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ZWEI

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»Morgens siehst du aus wie der junge Sterling Hayden.«

Fabian Radegast schaute in den Spiegel und musste schmunzeln. Diesen Satz hatte Roswita gesagt, die Buchhändlerin aus Cuxhaven, mit der er vor ein paar Jahren eine Beziehung gehabt hatte. Mit dem Namen Sterling Hayden konnte er damals nichts anfangen. Aber er klang wenigstens gut. Später hatte Radegast gegoogelt und herausgefunden, dass Hayden ein Hollywoodschauspieler der 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war. Auf den Fotos im Netz hatte er wenig Ähnlichkeit mit sich gefunden, abgesehen von dem langen, hohen Gesicht, den meistens zusammengekniffenen dunkelbraunen Augen und dem sonnengebleichten Strubbelhaar. Aber dann hatte Radegast gelesen, dass Sterling Hayden vor und nach seiner Hollywoodkarriere ein mit allen Salzwassern gewaschener Segler gewesen war. Und ein Mann, der sich von nichts und niemandem Vorschriften machen ließ. Da hatte ihm Roswitas Vergleich dann doch gut gefallen.

Fabian Radegast spülte den Rasierer ab und wusch sich die Schaumreste aus dem Gesicht. Dann zog er die Boxershorts aus, in denen er im Sommer schlief, und trat unter die Dusche. In diesem Moment klingelte sein Smartphone auf der Fensterbank. Radegast zögerte. Er hatte dienstfrei, sollte wenigstens ein paar von seinen Überstunden abbummeln. Freizeitausgleich. Den wollte er nutzen und nach dem Frühstück mit seinem Freund und Nachbarn Ole Henning die Maschine ihres Segelboots reparieren. Aber vielleicht war Ole was dazwischengekommen. Als Radegast nach seinem Telefon griff, sah er durchs Fenster, dass Ole an Deck der Colin Archer schon mit irgendwas zugange war. Radegast nahm das Gespräch an.

»Moin, Kollege. Polizeiobermeister Vogelsang. Direktion 4.«

»Ja, moin, was gibt’s denn?«

»Wir sind hier im Einkaufszentrum Strelapark. Es wurde wieder ein Geldautomat gesprengt. Diesmal von der Pommerschen Volksbank. Keine Personenschäden, aber der Sachschaden ist heftig.«

»Okay«, sagte Radegast. »Aber da solltet ihr die Kollegin Struve anrufen. Die ist an der Sache dran. Und ich bin heute dienstfrei.«

»Ist schon klar. Haben wir ja auch«, entgegnete Vogelsang. »Aber die Kommissarin Struve ist nicht erreichbar. Nicht mobil und auch nicht übers Festnetz.«

Radegast überlegte. Es war jetzt etwa 7.30 Uhr.

»Wahrscheinlich fährt sie gerade durch ein Funkloch. Versucht es in drei Minuten noch mal.«

»Wir haben es schon seit zehn Minuten bei ihr versucht.«

Vogelsang klang jetzt etwas patzig.

»So groß ist doch kein Funkloch. Nicht mal in Vorpommern.«

»Gut«, sagte Radegast. »Ich komme rüber. Bis gleich.« Radegast duschte und zog sich dann an. Das war der sechste oder siebte Geldautomat in diesem Jahr. Immer die gleiche Methode: Die Täter leiteten Gas in das Gehäuse eines Bankautomaten, suchten Deckung und brachten das Gas zur Explosion. Dann hofften sie, dass ihnen die Kassette mit den Geldscheinen direkt vor die Füße fiele. Was sie meistens nicht tat. Die Summen, die die Täter tatsächlich erbeuteten, waren Peanuts, verglichen mit den Schäden, die sie dabei anrichteten.

In einem Fall war das Gebäude, in dem sich der Geldautomat befunden hatte, so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass die Bauaufsicht es sperren lassen musste. Schließlich hatte man es ganz abgerissen.

Die Kollegin Annekatrin Struve hatte sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit in die Sache reingekniet. Sie hatte Täterprofile entworfen, potenziell gefährdete Automatenstandorte identifiziert und inzwischen sogar so etwas wie einen Rhythmus der Täter herausgearbeitet. Die vorletzte Sprengung hatte sie fast auf den Tag genau vorhergesagt. Sie war deswegen mit ein paar Kollegen nächtelang auf Streife gewesen. Aber in jener Nacht hatten die Täter weiter weg zugeschlagen, in der Nähe von Greifswald. Radegast fragte sich, ob Annekatrin Struve vielleicht auch die Sprengung der letzten Nacht vorhergesehen hatte. Und sich dann allein auf die Lauer gelegt? Am Ende sogar am richtigen Automaten?

Radegast schüttelte den Kopf. Annekatrin hatte zwar manchmal schräge Einfälle, aber sie war ja nicht tollkühn. Oder blöd. Es musste einen anderen Grund geben, dass sie nicht erreichbar war.

Fabian Radegast zog sein weißes Sweatshirt mit den dunkelblauen Querstreifen über den Kopf und trat ins Freie. Der Rasen hinter seinem Haus, das früher mal eine Bootsremise gewesen war, fiel zum Meer hin leicht ab. Das Gras unter seinen nackten Füßen war noch taunass. Vom ziegelroten Nachbarhaus, der Bürgermeisterei von Altefähr, kam eine fröhliche Mädchenstimme.

»Hallo Fabian, moin!«

Er drehte sich um. Jana Henning winkte von der Terrasse, während sie sich aus ihrem Neoprenanzug schälte.

»Moin, Jana«, rief Radegast. »Warst du etwa schon draußen?«

»Klar«, erwiderte Jana. »Diesen Wind muss man ausnutzen. Du auch.«

Ja, schön wär’s, dachte Radegast und schaute übers Wasser. Drei bis vier Beaufort aus Ostsüdost. Würde bald wahrscheinlich noch etwas zulegen. Er dreht sich zu Jana um und beließ es bei einem wortlosen Winken. Jana, die Tochter von Ole und Laura Henning, war jetzt fast dreizehn. Schon als Fünfjährige war sie mit ihrem Vater und Radegast mitgesegelt. Vor kurzem hatte sie dann neben ihrer Schule in kurzer Reihenfolge alle notwendigen Segelscheine gemacht und ihre Begeisterung fürs Regattasegeln entdeckt.

Um nicht länger auf irgendwelche Mitsegler angewiesen zu sein, hatte sie sich für eine Einmannjolle entschieden, ein wassergängiges Turngerät namens Laser. Damit war sie inzwischen so erfolgreich, dass sie gute Chancen hatte, am Sportinternat des Olympiastützpunkts in Kiel-Schilksee angenommen zu werden. Nur ihre Mutter, die als Hebamme arbeitete, musste noch überzeugt werden.

Fabian Radegast hatte den Bootssteg erreicht, an dem die Colin Archer lag, die Ole und er gemeinsam gekauft hatten. Ein historisches Schiff, das sie nach und nach restaurierten. Oles Kopf tauchte aus dem Luk über dem Niedergang auf, ein fingerbreiter Schmier von Motoröl über seiner rechten Augenbraue.

»Na?«

»Na?«, gab Radegast zurück.

Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und machten nie mehr Worte als nötig. Besonders morgens nicht. Aber Radegast musste seinem Freund jetzt erklären, dass er sich heute erst mal doch nicht ums Schiff kümmern konnte. Ole Henning kam ihm zuvor.

»Sieht aus, als müsstest du weg.«

»Wieso?«, fragte Radegast, ehrlich überrascht.

»Dein neuer Picasso-Pulli. Den ziehst du doch nicht an, wenn du mit mir die Maschine auseinandernimmst.«

»Stimmt. Leider«, sagte Radegast. »Dienstlich.«

»Na denn«, sagte Ole, »bis später.«

Statt einer Antwort legte Radegast die gestreckte rechte Hand an einen imaginären Mützenschirm und zwinkerte seinem Freund zu. Dann drehte er sich um und ging. Nach ein paar Schritten fiel ihm ein, dass er diese Geste neulich in einem alten Film gesehen hatte. Sterling Hayden spielte in ihm einen Kleinstadtpolizisten, der dem amerikanischen Präsidenten das Leben rettet. Einem weisen und sympathischen Präsidenten.

Knapp dreißig Minuten später stand Fabian Radegast im Strelapark vor den Trümmern eines Geldautomaten. Unterwegs im Auto hatte er selbst versucht, Annekatrin zu erreichen. Nach dem dritten Rufton war ihre Mailbox angesprungen. Daraufhin hatte er in der Dienststelle angerufen. Hella Binder, die eigentlich immer alles wusste, war überfragt. Aber sie hatte Radegast mit einem deutlichen Unterton von Besorgnis versprochen, sie werde es weiter versuchen.

Radegast drehte sich um. Polizeiobermeister Vogelsang und ein Kollege passten auf, dass niemand über das Flatterband stieg, das die beiden großzügig um den Tatort gespannt hatten. Aber da die meisten Läden hier erst um neun oder zehn aufmachten, gab es niemanden, der die Absperrung überwinden wollte. Außer den beiden Spezialisten der Kriminaltechnischen Untersuchung mit ihren weißen Anzügen und den Technikkoffern. Nachdem Radegast sie begrüßt hatte, ging er zu Vogelsang.

»Wann war die Explosion?«

»Schwer zu sagen«, meinte Vogelsang. »Hat wohl niemand gehört.«

»Bei dem Wums?«

Radegast schaute sich um.

»Da müssen doch sämtliche Alarmanlagen im Umkreis von fünfhundert Metern angegangen sein.«

Vogelsang zuckte mit den Schultern und zog seinen Block aus der Tasche. »Der Anruf kam um 6.28 Uhr von einer Arzthelferin, die bei einem Ohrenarzt hier im Gebäude arbeitet«, sagte er. »Wollen Sie sie befragen?«

»Später«, sagte Radegast und stieg über das Flatterband. »Und stellen Sie bitte die Aufnahmen der Überwachungskameras sicher.«

»Kameras?«

Vogelsang drehte sich um.

»Also, ich seh’ hier gar keine. Und das Ding aus dem Geldautomaten dürfte ja wohl hin sein.«

»Es gibt überall Kameras«, beharrte Radegast. »Zum Beispiel an der Tankstelle da drüben. Oder am Supermarkt an der Ecke, Sie sammeln bitte alles ein, was Sie finden können.«

Vogelsang setzte ein mürrisches Gesicht auf. Radegast überlegte, ob und wie er darauf reagieren sollte, als sein Smartphone klingelte.

»Ja, Hella?«

»Immer noch nichts von Annekatrin«, sagte sie. »Aber Joachim ist gerade zurückgekommen. Er war bei ihr zuhause und hat geklingelt. Niemand da. Jetzt ist die Frage, was wir unternehmen sollen. Ob wir die Haustür öffnen lassen …«

»Ihr unternehmt bitte nichts. Sowie ich hier fertig bin, komme ich rein.«

Fabian Radegast drehte sich nach Polizeiobermeister Vogelsang um, der langsam in Richtung Tankstelle schlenderte. Die Bewachung des Flatterbandes hatte er seinem Kollegen überlassen. Die Spurensicherer bewegten sich wie in Trance durch das Trümmerfeld des gesprengten Geldautomaten. Sie stellten Täfelchen auf, legten Maßstäbe aus und begannen ihre Fotos zu machen.

Radegast wusste aus Erfahrung, dass die KTU-Leute noch einige Zeit benötigen würden, und seine Gedanken kehrten zu Annekatrin zurück. Angenommen, ihr wäre tatsächlich etwas zugestoßen in ihrer Wohnung, käme es dann jetzt nicht auf jede Minute an? Er verwarf den Gedanken. Sie war verheiratet. Glücklich verheiratet. Also hätte ihr Mann längst Hilfe geholt. Es sei denn, er konnte es auch nicht. Ein defekter Gasboiler oder so etwas Ähnliches? Radegast hatte die Handynummer von Hartmut Struve nicht. Aber er war sicher, dass Hella sie kannte.

In derselben Sekunde, als Fabian Radegast das Telefon aus seiner Hosentasche ziehen wollte, klingelte es. Ihre Nummer. Er drückte die grüne Taste.

»Mensch, Annekatrin, wo steckst du denn? Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte sie. »Alles in Ordnung.«

»Und wo bist du?« frage Radegast.

»Unterwegs zu euch.«

Bevor Radegast sich erkundigen konnte, warum sie die ganze Zeit vorher nicht ans Telefon gegangen war, hatte Annekatrin schon wieder aufgelegt. Er fragte sich, ob er sich darüber ärgern sollte. Aber er war einfach nur erleichtert. Ehrlich erleichtert.

Rauch auf Rügen

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