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Niklas Lenz war ausgestiegen und dirigierte das Wohnmobil mit großen Armschwüngen auf den Standplatz der Wohnmobil-Oase Prora, den man ihnen zugewiesen hatte. Marvin hinter dem Steuer schaute beim Rückwärtsfahren in die Außenspiegel, mal rechts, mal links.

»Wink du nur. Ich fahre so, wie ich will«, sagte er zu seinem Bruder, der ihn wegen der geschlossenen Fenster aber nicht hörte. Was gut war, wie Danbi fand. Sie konnte es nicht leiden, wenn die beiden stritten. Sie blickte durch das Heckfenster: Ein großer, teilweise asphaltierter Platz, begrenzt von einem kleinen Wäldchen, sonst nichts als Campingfahrzeuge. Marvin Lenz stellte den Motor ab, zog die Handbremse und stieg aus, um das Bordnetz des Wohnmobils mit dem Platzstrom zu verbinden. Von der Beifahrerseite stieg Niklas Lenz wieder ein, kletterte auf seinen Sitz und drehte sich zu Danbi um. Sie wusste, was jetzt folgte, und kam ihm zuvor.

»Uhrvergleich«, lächelte sie und warf einen Blick auf das Display ihres Smartphones. »13 Uhr, 43 Minute.«

»Es heißt Minuten und Uhrenvergleich«, korrigierte Niklas. »Und bei mir ist es fünfundvierzig.«

»Minuten«, sagte Danbi.

»Okay.«

Niklas seufzte.

Marvin hatte alle Leitungen angeschlossen, kam zurück und schaute seinen Bruder erwartungsvoll an.

»Treffpunkt 16 Uhr exakt am Beachvolleyball-Stadion. Bambi geht zu Fuß, du nimmst den Bus, und ich gönne mir ein Taxi«, erklärte Niklas Lenz.

»Nein, ich auch Bus«, protestierte Danbi.

»Hör zu, Kleines«, sagte Marvin geduldig und blickte zu ihr hoch, »wenn wir arbeiten, dann kennen wir uns nicht, dann sprechen wir uns nicht und lassen uns auch nicht zusammen blicken.«

»Ich habe verstanden«, erklärte Danbi. »Aber vielleicht andere Bus? Nicht deiner.«

»Ende der Diskussion«, sagte Niklas. »Du läufst. Damit du was von Deutschland siehst.«

Er drehte sich zu seinem Bruder um.

»Steig aus. Sie will sich umziehen.«

Die Lenz-Brüder verließen das Wohnmobil, und Danbi zog rundherum die Vorhänge zu. Dann öffnete sie den eingebauten Schrank, in dem ihre Garderobe hing. Niklas und Marvin lebten zum Glück aus ihren Koffern, für deren Sachen wäre hier wirklich nicht genug Platz gewesen.

Danbi wählte ihre Arbeitskleidung für den heutigen Tag aus und legte sie zurecht: Das helle Strandkleid mit den lachsfarbenen Punkten und dem roten Lackgürtel, die roten Bastpumps mit den Plateausohlen, der breitrandige Strohhut mit dem Band, das genau die gleiche Farbe wie die Schuhe und der Gürtel hatte. Sonnenbrille und fertig. Leider besaß sie keine Tasche, die dazu passte. Aber mehr als ihr Telefon wollte sie ja auch nicht mitnehmen.

In der Enge des Wohnmobils schälte sie sich aus Jeans und T-Shirt und streifte das Kleid über. Anschließend beugte sie sich in die Nasszelle und schminkte ihre Lippen, erst mit dem roten Konturstift, dann mit dem Lippenstift. Sie schickte ihrem Bild im Spiegel einen Kussmund, mehr war wirklich nicht nötig.

Sie setzte sich in die offene Tür des Wohnmobils, um die Pumps anzuziehen. Niklas kam um das Heck des Wohnmobils herum.

»Hör zu, Mädchen, du läufst da runter bis zum Strand«, er zeigte über eine Gruppe von Kiefern hinweg, »dort hältst du dich rechts, bis du zur Seebrücke von Binz kommst.«

»Binz«, sagte Danbi probeweise, während sie den zweiten Schuh anzog.

»Richtig«, sagte Niklas Lenz. »Du hast alle Zeit der Welt. Aber sei pünktlich. 16 Uhr.«

Danbi nickte und machte sich auf den Weg.

Zehn Minuten später suchte sie immer noch das Meer. Vor fünf Minuten war sie auf ein langes, fünf- oder sechsstöckiges Gebäude gestoßen, das ihr den Weg versperrte. Jetzt lief sie immer noch an dem langen grauen Haus entlang, auf der Suche nach dem Strand.

Die deutsche Ostseeküste hatte sie sich anders vorgestellt. Dieses Gebäude erinnerte sie an ein Foto aus Nordkorea, das sie als Kind zusammen mit ihrem Vater in der Zeitung gesehen hatte. »So wollen wir niemals leben müssen«, hatte der Vater ihr angesichts des Bildes erklärt, »wie unsere armen Landsleute im Norden.« Danbi hatte ihm voller Überzeugung zugestimmt.

Dann plötzlich war das eine Gebäude zu Ende, und das nächste, das fast genauso aussah, begann. Aber zwischen beiden Häusern tat sich ein Durchgang auf, durch den Danbi den blauen Himmel über einem noch blaueren Meer sehen konnte. Wie von einer magischen Hand gezogen, ging sie hindurch. Sie zog die Bastpumps aus, setzte die Füße in den angenehm warmen Sand und lief zum Meer hinunter. Als sie das Wasser erreicht hatte und ihre Zehen von einer kleinen Welle umspült wurden, zuckte sie zurück. Die Ostsee war kühl. Aber nach ein paar Schritten hatte sie sich schon daran gewöhnt. Sie hob den Kopf, um nach der Seebrücke von Binz Ausschau zu halten. Aber sie sah weiter vorne nur viele Menschen, die am Strand lagen, ins Wasser gingen oder vom Schwimmen zurückkamen.

›Binz‹ sagte Danbi noch einmal vor sich hin. Wahrscheinlich würde sie doch jemanden nach dem Weg fragen müssen.

Danbi ging weiter am Saum des Meeres entlang. Es roch nach Seetang, Salz und Sonnenöl. Die Mittagssonne brannte auf ihr Kleid, sie war froh, dass sie den Hut hatte. Vielleicht, überlegte sie, sollte sie sich einen Badeanzug kaufen und später auch kurz ins Wasser gehen. Plötzlich und ohne Vorwarnung sprangen rechts von ihr ein paar Menschen hinter einer aufgestellten Stoffbahn hervor und stürmten auf sie zu. Drei Männer und zwei Frauen. Alle braungebrannt. Und nackt. Danbi blieb wie angewurzelt stehen. Die Gruppe teilte sich, lief an ihr vorbei und stürzte sich ins Wasser. Mit großem Spritzen und Lachen. Danbi fragte sich, ob das die Menschen aus dem grauen Gebäude waren, so arm, dass sie sich keine Badeanzüge leisten konnten. Aber etwas an dem Gedanken stimmte nicht: Sie wirkten zu fröhlich und hatten auch nicht mager ausgesehen. Einer der Männer hatte sogar richtige Speckrollen auf den Hüften. Und eine Goldkette um den Hals. Sonst trug er nichts, aber eine schwere Goldkette.

Im Weitergehen stellte Danbi fest, dass das eben nicht die einzige Gruppe war, die keine Badeanzüge besaß. Am Strand und im Wasser entdeckte sie immer mehr Menschen, die nichts anhatten. Man musste nur genau hinschauen. Also würde sie vielleicht auch keinen Badeanzug kaufen müssen. Aber bevor sie das zu Ende gedacht hatte, schüttelte sie schon den Kopf. Sie, ohne alles? Wo andere Menschen sie sehen konnten? Ausgeschlossen!

Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, baute sich ein Herr vor Danbi auf. Sie blieb irritiert stehen und starrte ihn an. Er war alt, zwischen 50 und 60, und zu ihrer Erleichterung vollständig bekleidet: eine dunkle Stoffhose, ein weißes Hemd und eine weiße Mütze mit einem schwarzen Schirm, der oben in der Mitte einen goldenen Anker trug. Polizei war Danbis erster Gedanke. Der Mann machte zwar ein fröhliches Gesicht, aber das war manchmal so bei den deutschen Beamten. Jetzt zwinkerte er ihr aber sogar zu.

»Na, mien Deern?«

Danbi hatte nicht die leiseste Idee, was der Mann wollte. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte sie seine Worte so gut es ihr gelang.

»Namiendeern!«

Der Mann schaute von unten zu ihr hoch. Erst misstrauisch, dann fing er an zu lachen.

»Oha. Ganz ’ne plietsche.«

Er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.

»Awer du hes nix begriepen, nüch?«

Danbi fühlte sich unbehaglich. Sie machte einen Schritt zur Seite.

»Entschuldigung. Ich muss Arbeit.«

»Na, denn man tau«, sagte der Mann und schaute Danbi hinterher. »Dat beste iss ümmer, secht Jochn Brümmer, sick an de eegn Nääs to fatn und anner Lüd in Ruh to latn!«

Etwa hundert Meter weiter entdeckte Danbi einen befestigten Weg oberhalb des Strandes. Sie ging hoch und fand eine Bank, auf die sie sich setzte, um ihre Beine zu entsanden. Dann zog sie die Pumps mit den hohen Sohlen an, die sie die ganze Zeit in der Hand getragen hatte. Als sie aufstand, fühlte sie sich wie ein anderer Mensch. Es war wie auf einer dunklen Theaterbühne, wenn dich das Spotlight einfängt. Und dir dann folgt. Ihr Spotlight waren die Blicke der anderen Menschen auf der Promenade. Danbi wusste, dass sie nicht ihr galten, sondern Bambi. Bambi war die Rolle, die sie jetzt spielte. Sie setzte sich in Bewegung und genoss ihren Auftritt.

Rechts der Promenade eine Häuserreihe, die meisten Gebäude schienen Hotels, Pensionen oder Restaurants zu sein; links, hinter einem schmalen Streifen mit Grün und ein paar Kiefern, der Strand mit badenden, ballspielenden und strandkorbdösenden Menschen. Und auf dem Weg Männer, Frauen und Kinder mit angeleinten Hunden, die ihr entgegenkamen. Es brauchte einige Zeit, bis Danbi klar wurde, was so ungewöhnlich an dieser Szenerie war: Die Leute auf der Promenade hatten Zeit. Und sie waren alle freundlich und rücksichtsvoll. Selbst die Fahrradfahrer schoben ihre Räder, und wenn es an einer Stelle eng zu werden drohte, blieben sie stehen und ließen anderen den Vortritt. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, seit sie in Deutschland war. Aber es kam ihr sehr entgegen. Inzwischen war sie richtig froh, dass Niklas sie auf diesen Fußweg geschickt hatte.

Danbi ließ sich treiben, in ihrem Kopf ein Ohrwurm von Bangtan Sonyeondan, den sie seit dem Morgen nicht loswurde. Also summte sie ihn mit: Oh my my my, oh my my my, Love is nothing stronger than a boy with luv.

Da plötzlich, zehn Meter vor ihr am Rande ihres Gesichtsfelds, tauchte sie auf. Die Tasche. Danbis Blick war gefesselt. Eine Gucci-Handtasche, Straußenleder in Blassrosa am Arm einer Blondine, die mit einem Mann an einem Stehtisch vor einer Open-Air-Bar stand. Beide schauten auf ein großes Glitzersmartphone. Und plötzlich stellte die Frau die Tasche auf den Hocker neben sich, griff nach ihrem leeren Glas und ging damit zum Tresen. Der Mann schaute ihr kurz hinterher, dann wieder auf das Smartphone.

Danbis Herz ging schneller. Eine Familie mit Kinderkarre und Dreirad kam ihr entgegen, sodass sie nach rechts ausweichen musste. Der Hocker mit der Tasche stand Danbi jetzt praktisch im Weg. Im Vorbeigehen führte sie den rechten Unterarm durch die hohen Griffe. Die Tasche schmiegte sich wie selbstverständlich an ihre Hüfte. Danbis Herz schlug nun irgendwo unter ihrem Schlüsselbein. Aber sie zwang sich zur Ruhe. Ein paar Meter weiter, im Spiegel neben dem Schaufenster einer Strandboutique, entdeckte sie Bambi. Und sah, wie perfekt die neue Tasche mit ihrem Standkleid, dem Hut und den Pumps harmonierte.

Danbi spürte, dass sich ein dünner Schweißfilm zwischen ihren Schulterblättern gebildet hatte, der jetzt in einem dicken Tropfen abwärts über ihre Wirbelsäule lief. Normalerweise wäre ihr das unangenehm gewesen, aber jetzt empfand sie es als wohltuend und prickelnd. Mit dieser Tasche war sie stark und unantastbar. Und plötzlich, ohne dass sie es selbst merkte, hatte sie doch begonnen zu laufen. Eine Mischung aus Freudentaumel und Flucht, ihr war ja bewusst, dass sie die Blondine bestohlen hatte und dass die sie vermutlich verfolgen würde. Hör auf zu rennen, befahl sie sich, hier rennt keiner außer dir. Aber ihre langen Beine ignorierten die Anordnung. Danbi schaute über ihre Schulter zurück. Und dann knickte sie um.

Danbi saß halb auf dem Boden und halb auf ihrem rechten Bein. Aber das war okay. Das Problem war ihr linker Knöchel. Der tat verdammt weh. Sie streckte die Hand aus, um ihn zu betasten. Aber eine andere Hand kam ihr zuvor. Eine braungebrannte Männerhand, die ihr den Pumps abstreifte. Dann kam eine zweite Hand dazu und beide legten sich um ihr Fußgelenk. Fest und warm.

»Tut das weh?«

»Ja«, sagte Danbi.

Die Stimme passte genau zu den Händen und zu dem Jungengesicht mit den hellblauen Augen, das sich jetzt vor ihres schob.

»Kein Wunder«, sagte die Stimme. »Mit Sicherheit verstaucht. Aber hoffentlich nichts gebrochen.«

»Du Arzt?«, fragte Danbi.

»DLRG-Rettungsschwimmer«, sagte der Junge. »Das ist so ähnlich.«

Danbi sah zu, wie der Junge drei Kinder von einer weißen Bank am Rand der Promenade vertrieb. Dann kam er zurück, half ihr hoch und stützte sie auf dem Weg zur Bank. Danbi bemerkte, dass er kräftig war und etwa genau so groß wie sie. Dass er sehr gut aussah, hatte sie schon vorher registriert.

»Ich bin Moritz«, sagte er. »Da unten arbeite ich.«

Er zeigte auf ein rundes, schilfgedecktes Häuschen unterhalb des Grünzuges.

»Und da drüben wohne ich. In der Jugendherberge.«

»Ich bin Danbi«, sagte Danbi. »Ich bin Schauspielerin.«

»Okay, Danbi. Kannst du auftreten?«

Sie war irritiert: »Vielleicht. Aber ich muss üben für Auftritt. Lernen.«

»Nein«, sagte Moritz. »Ich meine, kannst du den Fuß belasten?«

»Ach so«, lachte Danbi und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

Moritz lachte auch. Dann stand Danbi vorsichtig auf. Der Fuß tat immer noch weh. Also legte Moritz ihr seinen Arm um die Hüfte und stützte sie.

Rauch auf Rügen

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