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SIEBEN

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Fabian Radegast beugte sich über die Papiere, die er gerade aus der Unterschriftenmappe gezogen hatte. Kaum zu glauben, der Papierkram, mit dem er sich als Dienststellenleiter herumzuplagen hatte. Er stieß auf einen Urlaubsantrag von Hella Binder. Wieso hatte sie ihm nichts davon gesagt? Aber sie hatte ja einen besseren Überblick über die Dienstpläne als er. Also würde das vermutlich seine Richtigkeit haben. Radegast setze seine Unterschrift unter den Antrag, als hinter ihm die Tür aufging. Annekatrin Struve kam herein, warf ihr dickes Notizbuch, das mit eingelegten Zetteln gespickt war, auf den Schreibtisch und schaltete ihren Rechner ein.

»Diesmal haben sie die Geldkassette aus dem Automaten gekriegt«, sagte sie und stand auf. »Die Bank rechnet gerade aus, wieviel noch drin war. Und die Spurensicherung hat ein Überwachungsvideo aufgetan, auf dem möglicherweise das Täterfahrzeug drauf ist. Willst du es sehen?«

»Später«, sagte Radegast.

Struve ging um ihren Schreibtischstuhl herum und entdeckte Radegasts Wochenmarkteinkäufe, die neben seinem Schreibtisch standen.

»Oh. Etwa für mich?«

»Nee«, entgegnete Radegast, während Annekatrin sich wieder vor ihren Bildschirm setzte.

»Aber sagt dir der Name Schiller was? Robert Schiller?«

»Roland Schiller, klar«, sie hielt einen Moment inne, »haben sie ihn entlassen?«

»Ja, scheint so«, sagte Radegast. »Der Kollege Färber aus Greifswald hat vorhin angerufen. Ich soll es dir ausrichten.«

»Danke.«

Sie begann auf ihrer Tastatur zu tippen.

Radegast wusste, dass dies keine Unfreundlichkeit von ihr war, sondern ein Zeichen höchster Anspannung und Konzentration. Wahrscheinlich wollte sie die morgendliche Verspätung wieder aufholen. Oder tat sie nur so?

Er stand auf und stellte sich an die Fensterbank neben den Schreibtischen. Sein Lieblingsplatz, wenn es um Diskussionen oder den Austausch wichtiger Informationen ging.

Alle wussten das, natürlich auch Annekatrin Struve. Also hörte sie auf zu tippen und schaute ihn an. Sie ist wirklich blass, dachte Radegast, und sie hat Ringe unter den Augen.

»Was war denn mit diesem Schiller?«

Sie rollte mit ihrem Stuhl etwas zurück.

»Er hat einen Juwelier in Greifswald überfallen. Vor ungefähr fünf Jahren. Kurz vor Feierabend ist er reingekommen, hat den Ladeninhaber mit einem Beil bedroht, die Auslagen und Vitrinen zerschlagen, teure Uhren und Schmuckstücke in einen Beutel gestopft und ist verschwunden. Die alarmierten Kollegen mussten sich als erstes um den Juwelier kümmern. Herzinfarkt aufgrund der Aufregung. Zwei oder drei Tage später ist er leider verstorben.«

Struve machte eine Pause, wie um sich zu erinnern.

»Aber du hast Schiller gefunden und überführt.«

Radegast versuchte, ihren Bericht wieder in Gang zu setzen Struve nickte.

»Schiller kam von Rügen. Aus Zirkow. Er hatte da ein kleines Bauunternehmen, das wohl nicht besonders lief. Jedenfalls gab es Schulden. Wir sind ihm über das Beil, das er am Tatort zurückgelassen hatte, auf die Spur gekommen. Da stand der Name seiner Firma drauf.«

»Nicht sonderlich professionell.«

»Eben. Schiller ist kein Profi. Er war ziemlich naiv. Kurz nach dem Überfall konnte er plötzlich einen Teil seiner Schulden bezahlen. In der ersten Vernehmung hat er ausgesagt, er wäre in Bad Zwischenahn in der Spielbank gewesen und hätte gewonnen. Glaubst du an solche Zufälle? Ich nicht.«

»Aber du hast das natürlich überprüft.«

»Soweit das möglich war, ja«, nickte Struve. »Schiller war tatsächlich in der Spielbank. Aber für seine angebliche Glückssträhne gab es keine Zeugen. Und von der Spielbank selbst kriegst du über Gewinne oder Verluste ja keine Auskunft.«

»Wenn ihm das klar war, wäre das ein ziemlich geschicktes Alibi«, fand Radegast. »Dann wäre er alles andere als naiv. In dem Fall hätte er die Sache ordentlich durchgeplant.«

Annekatrin Struve schüttelte den Kopf.

»Schiller ist kein Planer. Sein Überfall war eine Schnapsidee.«

»Die einen Juwelier das Leben gekostet hat.«

»Und Roland Schiller ein paar Jahre seines Lebens, plus seine Firma und auch seine Ehe. Im Grunde ist er ein armer Kerl. Ich habe versucht, ihm Brücken zu bauen: wie ein Geständnis sich positiv auf das Strafmaß auswirken würde und so weiter. Aber er hat nicht gestanden. Im Prozess habe ich dann meine Ermittlungsergebnisse vorgetragen. Die Staatsanwaltschaft hat sie sich zu eigen gemacht, und das Gericht ist der Argumentation des Staatsanwalts gefolgt. Ganz einfach – vier Jahre.«

»Dann hat er jetzt vermutlich etwas Nachlass wegen guter Führung bekommen.«

»Ich gönn’s ihm«, sagte Struve. »Auch wenn er mich umbringen wollte.«

»Wann?« fragte Radegast. Er hatte von Anfang an geahnt, dass Struves Geschichte ein dickes Ende hatte.

»Nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Er hat getobt.«

Struve lächelte.

»Ich übersetze jetzt mal: Sobald er raus sei, werde er mich persönlich zur Rechenschaft ziehen.«

Radegast schüttelte den Kopf.

»Eine explizite Drohung. Und du findest das offenbar lustig.«

»Ach, Fabian, du kennst Schiller nicht. Das war seine Wut über das Urteil, seine Enttäuschung. Er könnte so was gar nicht. Selbst wenn er wollte.«

»Ich werde es nicht darauf ankommen lassen, dass er dir das Gegenteil beweist«, erklärte Radegast.

»Aye, aye, Sir. Aber was heißt das jetzt konkret? Habe ich Hausarrest, oder kriege ich Personenschutz?«

Jetzt musste Radegast lächeln.

»Sei einfach vorsichtig. Und lass es einen von uns wissen, bevor du irgendwo allein hingehst.«

»Ja«, sagte Struve, schaltete ihren Rechner aus und stand auf. »Ich gehe jetzt runter zum Bäcker und hole mir ein belegtes Brötchen. Ich bin heute früh mit leerem Magen aus dem Haus. Kommst du mit?«

Zehn Minuten später gingen beide über den Fußgängersteg zum Hafengelände. Der Bäcker in der Fußgängerzone war von einer Schülergruppe auf Klassenfahrt umlagert gewesen. Und sie hatte plötzlich sowieso mehr Appetit auf ein Fischbrötchen.

»Übrigens«, sagte sie zu Radegast, »danke noch mal, dass du heute Morgen für mich eingesprungen bist.«

Und weil Radegast schwieg, hängte sie noch so etwas wie eine Erklärung an.

»Ich hatte einen Termin, der länger gedauert hat. Länger als erwartet.«

Radegast sah sie von der Seite an.

»Einen Termin? Morgens um halb acht?«

Annekatrin schaute weiter geradeaus, vorbei am Ozeaneum, über das Hafenbecken weit in Richtung Rügen.

»Mein Termin war um 6.15 Uhr. Wir dachten, ich bin rechtzeitig fertig.«

Radegast hatte den Eindruck, als wenn sie dabei war, ihre gewohnte Selbstsicherheit zu verlieren. Ihr angestrengter Blick, ihre Kopfhaltung, das leichte Zögern in ihrer Stimme, das kannte er kaum an ihr. Automatisch fragte er sich, ob er wegen einer unbedacht gemachten Bemerkung dafür verantwortlich war. Gerade als er sie fragen wollte, drehte sie den Kopf und sah ihn an. Trotzig und selbstbewusst.

»Ich war heute Morgen in Greifswald, in der Uniklinik. Höchstwahrscheinlich ist es nichts Ernstes. Aber bevor das feststeht, wäre es nett, wenn du es für dich behältst. Ich möchte jetzt nicht …«

Sie ließ den Satz in der Schwebe, ihre ungewohnte Unsicherheit war jetzt offensichtlich.

Fabian Radegast war stehengeblieben, Annekatrin Struve auch. Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte er leise in das dunkle Gewuschel ihrer Haare.

»Ja, ich weiß, danke.«

Sie machte einen Schritt zurück und lächelte Radegast tapfer an.

»Bei der letzten Vorsorgeuntersuchung hat meine Hausärztin etwas an meiner Lunge gefunden. Und die Laborwerte waren auch nicht ganz in Ordnung. Also hat sie mich zum Röntgen geschickt, weil ich im Frühjahr diesen hartnäckigen Husten hatte. Die Bilder waren aber nicht eindeutig.«

Annekatrin zögerte erneut, bevor sie weiterredete.

»Das heißt, sie haben nur nicht eindeutig gezeigt, dass da nichts ist. Also hat meine Ärztin mich zum CT geschickt. Und Dampf gemacht. Normalerweise wartest du mindestens vier Wochen auf einen Termin. Aber sie kennt einen Spezialisten an der Uniklinik in Greifswald, und der hatte extra für uns einen blockiert. Den heute früh um 6.15 Uhr. Aber als wir ankamen, gab es irgendeinen Notfallpatienten. Und als ihr dann angerufen habt, lag ich noch in der Röhre. Keine Chance zu telefonieren.«

Annekatrin Struve setzte versuchsweise noch einmal ihr trotziges Lächeln auf.

»Und …«, sagte Radegast und musste sich erst einmal räuspern, »und was ist dabei rausgekommen?«

»Noch nichts. Ergebnisse gibt es frühestens am Freitag. Eventuell muss ich dann auch noch mal hin.« Sie machte eine Pause. »Tut mir leid. Wahrscheinlich hätte ich vorher mit dir darüber reden sollen.«

»Quatsch«, sagte Radegast. »Hör bitte auf, dir Vorwürfe zu machen.«

Sie waren am Stand mit den Fischbrötchen angekommen. Annekatrin bestellte sich eins mit Makrele, Radegast schloss sich an.

Rauch auf Rügen

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