Читать книгу Die erste Frau - Wolfgang Ebert - Страница 8

Оглавление

KÖNIGREICH DER PFLANZEN

Jeanne hatte sich zu einem dünnen, staksigen Mädchen entwickelt, doch sie war zäh und kräftig und konnte bald mithelfen, den Wagen zu schieben, mit dem zweimal im Monat Mist zum Park Baron de Brandonnes geschafft wurde. Sein Obergärtner, Monsieur Henri Tierri, ließ es unter die vielen Blumenrabatte und die Erde in einem Haus aus Glas mischen, das er „Orangerie“ nannte. Für Jeanne war es ein Märchenschloss, weil es das erste Mal war, dass sie Glas sah. Sie konnte sich nicht sattsehen an den bunten Blumen, den fremdartigen Gewächsen und den Bildern von Pflanzen, die an die Scheiben geheftet waren. In Kübeln standen Bäume, an denen gelbe Früchte hingen. Die kurzen Besuche im Garten tauchten ihr Leben mit einem Mal in ein ihr unbekanntes helleres Licht, und sie spürte, dass es jenseits ihrer traurigen Erfahrungen noch etwas Anderes gab: etwas Schönes, Erhabenes.

Anfangs machte ihr der Gärtner Angst, weil er aussah wie ein Wiedergänger, wie einer der auferstandenen Toten, von denen die Leute manchmal furchtsam flüsterten. Seine Haut war schneeweiß, und seine Augen schimmerten so rot, wie sie es manchmal bei weißen Kaninchen gesehen hatte. Oft waren sie blutunterlaufen. Ohne Wimpern und Augenbrauen sah sein Gesicht nackt aus. Wenn der Gärtner seine graue Perücke abnahm, sah man, dass die Stoppelhaare auf dem kugelrunden Kopf ebenfalls weiß waren. Aber allmählich stieß sie das fremde Äußere des Mannes nicht mehr ab. Sie gewöhnte sich daran.

Einmal schenkte Monsieur Tierri Jeanne zu ihrer übergroßen Freude einen gelben Ball. „Das ist eine Orange, Jeanne. Sie schmeckt gut. Probiere es“, sagte er gönnerhaft und achtete neugierig auf ihre Reaktion. Als sie vorsichtig in die Schale biss, das bittere Zeug angeekelt ausspie und „Igitt!“ rief, lachte er laut. „Du dummes Mädchen, du musst sie abpellen, bevor du sie essen kannst!“ Jeanne schaute den Mann so lange betreten an, bis er die Schale für sie entfernte. Erst hielt sie das seltsame Ding zögernd an die Nase, leckte dann vorsichtig an der fremden Frucht und verzog dabei das Gesicht, als fürchtete sie erneut den bitterscharfen Geschmack. Aber kaum hatte sie behutsam in die Orange gebissen, verklärte sich ihr Gesicht, und Jeanne bekam einen fast seligen Ausdruck. Wie himmlisch das schmeckte! Sie verschlang die süßsaure Frucht so gierig, dass ihr der Saft vom Kinn heruntertropfte und die Finger verklebte, die sie genüsslich, einen nach dem anderen, in den Mund steckte. So mussten all die leckeren Dinge im Schlaraffenland schmecken, von dem ihr die Mutter erzählt hatte. Wie oft war ihr dieser paradiesische Ort im Kuhstall im Traum erschienen. Essen, soviel man wollte! Ihr Leben lang blieb die Orange für Jeanne ein Symbol für die schönen Seiten des Lebens.

Die Welt der Blumen entpuppte sich als Ort der Glückseligkeit, den sie bestaunte, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte. Wenn sie vorsichtig hier eine Blume betastete, dort an einer Blüte roch, verscheuchten sie die jungen hochnäsigen Gärtnergehilfen. Aber Monsieur Tierri bemerkte bald Jeannes großes Interesse an seiner Arbeit, wie er Samen einpflanzte, Knollen eingrub oder Äste von einem Baum schnitt und an einen anderen ansetzte. Eines Tages, sie war elf Jahre alt, fragte der Gärtner Paul Merçier, ob er ihm das neugierige Mädchen überlassen würde, da er gerade einen Gehilfen verloren habe. Merçier war einverstanden, nachdem er als Ausgleich für den Verlust von Jeannes Arbeitskraft das Versprechen erhielt, in Zukunft Feuerholz im Wald des Barons sammeln zu dürfen. Jeanne wusste sofort, dass damit ein neues Leben begann, der Aufstieg in eine aufregende, aber noch ungewisse Zukunft.

Voller Erwartung blickte Jeanne auf ihr neues Leben bei Monsieur Tierri, doch zugleich bedrückte sie auch das unbestimmte Gefühl, etwas zu verlieren. Obwohl es nur ein Viehstall war, in dem sie gehaust hatte, war er doch eine Zuflucht gewesen, etwas, woran sie gewöhnt war und das sie mit ihrer geliebten Kuh Marie geteilt hatte. In Gedanken schmiegte sie sich noch einmal an das braunweiß gefleckte Fell, hatte den vertrauten Geruch des Tieres in der Nase, lächelte bei der Erinnerung an die Sorgen, die sie in die großen Ohren Maries geflüstert hatte. Doch nach den unglücklichen Jahren bei den Merçiers, den gemeinen Streichen von Jean und Nicolas, der Einsamkeit, all den Schlägen, dem Hunger, schwang sie schließlich ihr kleines Bündel über die Schulter und machte sich voller Freude auf den Weg. Mit auf die Reise ging ihre Freundin, die Puppe Bébé.

Auch das Haus der Tierris war aus dem schwarzen Stein der Gegend gebaut, doch war es weitaus geräumiger als die Katen der Bauern. Die Eingangstür führte direkt in ein kleines Wohnzimmer mit offenem Kamin, vor dem ein runder, glänzend polierter Tisch mit vier Stühlen stand. Ein offener Durchgang führte zur Küche und der kleinen Schlafkammer der Tierris dahinter. Monsieur öffnete die Tür zu einem winzigen Zimmerchen. „Hier wirst du in Zukunft schlafen, Jeanne. Viel Platz hast du nicht, aber dafür bist du für dich. Die anderen Gehilfen schlafen alle nebeneinander in der Gerätehütte.“ In einer Ecke lag ein langer Strohsack, daneben stand eine grob zusammengenagelte, kleine Truhe. Aber was brauchte sie mehr. Ihr neues Heim war zwar viel kleiner als Maries Stall, aber dafür pfiff hier kein eisiger Wind durch die Ritzen. Die Wände waren aus gestampftem Lehm gebaut und die Decke aus dicken Balken.

Erst später erfuhr Jeanne, dass es die Frau von Monsieur gewesen war, die ihren Mann auf den Gedanken gebracht hatte, sie anzustellen. Gisèle Gisèle war schon an die vierzig, hatte schwarze, mit breiten grauen Strähnen durchzogene Haare, die sie stets unter einer schwarzen Haube verbarg. Wenn sie lächelte, kerbten tausend Falten ihr breites Gesicht, und ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem breiten Froschmaul. Gisèle trug meist ein langes Leinenkleid, dessen helles Braun zum verblichenen Dunkelrot ihres bestickten Schultertuchs passte. Sie litt darunter, dass sie keine Kinder bekommen konnte, wo doch die meisten Frauen in der Gegend sechs bis acht Bälger und oft sogar mehr hatten. Die fürsorgliche Frau steckte dem Mädchen etwas zu, wann immer sie es sah, mal ein Stück Brot, dann einen Apfel und einmal sogar einen abgelegten Rock. Von ihr ging eine Herzlichkeit aus, wie Jeanne sie nie zuvor erlebt hatte. Auch das Leben der Frau des Gärtners bestand aus ununterbrochener Arbeit, aber hungern mussten die Tierris nicht.

Ihr neuer Herr war streng, doch zumeist freundlich. Jeanne tat alles, um sich nützlich zu machen, und lernte schnell, alle Arbeiten zu verrichten, die im Haus und im Garten anfielen. Wie ein anhängliches Hündchen folgte sie Henry Tierri, den sie „Monsieur“ nannte, überallhin und ging ihm zur Hand, wenn er junge Kirsch- oder Apfelbäume eintopfte, Blumensamen in exakt ausgerichtete Beete säte oder an den Wänden eines viereckigen Innenhofs Jasmin und Rosenstöcke setzte. Bald schichtete Jeanne schon selbst Rabatten auf und steckte im Herbst hunderte Tulpen- und Lilienzwiebeln in die Erde, damit sie im Frühling blühten. Monsieur schlug Jeanne nie, auch wenn sie einmal etwas falsch machte. Er sah, wie eifrig und wissbegierig das sommersprossige Kind war und übertrug ihm immer mehr Aufgaben, die eigentlich die älteren Gehilfen hätten erledigen müssen. Die Burschen machten ihre Arbeit nur widerwillig und zeigten keinerlei Begeisterung dafür.

Es dauerte nicht lange, und Jeanne kannte die französischen Namen aller Bäume, Blumen und Pflanzen im Garten und im Gewächshaus. Sie hätte sich auch gern die Bezeichnungen eingeprägt, die auf Täfelchen unter einigen Gewächsen standen, aber leider konnte sie nicht lesen und schreiben. Nur der Dorfvorsteher hatte ein wenig Schreiben und Rechnen gelernt. Aber sie merkte sich einige der fremd klingenden Laute, die Monsieur Tierri vorsagte, wenn sie ihn dazu drängte. Er erklärte, Pflanzen würden mit den Namen einer alten, nicht mehr gesprochenen Sprache bezeichnet, die von Pflanzenkennern überall auf der Welt verstanden würde. Und obwohl sie keinen Sinn darin sah, lebendigen Dingen Worte einer toten Sprache zuzuordnen, da es doch die französische Sprache gab, die sie für die einzige existierende hielt, lernte sie begierig. Sie murmelte so lange vor sich hin, was Monsieur ihr vorsagte, bis der zufrieden nickte: „Tulpenbaum: Liriodendron tulipifera. Der rote Ahorn: Acer rubrum. Das Trompeten-Geißblatt: Lonicera sempervirens.”

Wenn sie in der Küche half, was zu ihren Pflichten gehörte, sagte Gisèle immer: „Jeanne, Jeanne, was stopfst du dir das Köpfchen mit soviel unnützem Wissen voll. Du bist doch ein Mädchen!“ Und wenn Jeanne dann antwortete: „Aber es macht mir doch so einen großen Spaß!“, schüttelte die Frau nur verwundert den Kopf.

Entlang der kurvigen Wege, die durch den Park führten, wuchsen Rosenhecken. Am liebsten pfropfte Jeanne jedes Jahr auf die alten Stöcke Ableger neuer Arten auf, wie sie es gelernt hatte. So versuchte sie neue Farbkombinationen zu kreieren, pfirsichfarbene, hellrot leuchtende oder hellgelbe Blüten in unterschiedlichen Formen. Ihre Lieblingsblumen aber waren Tulpen, die sie mit Hingabe züchtete: die gelben Ententulpen etwa mit ihren blutroten Einsprengseln am unteren Teil der Blütenblätter, dann die zartblättrigen Lacktulpen, deren Weiß von roten Streifen durchzogen war oder die dickstielige tulipa australis mit den weißgeränderten, scharlachroten Blättern. Wenn Jeanne nach der Blüte die alten Zwiebeln ausgrub, war sie neugierig, wie viele Ableger wohl diesmal gewachsen sein mochten. Meistens waren es drei, manchmal auch vier kleine Knöllchen, die sich an die Mutterzwiebel anschmiegten.

Als Kind hatte Jeanne gerne Feld- und Wiesenblumen gepflückt und sich an ihrer Buntheit erfreut, aber ihren Duft, die mal zarten, mal kräftigen Gerüche der Pflanzenwelt, hatte sie erst durch Monsieurs Schulung zu unterscheiden gelernt. Früher musste ihre Nase wohl von den strengen Gerüchen der Tiere und dem immerwährenden Mistgeruch verstopft gewesen sein. Nun aber wurde sie nicht müde, ihr Gesicht wieder und wieder in die bunte Blütenvielfalt zu pressen. Sie war glücklich, als nach trostlosen Wintermonaten endlich goldgelbe Narzissen ihre Blätterkelche entfalteten und der erste Duft des Jahres ein wohliges Gefühl in ihr auslöste.

Als einmal Baron de Brandonne ins Gewächshaus kam, starrte Jeanne ihn mit offenem Mund an. War der Mann mit der langen, weiß gewellten Perücke über dem aufgedunsenen, rot geäderten Gesicht Gott, von dessen Aussehen sie eigentlich nur nebulöse kindliche Vorstellungen hatte? Samtkleider spannten sich über seinen mächtigen Bauch, und die grünen Schuhe schmückten große Silberschnallen. Seine dicken Finger schienen jede Blume, die er pflückte, zu zerquetschen, aber wie der Baron zärtlich über besonders schöne Blüten strich und die Art und Weise, wie er mit näselnd schleppender Stimme über einzelne Gewächse sprach, zeigte Jeanne, wie stolz er auf seine Pflanzensammlung war.

Einmal brachte der Herr seinen kleinen Sohn mit, der genauso reich gekleidet war wie sein Vater und etwa zwei Jahre jünger war als Jeanne. Nie zuvor hatte sie solch ein quengelndes, unerzogenes Kind gesehen. Während sein Vater das Mädchen keines Blickes würdigte, kommandierte Pierre-Gaston sie herum. „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“, fragte er und warf mit einem Stein nach ihr. „Zeige mir, dass du ein Mädchen bist.“

Der Quälgeist lachte Jeanne aus, weil sie lange Hosen trug, was völlig ungewöhnlich war für Mädchen wie für Frauen. Jeanne trug sie, weil es nichts Bequemeres bei der Arbeit gab und weil sie sich nicht von den männlichen Gehilfen unterscheiden wollte. „Lies vor!“, befahl er herrisch mit piepsig hoher Stimme. Jeanne sollte dem verzogenen Jungen die Worte auf den Blumenschildchen vorlesen, aber natürlich wusste er, dass Bauernmädchen nicht lesen konnten, und verspottete die „Blöde“ nur. Jeanne hätte ihm am liebsten die Perücke heruntergerissen und sein geschminktes Gesicht ins Blumenbeet gestukt, doch das wagt sie nicht.

Die Überheblichkeit des jungen Herrn ärgerte Monsieur Tierri so sehr, dass er seiner Schülerin fortan jeden Tag Unterricht gab. So lernte Jeanne mit der Zeit lesen und schreiben und schließlich auch rechnen. Bald behandelte der Gärtner sie wie eine Tochter, der er sein Wissen vermachte, wodurch sich der Wissbegierigen eine völlig neue Welt erschloss. Am Tag pflanzte sie seltene, dreißig Zentimeter lange Schösslinge von Granatäpfeln oder beackerte Gemüsebeete. An den Abenden lernte sie eifrig und las sogar in der Bibel, einem der wenigen Bücher im Haus der Tierris.

Jeanne war glücklich in ihrem Garten Eden. Die Wertschätzung und Zuneigung durch Gisèle und Monsieur hatte viele Wunden geheilt, die das Mädchen nach dem Tod seiner Eltern empfangen hatte. Jeanne begriff schnell, dass ihr das Leben bei den Tierris Möglichkeiten eröffnete, die nur wenigen Kindern ihres Standes vergönnt waren.

Ihre alten Feinde, den dürren Jean und den dicken Nicolas, sah Jeanne nur gelegentlich, wenn die Brüder die monatlichen Fuhren Mist ablieferten. Sie versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, weil die Burschen sie feindselig anstierten und sogar einmal bespuckten. Onkel Paul und Tante Élise besuchte Jeanne nie, weil sie ihre Zieheltern in abstoßender Erinnerung hatte. Es hatte zwei aufeinanderfolgende Missernten und eine schreckliche Hungersnot gegeben. Monsieur berichtete, dass zuerst die Kinder zu Tausenden starben und dann die unterernährten Erwachsenen. Der Preis für das Hauptnahrungsmittel Brot verdoppelte, verdreifachte, ja vervierfachte sich in kurzer Zeit. Um nicht zu verhungern, hatten die Merçiers Geld zu üblichen Wucherpreisen geborgt. Als sie die Zinsen nicht bezahlen und dem Grand Seigneur keine Pacht mehr entrichten konnten, war ihr Schicksal besiegelt. Vier Jahre nachdem das Mädchen zu den Tierris gezogen war, wurde der karge Besitz der Merçiers gepfändet und die Familie vom Hof gejagt. Sie reihte sich ein in die Armee der zweihunderttausend Landstreicher und Vagabunden, die im ganzen Land herumirrten, bettelten, stahlen, krepierten. Mitleid hatte niemand.

Die erste Frau

Подняться наверх