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FÜNF

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Fabian Radegast stellte seinen Wagen auf dem Hof des Polizeikommissariats Stralsund ab. Annekatrin Struve hatte ihn vor zehn Minuten am Tatort im Strelapark abgelöst. Sachlich und selbstbewusst wie immer. Und ohne ein Wort über ihre Verspätung zu verlieren. Blass war sie Radegast vorgekommen, aber vielleicht lag das nur an dem mintgrünen Shirt, das sie heute zu einem kurzen Tigerrock und braun-grün geringelten Pipi Langstrumpf-Leggings trug.

Natürlich hätte Radegast gerne gewusst, warum sie nicht erreichbar gewesen war. Aber da sie es nicht von sich aus ansprach, hatte er es dabei belassen. Zumal Vogelsang und die Spurensicherung ständig um sie herum wieselten. Natürlich hatte er als Chef nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich um die Belange seiner Mitarbeiter zu kümmern, aber in diesem Fall hatte das wohl Zeit. Und außerdem, erinnerte er sich gerade, hatte er heute eigentlich dienstfrei. Radegast steckte die Autoschlüssel weg und ging auf das Dienstgebäude zu.

Da fiel ihm Maike ein. Maike Boysen, eine Freundin von früher. Einen Sommer lang waren sie ein Paar gewesen, ein hübsches Paar, hatten alle gesagt. Aus Gründen, über die er heute nicht mehr nachdenken mochte, waren sie auseinandergegangen. Maike hatte irgendwo studiert, und er war nach seiner Ausbildung in Cuxhaven gelandet. Erst im letzten Jahr hatten sie sich zufällig wiedergetroffen. Maike arbeitete inzwischen als Eventmanagerin mit einer eigenen Agentur hier in Stralsund. Sie hatten sich ein paar Mal für eine Pizza und ein Glas Wein zusammentelefoniert, und bei so einer Gelegenheit hatte Radegast Maike zu sich eingeladen, in sein Haus nach Altefähr. Das kannte sie noch nicht. Ihm schien, Maike hatte sich über die Einladung gefreut. Aber dann war immer wieder was dazwischengekommen. Wie das so ist bei zwei berufstätigen Menschen, deren Jobs keine geregelten Bürozeiten kennen.

Aber heute war der Termin, der beiden gepasst hatte, am Abend so gegen halb acht. Radegast schaute auf seine Uhr und dann zu seinem Fenster hoch. Jetzt war es kurz vor neun Uhr und Dienstag, das hieß, der Wochenmarkt war schon im Gange. Radegast ging zurück zu seinem Wagen, nahm den alten Korb aus dem Kofferraum und verließ den Hof. Er nahm den Weg über den Frankenteich und die Marienkirche zum Neuen Markt und ging dabei zügig. Um diese Zeit kam er hier noch gut vorwärts und traf sogar ein paar bekannte Gesichter. Man grüßte sich im Vorbeigehen. Weiter vorne begann die Fußgängerzone. Normalerweise konnte Radegast Fußgängerzonen nicht so viel abgewinnen. In anderen Städten, die er kennengelernt hatte, wirkten sie entweder steril oder ramschig.

Aber hier in Stralsund hatte man das irgendwie hingekriegt, dachte er. Eine vernünftige Mischung aus Geschäften, die es schon zu seiner Schulzeit gegeben hatte, und den üblichen Drogerie-, Telefon- und Modeketten, ohne die es heute wohl nicht mehr ging. In den oberen Stockwerken der Häuser gab es ein paar Arztpraxen und Anwaltskanzleien, aber vor allem Wohnungen. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass er sich hier wohlfühlen konnte. Und die morgendliche Sommersonne, die ihm im Augenblick auf den Rücken brannte.

Auf dem Gehsteig neben der Marienkirche war eine Stadtführung stehengeblieben. Die Gruppe bestand aus ungefähr zehn Menschen, die in die Luft guckten und dabei den Worten ihres Stadtbilderklärers lauschten:

»… ist heute nur noch 104 Meter hoch. Aber bis zu einem Blitzeinschlag im Jahre 1647 war Sankt Marien zu Stralsund mit ihrem 151 Meter hohen gotischen Spitzturm für fast hundert Jahre das höchste Bauwerk der Welt.«

Mehr konnte Radegast nicht aufschnappen, während er um die Ausläufer der Gruppe herummanövrierte und Entgegenkommern auswich. Er wollte gerade die Fahrbahn überqueren, als er hinter sich eine Frauenstimme hörte.

»Fabian? Mensch, Fabian, du bist meine Rettung.«

Radegast blieb stehen, drehte sich um und schaute in das leicht gerötete Gesicht von Laura Henning, Oles Ehefrau und Janas Mutter.

»Ich weiß«, zwinkerte Radegast ihr zu, »das sagen sie alle. Wo brennt’s denn, Laura?«

»Kannst du mir vielleicht 100 Euro leihen? Ich habe gerade festgestellt, dass ich meine Karte zuhause vergessen habe. Und auf der Post liegt eine Nachnahmesendung für Jana, die ich bezahlen muss.«

»Klar doch.«

Radegast zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.

»Schickes Sweatshirt«, sagte Laura, während Radegast seine Scheine inspizierte. »Neu?«

»Ja. Ole nennt es den Picasso-Pulli«, erklärte Radegast und schüttelte den Kopf. »Ich habe nur noch vierzig und ein paar Münzen. Aber komm, ich will sowieso zum Markt. Da ist ein Automat.«

»Ich gebe es dir heute Abend wieder, danke.«

Laura überquerte mit ihm die Fahrbahn.

»Da nich für«, sagte Radegast.

Als er drei Minuten später vom Geldautomaten auf den Neuen Markt kam, hatte er noch keine Ahnung, was er für Maike kochen sollte. Er würde sich inspirieren lassen: junge Kartoffeln, Zwiebeln und Möhren, Zucchini. Vorneweg grünen Salat, für den musste er jetzt anstehen. Zitrone und saure Sahne für die Salatsoße hatte er noch zuhause. Und als Hauptgang würde es Fisch geben. Den konnte er aber auf dem Heimweg unten am Hafen holen, direkt vom Kutter. Radegast suchte einen schönen Salatkopf aus, bezahlte ihn und legte ihn obenauf in seinen Korb.

Als er sich umdrehte, stieß er fast mit einer jungen Frau zusammen, großgewachsen, hübsch, eine Asiatin. Während sie beide zurückwichen und er jemanden streifte, der hinter ihm angestanden hatte, schaute die Frau ihn erschrocken an. Und dann lächelte sie schüchtern. Das gefiel Radegast, er nahm den Korb auf die andere Seite und lächelte zurück. Im Weggehen drehte er sich noch mal nach ihr um: Sie entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Offenbar war sie allein hier. Und ohne Fotoapparat. Kaum war ihm dieser Gedanke bewusst geworden, rief Radegast sich selbst zur Ordnung. Asiaten treten grundsätzlich in Gruppen auf und knipsen alles, was ihnen vor die Linse kommt. Das war genau die Art von Vorurteil und Voreingenommenheit, die er seinen Mitarbeitern immer wieder vorhielt. Zufrieden mit sich und seinen Einkäufen, machte Radegast sich auf den Rückweg.

Kurz bevor er den Markt verlassen wollte, entdeckte er an einem Stand noch Süßkirschen. Die ersten dieses Sommers. Davon würde er auch noch eine Tüte mitnehmen. Er ließ sich ein gutes Pfund abwiegen und griff nach hinten zu seinem Portemonnaie. Es war weg!

Radegast tastete alle seine Taschen ab, schaute auch unter die Einkäufe in seinem Korb. Das Portemonnaie blieb verschwunden. Er ließ die Kirschen da. Wider besseres Wissen ging er noch einmal zu allen Ständen zurück, an denen er eingekauft hatte. Natürlich ohne Ergebnis. Radegast war längst klar: Man hatte ihn beklaut.

»Donnerlüttchen«, sagte Joachim von Plessen, der neben Radegasts Schreibtisch an der Fensterbank lehnte. »Einem Kriminalbeamten das Portemonnaie stante pede aus der Kledage zu entwenden, das entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit.«

»Aus der Gesäßtasche, hier«, sagte Radegast und zeigte auf seine Jeans. Die leicht verschrobene Ausdrucksweise seines jungen Kollegen fiel ihm oft gar nicht mehr auf. »Und dass ich Polizist bin, sieht man mir ja nicht an. Hoffe ich.«

»Aber als Polizist weißt du, dass die Geldbörse da nicht hingehört. Am besten aufgehoben ist sie in einer Innentasche, möglichst mit Reißverschluss«, mischte sich Hella Binder ein, die im Türrahmen erschien.

»Ich habe aber keine Innentasche.«

Das klang gereizter, als Radegast es meinte. Deshalb versuchte er einzulenken.

»Aber nach dieser Erfahrung werde ich mir sowas vielleicht zulegen.«

»Falls es dich tröstet, Chef: Du bist nicht das einzige Opfer.«

Sie legte einen Zettel auf Radegasts Schreibtisch.

»Das hier haben die uniformierten Kollegen aufgenommen.«

»Nee«, sagte Radegast, »das tröstet mich überhaupt nicht.«

Er warf einen Blick auf den Zettel, Joachim von Plessen trat hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.

»Fünf Taschendiebstähle in Stundenfrist, samt und sonders auf dem Neuen Markt. Es hat den Anschein, als würde da ein manuell sehr geschickter Fachmann seiner Profession nachgegangen sein. Beziehungsweise sein Unwesen getrieben haben.«

»Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen«, vermutete Hella wahrscheinlich zu Recht. »Nicht jeder bringt sowas zur Anzeige. Unser Chef ist das beste Beispiel dafür.«

»Hier«, sagte Radegast und gab von Plessen den Zettel. »Dein Fall. Bring diesen Fachmann zur Strecke. Und jetzt bitte raus hier. Ich muss die gestohlenen Karten sperren lassen und so weiter.«

»Ich gelobe, mein Bestes zu tun«, sagte Joachim von Plessen, »aber, Chef, ich brauche dann baldmöglichst Ihre Anzeige bezüglich des Taschendiebstahls.«

»Raus«, sagte Radegast, »und Tür zu.«

Als von Plessen gegangen war, machte Radegast im Kopf schnell Inventur des entwendeten Portemonnaie-Inhalts. Von den 150 Euro, die er vorhin abgehoben hatte, hatte er Laura 100 geliehen, blieben 50, minus die Einkäufe vom Markt plus die 40 Euro, die ursprünglich noch im Portemonnaie waren. Ein Verlust von ungefähr 70 Euro plus Münzen, dazu vier oder fünf Karten, zum Glück nichts Dienstliches. Seine EC-Karte war das Wichtigste, die musste er sperren lassen. Er wählte zweimal die 116, als das Telefon auf Struves Schreibtisch klingelte. Radegast legte den Hörer wieder auf und machte sich lang, um das andere Telefon zu erreichen.

»Kriminalpolizei Stralsund, Radegast.«

»Moin, Kollege. Färber aus Greifswald. Ist Annekatrin Struve zu sprechen?«

»Nee«, sagte Radegast, »im Moment nicht. Soll ich was ausrichten?«

Färber zögerte etwas, bevor er fortfuhr.

»Bestell ihr bitte, dass Roland Schiller wieder draußen ist. Schiller wie Goethe, dann weiß sie schon. Und liebe Grüße. Tschüss.«

Der Kollege aus Greifswald hatte aufgelegt. Radegast wusste, dass Annekatrin dort vor ihrer Zeit in Stralsund Dienst getan hatte. Aber der Rest war für ihn ein einziges Fragezeichen. Noch eins.

Rauch auf Rügen

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