das Gericht kann über einen hierauf gerichteten Antrag auf der Grundlage der Aufklärungspflicht entscheiden, an § 244 Abs. 3 StPO ist es nicht gebunden[8]. Nur wenn eine neue Beweistatsache benannt werden kann, zu der der Zeuge bislang nicht ausgesagt hat, kann ein Beweisantrag gestellt werden, über den dann an Hand der Kriterien des § 244 Abs. 3 StPO zu entscheiden ist.[9]

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Diese Grundsätze gelten bei Ersetzung der persönlichen Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung durch die Vorführung einer Video-Aufzeichnung nach § 255a StPO entsprechend. Das Tatgericht darf nach Maßgabe der Aufklärungspflicht entscheiden, wenn im Anschluss an die Vorführung der Video-Aufzeichnung über eine frühere richterliche Vernehmung nach § 255a StPO[10] die Vernehmung des Zeugen beantragt wird (vgl. § 255a Abs. 2 Satz 4 StPO).[11] Nur wenn eine neue Beweistatsache benannt werden kann, zu der der Zeuge bei der aufgezeichneten Vernehmung nicht ausgesagt hat, kann ein Beweisantrag gestellt werden, über den dann nach § 244 Abs. 3 StPO zu entscheiden ist.[12]

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Auch bei einem Antrag auf nochmalige Anhörung eines Sachverständigen[13] oder nochmalige Augenscheinseinnahme können vergleichbare Fragestellungen Bedeutung besitzen. Auch hier kommt es darauf an, ob nur eine Wiederholung erstrebt wird. Hat nach der ersten Anhörung des Sachverständigen ein anderer Gutachter neue Tatsachen vorgetragen, die geeignet sind, die Schlussfolgerungen des zuerst gehörten in Frage zu stellen, dann zielt ein Antrag, mit dem dessen neuerliche Anhörung erreicht werden soll, nicht auf eine bloße Wiederholung.[14] Wird mit einem Antrag auf Augenscheinseinnahme zugleich eine andere technische Bearbeitung des Beweismittels beantragt, so liegt hierin keine bloße Wiederholung einer bereits früher durchgeführten Beweisaufnahme.[15]

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Unabhängig von diesen Sonderfällen kann aber auch generell das Begehren auf Verwendung „klassischer“ Beweismittel in der abgeschwächten Form eines „Vorschlags“, d.h. einer Beweisanregung vorgebracht werden. Häufig sind es verfahrenspsychologische Momente, die den Verteidiger veranlassen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen und bewusst gerade keinen förmlichen Beweisantrag zu stellen:

Als Beispiel sei die durchaus gelegentlich vorkommende Situation erwähnt, in der das Gericht während der Hauptverhandlung eine, bezogen auf das Verteidigungsziel, positive Tendenz zu erkennen gibt und daran auch ein informatives Rechtsgespräch anknüpft. Der Verteidiger, der dieses Gespräch zu argumentativer Überzeugungsarbeit ausnutzen will, gefährdet unter Umständen dieses Vorhaben, wenn er durch Stellung eines förmlichen Beweisantrags abrupt die Kommunikationsebene wechselt. Wer stattdessen das Gericht darauf hinweist, dass es erforderlichenfalls noch eine weitere Aufklärungsmöglichkeit gäbe, die vor einer für den Angeklagten negativen Entscheidung noch zu nutzen wäre, verliert weder die Gunst des Gerichts noch die Möglichkeit, in einer späteren Phase der Hauptverhandlung dasselbe Begehren auch noch einmal in einem Beweisantrag vorzutragen.

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