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DREI

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Roland Schiller packte ein paar persönliche Gegenstände in seine Reisetasche. Viel war es ja nicht. Aber er stand vor dem Schritt in ein anderes Leben. Vor dem Schritt zurück in sein altes Leben, hätte er früher gedacht. Aber Oliver hatte ihm klargemacht, dass es ein Zurück nicht gab. Gar nicht geben konnte. Oliver war sein Freund. Und in Schillers neuem Leben würden sie Partner sein. Der Gedanke daran beruhigte ihn und machte ihn sogar irgendwie froh.

Als Schiller die Tür seines Spinds zudrückte – zum letzten Mal! –, waren die Bilder aus seinem Traum wieder da. Der Traum mit dem toten Schaf und der Polizistin. Er hatte lange nicht mehr von Annekatrin Struve geträumt. Und noch nie so deutlich und so konsequent. In seinem ersten Jahr hier in der JVA war sie ihm öfter im Schlaf begegnet, meist in irgendwelchen Verkleidungen. Oft hatte er erst nach dem Aufwachen begriffen, dass die eine oder die andere Frau in seinem Traum in Wahrheit die Polizistin war. Und es war in diesen Träumen nie so weit gekommen, dass er sie umgebracht hatte. Obwohl es diesen Wunsch auch damals gegeben hatte. Immer schon gab. Seit er sie kannte.

»Na, jetzt gib dir mal ’n Ruck.«

Roland Schiller dreht sich um. Oliver Harms grinste ihn an.

»Oder möchtest du doch noch ein paar Monate bleiben?«

»Nee, danke«, sagte Schiller, »lieber nicht.«

Harms wuchtete sich von seiner Pritsche hoch, machte zwei Schritte bis zur Tür und schlug gegen die Essensklappe.

»Hallo, Bedienung! Der Gast hier will gehen.«

Schiller lachte pflichtschuldig. Obwohl Oliver nur ein knappes Jahr älter war als er, bestand zwischen ihnen so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Oliver hatte sich vom ersten Tag an für ihn verantwortlich gefühlt, dem Tag nach Schillers Suizidversuch. Die Anstaltsleitung hatte ihn zu Oliver Harms in die Zelle verlegt. Und Oliver war Schillers Aufpasser geworden. Derjenige, der sagte, wo’s langging, der wusste, wie’s zu laufen hatte.

Im Unterschied zu Schiller war Oliver Harms ein richtiger Straftäter. Er saß nicht zum ersten Mal in einer JVA und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Das sagte er selbst. Aber vielleicht war das auch nur einer von seinen Sprüchen. Auf jeden Fall war er im Unterschied zu Schiller auch ein Menschenkenner. Und jemand, der zuhören konnte. Wenn Schiller ihm in langen Nächten von seinem Prozess erzählt hatte und von der Rolle, die Annekatrin Struve dabei gespielt hatte, war Harms nicht nur der aufmerksamste Zuhörer gewesen, den man sich wünschen konnte, er hatte seinem Zellengenossen auch klargemacht, dass der diese Polizistin vergessen musste. Sonst würde ihn das nämlich krank machen. Hier drin wären ihm doch die Hände gebunden. Dann hatte Harms ihm gezeigt, wie man bestimmte Gedanken zwar nicht auslöschen, aber zumindest vorläufig verschwinden lassen konnte. Man musste sie nur in eine Tasche packen. Richtig einpacken, am besten noch ein Handtuch drauf, dann Reißverschluss zu und ab damit oben auf den Spind. Mit ein bisschen Übung hatte das sogar funktioniert.

Jetzt allerdings stand Schillers Tasche hier vor ihm auf der Pritsche. Er zog den Reißverschluss zu. Dann hörte er den Schlüssel im Schloss. Die Tür schwang auf, und Justizsekretär Eggers streckte sein blasses Jungengesicht in die Zelle.

»Na, Herr Schiller? Bereit zum Abflug?«

»Ja, bin ich.«

»Fast«, korrigierte Harms seinen Freund. »Geh doch kurz noch mal raus, Eggers. Was jetzt kommt, das ist privat.«

Eggers zog seinen Kopf zurück. Die Tür blieb angelehnt.

Oliver Harms kam auf Roland Schiller zu und nahm ihn zwischen seine kräftigen Arme.

»Pass auf dich auf, mein Junge. Denk ab und zu mal an mich. Und vor allem: Bau keinen Scheiß.«

Seine Stimme war dabei so laut, dass sie sicher noch drei Zellen weiter zu hören war.

»Nein«, sagte Schiller nicht halb so laut, »mach’ ich schon nicht.«

»Du wirst mir fehlen, Kleiner!«

Schiller wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Und plötzlich war Olivers Mund ganz nah an seinem Ohr und seine Stimme nur ein Flüstern.

»Lass die Polizistin da in deiner Tasche. Reißverschluss zu. Und grüß meine Michaela.«

»Okay«, flüsterte Schiller zurück.

»Wenn du willst«, flüsterte Harms weiter, »gib ihr einen Kuss von mir.«

Und dann, bevor Schiller antworten konnte, ertönte wieder seine Dröhnstimme.

»So, Eggers, nu’ können wir.«

Die Tür ging wieder auf, Eggers machte eine übertrieben einladende Geste, und Schiller streifte sich den Gurt seiner Reisetasche über die Schulter. Als er die Zellentür fast erreicht hatte, klatsche Harms ihm seine rechte Pranke auf den Hintern.

»Ab dafür!«

Kurz darauf trat Roland Schiller vor die Pforte der Justizvollzugsanstalt Bützow und blinzelte in die Sonne. Obwohl die Ostsee bestimmt zwanzig Kilometer weit weg war, konnte er sie riechen. Und er schmeckte die Mischung aus Seetang und Salz auf seinen Lippen. Schiller schossen Tränen in die Augen, er konnte nichts dagegen machen. Das waren wohl Freudentränen. Er wischte sie weg und schaute auf den Zettel, den man ihm zusammen mit den Fahrkarten gegeben hatte. Gegenüber fuhr der Bus nach Schwaan, dort konnte er den Zug nach Stralsund nehmen, und in etwas mehr als zwei Stunden würde er in seinem Haus in Zirkow sein. Zurück in seinem neuen Leben. Das erste Mal nach dreieinhalb Jahren. Dreieinhalb Jahre. Für etwas, das er nicht getan hatte. Für etwas, das diese Annekatrin Struve ihm angehängt hatte. Schiller spürte, wie die Wut in ihm hochkam. Und alle hatten ihr geglaubt. Die Wut war jetzt so weit oben, dass Schiller dreimal laut ›Scheiße‹ brüllen musste. Dann nahm er seine Tasche von der Schulter und zog den Reißverschluss noch einmal auf und wieder fest zu. Obwohl er schon ganz geschlossen gewesen war. Schiller nahm die Tasche erneut auf die Schulter, als er sah, wie ein Bus an die Haltstelle rollte. Er winkte und musste ein paar Schritte rennen, um dem Busfahrer klarzumachen, dass er mitfahren wollte.

Rauch auf Rügen

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