Читать книгу Die erste Frau - Wolfgang Ebert - Страница 10

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SCHICKSALSTAG

Damals ahnte Jeanne noch nicht, dass in ihrem Leben bald wieder ein entscheidender Abschnitt seinen Anfang nehmen sollte. Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, im Mai 1758, befahl ihr Monsieur Tierri, sie solle sich für eine Exkursion in die nahe Umgebung bereitmachen. Ein renommierter Naturwissenschaftler aus dem nahen Toulon-sur-Arroux habe sich angemeldet, um mit ihm einen pflanzenkundlichen Ausflug zu unternehmen. Da der Gast wegen einer Beinverletzung etwas behindert sei, sollte seine Gehilfin mitkommen, um als Trägerin zu dienen.

Monsieur Tierri schien sehr geehrt durch den Besuch des gelehrten Pflanzenjägers. Die beiden kannten sich seit ihrer Kindheit, wo Philibert Commerson die Sommerferien bei seiner Tante verbracht hatte. Henri Tierri war der Sohn des Priesters der Gemeinde. Und bald erkannten die Buben ihre gemeinsame Leidenschaft für die Natur und erkundeten gemeinsam die Umgebung auf der Suche nach immer neuen Pflanzen. Henris Vater wollte, dass sein Sohn ebenfalls der Kirche diente, aber dessen abschreckendes Aussehen stand dem Plan im Wege. Die abergläubischen Menschen brachten Albinos mit dem Teufel in Verbindung und hätten einen so böse Gezeichneten nie als Seelsorger akzeptiert. Also schickte man den Jungen, seinem Wunsch entsprechend, in Mabelle in die Gärtnerlehre, wo er es aufgrund seiner Ausbildung schnell zum Chefgärtner brachte.

Monsieur war beeindruckt, weil sein Jugendfreund am Collège de Montpellier Medizin und Naturwissenschaften studiert hatte. Der Doktor war in der Schweiz und in verschiedenen Städten Frankreichs am Aufbau botanischer Gärten beteiligt gewesen, und adlige Herren vertrauten ihm Sammlungen seltener, meist exotischer Pflanzenarten an. Besonders wichtig schien Monsieur, dass sein Jugendfreund bei dem berühmten schwedischen Botaniker Carl von Linné in Stockholm studiert und in dessen Auftrag Fische im Mittelmeer untersucht und für das Museum seines Meisters kategorisiert hatte.

Jeanne schätzte den stattlichen Mann, den Monsieur herzlich begrüßte, auf Anfang dreißig. Er trug einen langen, hellbraunen Überrock und braune Kniehosen. Das ernste Gesicht mit den hellblauen Augen und der hohen Stirn machte großen Eindruck auf die junge Frau.

Erst nach dem Rundgang durch die Gärten von Mabelle stellte Monsieur dem Doktor seine Assistentin vor, was großes Erstaunen auslöste. Der Herr fragte Monsieur, wie es komme, dass er ein Mädchen als Mitarbeiterin habe und ob es tatsächlich etwas von Botanik verstände. Dann wandte er sich freundlich an Jeanne, wobei er sie offen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen taxierte. Der feine Herr stellte Fragen über Pflanzen und war überrascht, dass sie so viel wusste. Er schien sichtlich angetan von der jungen Frau. „Sie sehen recht kräftig aus, und da Sie sich als Gehilfe anbieten, wird es Ihnen bestimmt nichts ausmachen, den Pflanzensack zu tragen. Ich bin leider etwas lädiert.“ Der Doktor lachte amüsiert und überreichte Jeanne seine große Botanisiertasche. „Nun, dann wollen wir uns mal auf die Suche machen, Mademoiselle!“ Jeanne bekam einen puterroten Kopf. „Mademoiselle.“ So hatte sie noch nie jemand genannt, sie, eine Bauerngöre.

Die drei durchstreiften einen weiten Umkreis von Mabelle, aber leider fanden sie keine einzige Pflanze, die der Sammler nicht schon zur Genüge kannte. Es war nicht zu übersehen, dass er missmutig wurde, die Jagd aber nicht erfolglos abblasen wollte. Offenbar war der Mann so sehr von seiner Leidenschaft getrieben, dass er seinen Körper rücksichtslos überforderte, bis er immer stärker hinkte und bei jedem Schritt schmerzhaft das Gesicht verzog. Monsieurs inständige Bitten, die Suche abzubrechen, hatten erst Erfolg, als das Bein des Naturkundlers so schmerzte, dass er gar nicht mehr gehen konnte.

Später erfuhr Jeanne von Monsieur mehr über den Besucher, der seinem Jugendfreund vertrauensvoll Einblick in sein Leben gegeben hatte. Medizin habe er nur studiert, um seinen Vater zu beruhigen, für den die Botanik eine brotlose Kunst gewesen sei und vor allem kein standesgemäßer Beruf für den Sohn eines angesehenen Notars. Damit der strenge Herr ihm nicht die Zuwendungen strich oder ihn - noch weitaus schlimmer - gar enterbte, habe Commerson widerwillig eine Arztpraxis in Toulon-sur-Arroux eröffnet. Bald werde er nun die Tochter eines Kollegen seines Vaters heiraten, und er hoffe inständig, dass die Auserwählte sich auch für die Natur begeistern würde. Einmal sei die Dame mit dem schönen Namen Marie-Antoinette-Vivante Beau schon mit ihm botanisieren gegangen.

Jeanne wunderte sich, dass der Herr Doktor so persönliche Dinge von sich preisgab. Er hatte Monsieur ja nur kurz gekannt, und das lag lange zurück. Später lernte sie, dass es manchmal leichter war, Unbekannten sein Herz auszuschütten, als Menschen, denen man sich eng verbunden fühlte. Die Offenherzigkeit von Monsieur Commerson jedenfalls fand sie sympathisch.

Monsieur hatte den Gast aus alter Verbundenheit eingeladen, in seinem bescheidenen Haus zu übernachten. Als er Jeanne am nächsten Morgen im Garten sah, zwinkerte er ihr schelmisch zu. „Wir wären ein gutes Jagdgespann, Mademoiselle Baret. Sie sollten ihre Kenntnisse vertiefen. Kennen Sie sich mit Linné aus?“ Jeanne war verlegen. „Nein, Monsieur, leider nicht.“ „Dann rate ich Ihnen, das nachzuholen. Erst wenn Sie sich mit Linné vertraut gemacht haben, werden Sie etwas von der Botanik wissen. Monsieur Tierri wird ihnen sicher gern Linnés Systema naturae ausleihen. Darin ist die Grundlage der modernen biologischen Systematik dargelegt. Linné hat einen Satz geprägt, über den viele weniger Begabte die Nase rümpfen: Deus creavit, Linnaeus disposuit, Gott hat die Welt geschaffen, aber Linné hat sie geordnet. Neben seiner Tätigkeit als Hofarzt der schwedischen Königsfamilie beschäftigt sich Linné intensiv mit den Naturreichen der Steine, Pflanzen und Tiere. Vor Linné herrschte Chaos statt System.“

Schmunzelnd setzte er hinzu: „Besonders zur Arbeit anregen wird Sie vielleicht eine heiß debattierte Aussage des Meisters: Die Blütenblätter dienen lediglich als Hochzeitsbetten, die der große Schöpfer so herrlich hergerichtet hat, damit das Paar dort seine Hochzeit mit einer erhöhten Feierlichkeit begehen kann. Viel Vergnügen, Mademoiselle!“

Der Mann gefiel Jeanne. Wenn man ihr prophezeit hätte, sie würden einmal ein Paar werden, hätte sie es als Hirngespinst abgetan. Schließlich waren die Standesgrenzen viel zu groß, zudem war der Doktor viel zu alt.

Das unübersehbare Interesse Commersons machte Monsieur stolz auf seine Schülerin. Er lieh ihr die Hauptwerke Linnés, die ins Französische übersetzt waren und aus der Bibliothek des Barons stammten. Immer wieder studierte sie fortan die Thesen, mit deren Hilfe der berühmte Botaniker „die Welt neu geordnet“ hatte.

Monsieur hatte ihr schon früh beigebracht, dass man Pflanzen konservieren sollte, bevor sie welkten, da sonst wichtige Merkmale wie Blattform und Blütenaufbau nicht mehr gut erkennbar seien. Um die Pflanzen zu pressen, legte man sie zwischen Papier, das mit Holzplatten beschwert wurde. Bei großen Pflanzen achtete Monsieur darauf, dass wichtige Teile wie Blüten, Früchte, Blatt, Spross und Wurzeln vollständig vorhanden waren. Auf einem Herbarblatt wurden als minimale Angaben der Fundort, das Datum des Fundes und das Kürzel des Finders angegeben. Jeanne lernte mit besonderem Eifer, als würde Monsieur Commerson ihr bei der Arbeit über die Schulter blicken.

* * *

Mehr als ein Jahr verging, bevor Jeanne ihren Schicksalsmann wiedersah. Es war im Januar 1761. Schnee bedeckte alle Blumen und Pflanzen, als Monsieur Tierri sie mit ins Herrenhaus nahm. Jeanne war sehr neugierig, weil der Doktor wieder da war und etwas Wichtiges besprechen wollte, das sie betraf. Sie hatte zittrige Knie, als sie die mächtige Freitreppe hinaufstieg und zum ersten Mal das Herrenhaus betrat, was normalerweise nur Hausangestellte durften. Ein Lakai in hellgrauer Livree führte die beiden durch die riesige Halle, in der das große Fest stattgefunden hatte. Jeannes Holzschuhe klapperten so laut auf dem Marmorboden, dass es bei jedem Schritt laut widerhallte. In einem hohen Zimmer voller Bücher und vieler seltsamer Gegenstände wartete Monsieur Commerson. In burgunderrotem Rock, gelber Weste und brauner Kniehose sah er sehr vornehm aus.

Der Doktor begrüßte Monsieur und sprach sodann, mit einem freundlichen Lächeln, direkt zu dessen Gehilfin. „Sie haben sich in eine junge Dame verwandelt, Mademoiselle!“ Dann erklärte er, zu Monsieur gewandt, den Grund seines Besuchs auf Mabelle. „Ich werde während der Abwesenheit des Barons dessen ungeordnete Kuriositätensammlung studieren und katalogisieren. Schauen wir, was der Baron zusammengetragen hat!“

Jeanne bestaunte das exotische Inventar: Wände voller Schildkrötenpanzer, Schädel mit langen Stoßzähnen und große Fische mit seltsamen Schuppen, riesige Echsen mit drohend aufstehendem Maul und einen Vogel, dessen Schnabel gleich groß war wie sein Körper. Sie ging hinter den Männern her, die sich über dutzende Kästen beugten und immer wieder einzelne, höchst merkwürdige Steine herausnahmen. Einige sahen aus wie überdimensionale Muscheln, Schnecken oder große Raubtierzähne, in anderen war der Abdruck von Fischen, Echsen und Vögeln zu sehen, die, wie sie hörte, schon lange ausgestorben waren. Kleine honigfarbene, durchsichtige Steine schlossen Fliegen und Bienen ein. Der Gelehrte nannte sie Bernstein, und besonders schön geschliffene Glasstücke bezeichnete er als Kristalle.

Am Ende des Rundgangs durch die Wunderkammer blickte Commerson abwechselnd zu Monsieur und Jeanne. „Monsieur Tierri, Mademoiselle Baret“, sagte er freundlich lächelnd, „ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Meine Frau wird in Kürze unser erstes Kind zur Welt bringen. Aus diesem Grunde möchten wir neben unserer Hausgehilfin noch eine Person anstellen, die sich um den Nachwuchs kümmert, damit meine Frau entlastet wird. Mademoiselle, ich wollte Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, diese Aufgabe zu übernehmen?“

Jeanne war froh, dass sich der Doktor gleich an Monsieur wandte, weil sie vor Verlegenheit nicht hätte antworten können. „Natürlich muss ich Sie, Monsieur Tierri, bitten, Ihr Mündel freizugeben, schließlich sind Sie ihr Dienstherr.“ Dann wandte sich der Doktor wieder an Jeanne. „Bevor Sie sich entscheiden, Mademoiselle, lassen Sie mich noch hinzufügen, dass ich bei der Anstellung einen Hintergedanken habe. Natürlich könnte ich eine Kinderbetreuerin mit mehr Erfahrung engagieren, aber sicherlich keine, die soviel von der Pflanzenwelt versteht wie Sie. Sie könnten mir neben der Kinderpflege helfen, meine ständig größerwerdende Sammlung in Ordnung zu bringen und mich bei Exkursionen unterstützen.“ Er lachte laut auf und deutete auf sein Bein. „Darin haben sie ja schon einschlägige Erfahrungen!“ Wieder zu Monsieur gewandt, fuhr er schließlich fort: „Mademoiselle Baret könnte viel über die Naturkunde lernen, und falls es ihr bei uns in Toulonsur-Arroux nicht gefallen sollte, zu Ihnen zurückkehren. Bevor Sie sich entscheiden, bedenken Sie sich gemeinsam. Meine Frau wird im April niederkommen. Falls Sie zusagen, sollten Sie spätestens im März zu uns kommen.“ Jeanne war sprachlos und verabschiedete sich von dem Doktor mit einem etwas missratenen Knicks.

Am Abend nahm Gisèle sie in die Arme. Es war das erste Mal, dass sie ihr so ihre Gefühle offenbarte. Monsieur sagte mit belegter Stimme: „Jeanne, Gisèle und mir fällt es sehr schwer, dich ziehen zu lassen, weil du uns ans Herz gewachsen bist. Dennoch sind wir beide der Meinung, dass du das Angebot annehmen solltest. Ich kenne deinen Wissensdurst und ermuntere dich deshalb, die Gelegenheit wahrzunehmen. Hier hast du alles gelernt, was ich dir beibringen kann. Außerdem wird es Zeit, dass du deinen Horizont erweiterst und dich in einer Stadt umsiehst. Du bist schon zwanzig und wirst hier keinen Mann finden, der zu dir passt. Hier gibt es nur ungebildete Bauernburschen und Bedienstete des Barons, wie du weißt. Die willst du nicht, und die wollen dich nicht, weil du ihnen zu klug bist.“

Nachts lag Jeanne lange wach, schmiegte Bébé an sich und sog den vertrauten Heugeruch ein. Monsieur hatte recht; unter den Angestellten von Mabelle oder in Bande würde sie nie einen Mann finden. Eigentlich spielten Männer in ihren Gedanken auch keine Rolle, aber Monsieur und Gisèle würden nicht ewig leben, und ohne Mann war eine Frau schutzlos. Würde sie in einer Stadt eher einen finden, der zu ihr passte? Würde sie überhaupt jemandem gefallen?

Jeanne liebte es, Samen in die Erde zu pflanzen, zu beobachten, wie daraus Blumen wuchsen, sie zu pflegen und das Wunder des ewigen Werdens und Vergehens zu bestaunen. Nun hatte sie das beklemmende Gefühl, ihre Pflanzen und vor allem den verehrten Monsieur und Gisèle im Stich zu lassen. Die Rolle eines Kindermädchens war nicht gerade erstrebenswert, aber durch Doktor Commerson in die Welt der Natur eingeführt zu werden, mehr vom Leben außerhalb des Gartens von Mabelle zu erfahren, das war doch sehr verlockend. Jeanne hatte das Gefühl, dass da draußen die ganze Welt auf sie wartete, von der sie so viel gehört und noch nichts gesehen hatte. Sie war begierig auf Anderes; also packte die mutige Frau ihre wenigen Habseligkeiten und wagte sich ins Ungewisse. Jahre später sollte sie in den Aufzeichnungen des Schiffs-Chirurgus Vivès lesen, wie sie auf Männer seinerzeit offenbar gewirkt hatte: „Sie war weder hübsch noch unansehnlich. Sie hatte ein herbes Gesicht mit Sommersprossen und eine schmale Statur mit breiten Schultern. Sie hatte eine weiche und klare Altstimme. Was sie beliebt machte, war ihre Geschicklichkeit und Feinfühligkeit.“

Die erste Frau

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