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AUFBRUCH INS UNBEKANNTE

Mehr als einen Monat hatte Jeanne in dem kleinen fensterlosen Zimmer bei den Tierris gelegen und immer wieder unter Fieberanfällen gelitten. Das erste Mal in ihrem Leben war sie krank und fürchtete nun um ihre neue Stelle bei Doktor Commerson, weil sie nicht rechtzeitig nach Toulon-sur-Arroux reisen konnte. Gisèle schaute nach ihr, wann immer sie Zeit fand. Sie flößte heiße Getränke ein und packte ihren Liebling in Berge von Decken und Tüchern, damit der Schweiß die Krankheit austrieb. Monsieur hatte Doktor Commerson benachrichtigt, der postwendend darum bat, dass seine neue Angestellte sich nach ihrer Genesung unverzüglich auf den Weg machen sollte. So kam es, dass sie erst am 22. April abreisen konnte.

Tränen liefen Jeanne über die Wangen, als sie sich schweren Herzens von den lieben Tierris trennte. Gisèle weinte ununterbrochen und rang die roten Hände. „Teile uns sofort mit, wie es dir ergeht, mein Kind“, rief sie zum Abschied. Monsieur hatte ein Pferd angespannt und fuhr sein Mündel mit dem Leiterwagen bis zur nächsten Poststation. Er gab ihr zum Abschied nur kurz die Hand und lenkte den Wagen dann sofort nach Mabelle zurück. Jeanne wusste, es war nicht der Mangel an Zuneigung. Im Gegenteil, er war zu gerührt, um die Trennung lange hinauszuzögern. Während der Fahrt hatte er meist geschwiegen und Jeanne nur ermahnt, auf ihre Gesundheit achtzugeben.

Jeannes Leben war fortan geteilt in ein Davor und ein Danach. Sie empfand eine tiefe Traurigkeit, wie sie wohl alle einschneidenden Veränderungen mit ungewissem Ausgang mit sich bringen. Der Garten von Mabelle war ihre Heimat, die sie nun verlor. Die einzige Welt, die sie bisher gekannt hatte, blieb zurück. Dazu kam ein beklemmendes Gefühl, was die Zukunft bringen würde. Je weiter sie sich von ihrem Heimatort entfernte, desto mutloser wurde sie. War es die richtige Entscheidung gewesen, sich auf das Ungewisse einzulassen? Schon bald jedoch gewann die Neugier die Oberhand. Sie fühlte sich wie ein Vogel, der einem Lockruf folgt. Sie war jetzt nicht mehr bei den Tierris daheim, sie gehörte nun woanders hin, wie immer das aussehen mochte. Jeanne sprach sich Mut zu. Sie hatte ja ein ganzes Leben vor sich.

Auf Felder schaute sie und immer wieder Farmhäuser und Teiche, an denen Angler ihr Glück versuchten. Als die Kutsche nach kaum sechs Stunden Fahrt am Nachmittag in Toulon-sur-Arroux ankam, fiel Jeanne als erstes die hohe Stadtmauer auf, die an vielen Stellen schon zerfallen war. Sie bestaunte neugierig die langen, von hohen Platanen gesäumten Straßen und die schmucken Häuser mit den großen Grundstücken zu beiden Seiten. Das Flüsschen Arroux, das auch an Bande vorbeifloss, wand sich in kleinen Bögen durch den Ort. Der Frühling machte sich bemerkbar, das erste helle Grün spross überall, und es war ungewöhnlich mild. Einige Apfelbäume standen in voller Blüte.

Wenn sie zurückdachte, sah Jeanne ein beschauliches, ruhiges Städtchen, in dem nichts Aufregendes passierte. Damals aber war ihr Philes Wohnort sehr groß vorgekommen. So viele Menschen hatte sie noch nie gesehen. Sie fühlte sich unsicher und bekam Angst vor ihrer eigenen Courage. Wie würde sie in dieser Fremde zurechtkommen, wie die Erwartungen von Doktor Commerson und seiner Frau erfüllen können? Sie war doch völlig unerfahren.

Jeder schien den Doktor zu kennen. Als Jeanne zwei Frauen, die sich nahe der Poststation angeregt unterhielten, nach dem Weg fragte, antwortete die dicke Matrone mit den Einkaufstaschen: „Ah, Monsieur le Docteur! Ja, der bewohnt das Eckhaus an der Rue de Briot. Gehen Sie nur immer an der Arroux entlang.“ Die zweite Frau stand vornübergebeugt, als wäre ihr Rückgrat verkrümmt und musste den Kopf nach oben drehen, um sie ansehen zu können. Jeanne blickte in ein aufgedunsenes Gesicht voller Runzeln. „Du wirst ein Trauerhaus vorfinden, Mädchen. Die gute Madame Commerson ist vor sechs Tagen gestorben.“ Die Vettel stieß die schockierende Nachricht so schnell hervor, als müsste sie darum fürchten, die Unglücksbotschaft nicht als Erste loszuwerden. „Madame ist gestorben?“ „Ja, sie hat die Geburt ihres Sohnes nur zwei Tage überlebt. Es ist so traurig. Der Doktor ist ganz außer sich. Wie viele seiner Patienten sind auch wir zur Beerdigung gegangen. Wir haben geweint. So eine feine Frau und erst zwei Jahre verheiratet.“

Erschüttert wandte sich Jeanne ab und ging ein paar Schritte, bevor sie stehenblieb, um sich zu fassen. Wäre sie nur rechtzeitig nach Toulon-sur-Arroux gekommen, dann hätte sie ihren Dienst ordnungsgemäß beginnen können. Sie machte sich Vorwürfe, als wäre sie schuld am Tod der Frau. Dabei konnte sie nichts für das Unglück.

Als sie mit ihrem Bündel den dicht mit Büschen bewachsenen Fluss entlanglief, tat ihr jeder Schritt weh. Sie trug ihr erstes Paar Leinenschuhe, das Monsieur Tierri ihr gekauft hatte, damit sie ihre neue Stelle nicht wie ein Bauernmädchen in Holzpantinen antreten musste. Leider scheuerten die Schuhe so sehr an der Ferse, dass sie am liebsten barfuß gelaufen wäre. Jeanne war stolz auf das schlichte hellgrüne Kleid, das Gisèle für sie genäht hatte. Gisèle hatte auch dafür gesorgt, dass sie ihre langen Haare hochsteckte und eine beige Haube aufsetzte, an die sie sich erst gewöhnen musste.

Sie war aufgeregt und zugleich niedergeschlagen, als sie durch die Gartenpforte auf das zweistöckige, weiß getünchte Haus zuging und an die Tür klopfte. Eine adrett gekleidete Frau um die Vierzig öffnete und beäugte sie neugierig von oben bis unten. Die Dienstmagd trug eine kappenartige Kopfbedeckung, deren blendendes Weiß ihre roten Pausbacken hervortreten ließen. Mehrere Unterröcke bauschten ihr schwarzes Wollkleid so auf, dass die gestärkte schwarze Schürze abstand.

„Das muss das neue Kindermädchen sein!“, rief sie aus, drehte dabei die Augen nach oben, sodass nur das Weiße des Augapfels zu sehen war, und seufzte. „Ich kann es noch nicht fassen! Die liebe Madame! Jetzt dienst du in einem Trauerhaus. Wärst du nur früher gekommen!“ Jeanne schaute betroffen in die vom Weinen geröteten Augen der Magd, weil sie glaubte, einen Vorwurf herausgehört zu haben. Aber dann sagte die einen Kopf kleinere, pummelige Frau mit trauriger, aber freundlicher Stimme: „Ich heiße Josephine, und du bist Jeanne, ich weiß schon. Ich habe kein so junges Mädchen erwartet. Viele Kinder hast du wohl noch nicht betreut, was? Und für die Milch müssen wir wohl die Amme auch weiterhin bemühen. Komm herein, ich zeige dir erst einmal alles. Der Doktor hat die Praxis zwar geschlossen, aber er muss einen Fuhrmann behandeln, dessen Bein unter die Räder gekommen ist.“

Sie betraten einen viereckigen Flur, von dem mehrere Zimmer abgingen. Gegenüber der Eingangstür führte eine geschwungene Holztreppe zum ersten Stock hinauf. „Rechts geht es zum Warte- und Behandlungszimmer des Doktors. Hier links zeige ich dir das Wohn- und Esszimmer.“ Natürlich staunte Jeanne über all die neuen Eindrücke. Nie zuvor hatte sie ein Bürgerhaus betreten. So viel Platz; so viele schöne Dinge. Im ersten Raum stand ein großer brauner Tisch mit sechs Stühlen, ein hoher Schrank mit einer Doppeltür, eine Truhe, auf der ein fünfarmiger Kerzenleuchter stand, eine Kommode mit vielen Schubfächern. Auf Tisch und Kommode thronten dickbauchige Vasen. Es waren die ersten Gegenstände aus Porzellan, die Jeanne anfasste. Bei Monsieur und Gisèle hatte es nur Teller und Schüsseln aus Holz und Zinn gegeben. „Hier haben die Herrschaften gegessen“, seufzte Josephine, in die Runde zeigend. „Nun speist nur noch der Doktor hier. Ganz allein. Wir essen in der Küche, Jeanne.“

Eine Verbindungstür führte in ein Zimmer, in dem ihr eine bettartige Liege mit erhöhtem Kopfteil und einer Lehne auffiel. Josephine, die ihre neue Kollegin beobachtete, erzählte bereitwillig, „Madame liebte ihr Chaiselongue. Bevor sie niederkam, hat sie immer darauf geruht. Immer wenn sie Migräne hatte. Der Doktor hat ihr dann ein Gebräu aus Brechnuss, Tollkirsche und Fingerhut gemischt, aber es hat selten geholfen.“ Neben der Liege stand noch ein Sessel mit einem Schemel davor. Auf einem runden Tisch hatte jemand scheinbar achtlos Tabakpfeifen um einen mehrarmigen Leuchter abgelegt. Eine Wand war fast völlig von einem Bücherschrank ausgefüllt. So viele Bücher! Monsieur Tierri hatte nur wenige Bücher auf einem Bord stehen gehabt. Meistens hatte er Bände aus der Bibliothek von Mabelle ausgeliehen.

Als Jeanne Josephine fragte, warum die Spiegel im Flur und den anderen Räumen schwarz abgehängt seien, sah sie das Landmädchen erstaunt an. „Aber das ist doch überall Brauch, wenn jemand gestorben ist. Wo kommst du bloß her?“ Jeanne sagte ihr nicht, dass in Bande niemand einen Spiegel besaß. Sie hatte sich nur ab und zu in der kleinen Spiegelscherbe betrachten können, die in Gisèles Küche hing. Sie war nie zufrieden gewesen mit ihrem Abbild, das sie so gar nicht mit ihrer Vorstellung von sich selbst in Einklang bringen konnte. Das sommersprossige Gesicht, das ihr da entgegenstarrte, war viel zu breit. Die Nase schien etwas zu groß geraten, die Augenbrauen zu haarig, der Mund zu schmal, die Ohren zu groß, die Augen zu braun. Aber was wusste sie schon, wie ein schönes Gesicht auszusehen hatte.

Im ersten Stock öffnete Josephine die Tür zu einem winzigen Zimmer mit einem Bett und einer Truhe. „Das ist unser gemeinsames Zuhause, Jeanne. Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen, sonst wird es hier noch enger, als es ohnehin schon ist. Das Schlafzimmer von Monsieur gegenüber unserer Kammer darf seit dem Tod von Madame niemand betreten. Daneben ist das Pflanzenreich verborgen, in dem der Doktor arbeitet, wann immer er eine freie Minute erübrigen kann. Aus Minuten werden meist Stunden und Nächte. Da darf niemand den Herrn stören.“ Josephine plapperte weiter, während sie auf die vierte Tür zuging. „Am Geschrei hast du schon erkannt, wer hier herrscht: der winzige Archambaud. Er wartet schon auf seine Ersatzmutter.“

Der viereckige Raum war bis auf das winzige Schaukelbettchen Archambauds fast leer. Das Fenster war mit Gardinen voller zartrosa Tulpen drapiert und wie die Wiege voller Rüschen. „Gut, dass du endlich da bist, Jeanne“, sagte Josephine noch einmal und legte der neuen Kinderfrau den schreienden Buben in den Arm. „Ich habe nach dem Tod von Madame so viel um die Ohren gehabt, dass ich mich kaum um das Balg kümmern konnte.“

Jeanne hatte durchaus Erfahrung bei der Betreuung von Säuglingen. Wie oft hatte sie sich bei Onkel Paul und Tante Élise über deren brüllendes Baby geärgert, das zur Welt gekommen war, als Jeanne gerade neun Jahre gezählt hatte. Manchmal war sie so wütend auf den Wurm gewesen, dass sie ihn angeschrien und auch heimlich gekniffen hatte. Kaum ein Jahr alt, war der Winzling gestorben und neben dem Haus begraben worden. Élise schien der abermalige Tod eines ihrer Kinder nicht sonderlich zu bewegen; vielleicht war sie froh, einen Esser weniger ernähren zu müssen. Jeanne hatte noch lange ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie glaubte, die kleine Marianne wäre tot, weil sie das Baby oft gezwickt hatte, wenn ihr der Schreihals auf die Nerven ging.

„Willkommen in Toulon-sur-Arroux, Mademoiselle!“, tönte die tiefe Stimme des Doktors, als sie gerade das Baby säuberte. „Schön, dass Sie wieder gesund sind. Sie sehen, Sie werden gebraucht!“ Jeanne blickte von ihrer Arbeit auf und versuchte in gebückter Stellung ihre Knie etwas zu beugen, um einen Knicks anzudeuten, streckte dabei aber nur ihr Hinterteil weiter heraus. „Sagen Sie Bescheid, wenn sie fertig sind, ich will Ihnen meine Schatzkammer zeigen.“ Und schon war der Doktor wieder verschwunden. Josephine schaute das neue Kindermädchen überrascht an und fragte halb vorwurfsvoll, halb neugierig: „Warum siezt er dich und sagt Mademoiselle zu dir?“ „Ich habe als Gärtner bei Baron de Brandonne auf Mabelle gearbeitet“, log Jeanne, „und bin dem Doktor bei der Suche nach unbekannten Pflanzen zur Hand gegangen. Er hat mich wohl weniger wegen Archambaud angestellt, vielmehr, weil er einen Gehilfen für sein Pflanzenreich braucht.“ „Aber das ist noch lange kein Grund, dich Mademoiselle zu nennen. Du kommst doch vom Dorf, wie ich höre.“ Josephines empört klingende Fragen machten Jeanne unsicher, was sie aber unbedingt verbergen wollte. Warum der Doktor sie Mademoiselle nannte, wusste sie selbst nicht. „Er will mich wohl ein wenig necken. Das ist alles“, sagte sie zu ihrer Verteidigung, aber das skeptische Gesicht der Magd zeigte, dass sie mit der Erklärung nicht zufrieden war.

Um die Angelegenheit herunterzuspielen, versuchte Jeanne Josephine abzulenken. „Monsieur ist zwar totenblass, sieht aber sonst gelassen aus.“ „Das täuscht. Ich glaube, der Mann reißt sich nur zusammen. Er hat sich zwei Tage und Nächte eingeschlossen und wollte niemanden sehen. Die Beerdigung und alles Drumherum hat der Bruder von Madame organisiert, Abbé Antoine Beau, der hier in Toulon-sur Arroux Seelsorger ist.“ In vorwurfsvollem Flüsterton fügte sie hinzu: „Madame hätte nicht mehr schwanger werden dürfen. Sie war ja schon zweiundvierzig, als sie niederkam.“

Später führte der Doktor Jeanne in seinen großen Arbeitsraum, den sie neugierig inspizierte. An den Wänden standen hohe Regale, von oben bis unten vollgestellt mit Büchern, Flaschen, bauchigen Tiegeln und Mörsern. Auf einem Tresen standen Fayencetöpfe, Waagen, Gewichte und Spiritusbehälter. Als sie eine Zeitschrift aufnahm, beobachtete Monsieur Commerson sie gespannt. „Das Journal d’agriculture“, erklärte er, „ist eine viel gelesene Zeitschrift, in der die neusten Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften besprochen werden. Botanik, Chemie, das soll einen praktischen Nutzen haben und der Landwirtschaft dienlich sein.“ Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Pflanzentrockenraum und wies auf ein großes Paket. „Ich habe soeben Pflanzen aus der Schweiz zugesandt bekommen. Wir werden sie gemeinsam klassifizieren; da lernen Sie gleich, wie man das genau macht.“ Auf zwei Tischen sah Jeanne verschnürte Packen voll angegilbtem Papier, aus dem Stängel und Blätter von Pflanzen herausragten.

Fortan teilte die neue Angestellte ihre Zeit zwischen Archambaud und den Herbarien des Doktors auf, was sich nach einer Zeit der Eingewöhnung gut einspielte. Die Wiege stand zwischen den Pflanzen, die auf dem Boden ausgebreitet waren, und wenn das Kind aufmuckte, wippte sie das Bettchen mit dem Fuß. Anfangs war ihr die ständige Beaufsichtigung des Babys lästig, aber allmählich gewann sie den Buben so lieb, dass sie jeder Seufzer aufmerken ließ. Schließlich nahm sie Archambaud öfter in den Arm und liebkoste ihn inniger, als sie es je für möglich gehalten hatte. Sie verliebte sich vor allem in die hellblau leuchtenden Augen, die ihm sein Vater vererbt hatte.

Josephine war die Doppelrolle der Neuen nicht geheuer. Sie wusste nicht recht, wie sie mit ihr umgehen sollte. Einesteils stand das Kindermädchen auf einer Stufe mit der Magd, andererseits war nicht zu übersehen, dass Jeannes Kenntnisse weit über ihren Horizont hinausreichten. Natürlich entging ihr nicht, dass die undurchsichtige Person viel Zeit mit dem Doktor verbrachte. Als sie auch noch sah, dass ihre Zimmergenossin schreiben konnte - Jeanne hatte in der Küche einen Brief an Monsieur Tierri und Gisèle verfasst, in dem sie von ihrer neuen Tätigkeit berichtete -, sonderte sich die Magd ab und zeigte ihre Ablehnung ganz offen. Jeanne blieb immer freundlich, aber die Kluft zwischen den beiden ließ sich nicht überbrücken.

Abgesehen von den Differenzen mit Josephine, war Jeanne äußerst zufrieden mit ihrem neuen Leben. Jeden Tag freute sie sich aufs Neue über ihr Glück und das luxuriöse Leben, das sie führte. Sie liebte ihre Aufgaben und das fröhliche Baby Archambaud. Zwar dachte sie immer wieder an Gisèle und hörte ihr Gerede bei der Arbeit in der Küche, sah Monsieur Tierri, wie er ihr das Rechnen beibrachte, aber je mehr die Wochen vergingen, desto seltener blickte sie zurück. Auch was sie träumte, spielte sich nicht mehr in der Umgebung von Mabelle ab, sondern nahm nun vor dem Hintergrund von Toulon-sur-Arroux wechselnde Gestalt an. Wie rasch sich doch ihr Leben gewendet hatte.

* * *

Doktor Commerson war ein angesehener Bürger, der regelmäßig Sprechstunde abhielt. In den zwei Jahren seiner Tätigkeit hatte sich herumgesprochen, dass er ein guter Arzt war. Jeanne beobachtete, wie er sein umfangreiches Wissen über Heilpflanzen dazu nutzte, mit immer neuen Mixturen und Tinkturen zu experimentieren. „Auf die genaue Zusammensetzung kommt es an“, lehrte er sie, während er immer neue Kräutermischungen ersann. Für seine berühmteste Arznei mischte Phile zwanzig verschiedene Pflanzenextrakte zusammen. Da der Arzt auch Patienten behandelte, denen er keine hohe Rechnung ausstellen konnte, trauten sich auch arme Leute in seine Praxis. Wer kein Bargeld hatte, bezahlte mit Naturalien. So war die Küche immer gefüllt mit Gemüse und Obst. Ab und zu wurde einer Gans der Garaus gemacht, einem Huhn der Kopf abgehackt oder einem Kaninchen das Genick gebrochen. So gute Mahlzeiten wie in Josephines Küche hatte Jeanne noch nie gegessen.

Der Doktor öffnete seine Praxis nur an drei Tagen, um freie Zeit für seine eigentliche Berufung zu haben. Wochenlang sortierten sie Pflanzen und trockneten sie zwischen großen Löschblättern. Fortwährend belehrte sie der Botaniker, der sich in der Rolle des Allwissenden gefiel, doch konnte sich Jeanne nicht immer konzentrieren, weil sie auch auf das Nörgeln und Quengeln von Archambaud achten musste. Sie wollte nicht, dass er zu schreien anfing und so Monsieur Commersons Unterweisungen störte. Sein Vater war stets ungehalten, wenn sich seine Elevin nicht ganz seinen Worten widmete, sondern durch den Säugling abgelenkt wurde. Commersons Stimmung war an seiner Stirn abzulesen, wo sich schnell steile Zornesfalten eingruben und die Augenbrauen zu einem durchgehenden Strich zusammenzogen. „Hören Sie nun zu oder nicht!“, fuhr er sie an. „Ich werde das unbearbeitete brache Feld ihrer Intelligenz umfassend bestellen, Mademoiselle. Aber dazu müssen Sie ein gehöriges Scherflein beitragen!“

Die Schülerin bemühte sich aufmerksam zu sein, auch wenn sie sich dem Kind zuwandte. Dass ihr Herr oft ungeduldig war, machte ihr nichts aus. Innerlich lächelte sie darüber. Wie er so leidenschaftlich redete und dozierte, durch das Fenster in die Ferne blickte und von großen Entdeckungen sprach, wirkte der große Mann wie ein aufgeregter Junge. Aber gerade seine Begeisterung, seine Leidenschaft zog sie an und übertrug sich schnell auf sie. Dieser Mann konnte ihren Hunger nach Wissen stillen, sagte sich Jeanne wieder. Die Menschen ihrer Kindheit waren nur darauf bedacht gewesen, genug zu essen zu haben; für Bürger wie Commerson war das eine Selbstverständlichkeit: Sie konnten deshalb nach Höherem streben.

Mit der Zeit wurden Josephines Feindseligkeiten so unerträglich, dass Jeanne schließlich in Archambauds Zimmer umzog, was auch den Vorteil hatte, dass sie nicht mehr über den Flur zu dem Kind eilen musste, wenn es nachts schrie. Vor allem wenn das Baby fieberte oder sonst unwohl war, kuschelte sich das nackte Menschlein an seine Ersatzmutter. Was für ein seliges Gefühl erfüllte sie, wenn sich der Winzling anklammerte, wenn sie seine zarte Haut auf ihrem Bauch spürte, sein Köpfchen an ihre Wangen drückte! „Mein Kleiner, mein Lieber“, flüsterte sie beruhigend. „Es ist gut, es ist gut“. Durch ihre Zuneigung zu Archambaud, der sie so sehr brauchte, begriff Jeanne, was Mutterliebe bedeutete.

Mit der Zeit wurde ihr Commerson immer vertrauter. Im Haus trug er meist einen olivgrünen Rock, der im Rücken und an der Taille anlag und sich unten weit öffnete. Die graue Hose schmiegte sich so eng an, dass es nichts zu verbergen gab. Später hörte Jeanne, dass die Pariser diesen neuen Schnitt „die unkeusche Mode“ nannten. In der Folgezeit wurde ihr Blick von der „Mode“ immer wieder angezogen, was sie natürlich tunlichst zu verbergen suchte. Jedenfalls fühlte sie sich in der Nähe von Doktor Commerson zunehmend wohler. Er vertraute ihr mehr und mehr Aufgaben an und rief sie sogar gelegentlich in seine Praxis, wenn er Hilfe brauchte. Mal musste sie ihm während der Behandlung Instrumente reichen, mal einen Patienten festhalten. Bald schien der Doktor ohne ihre Assistenz nicht mehr auszukommen - oder auskommen zu wollen, wie sie ahnte.

Wenn Jeanne die Arbeit des Doktors mit ihren Kindheitserfahrungen im Weiler Bande verglich, wurde ihr klar, dass man dort rein gar nichts von moderner Medizin wusste. Wenn jemand Zahnschmerzen hatte, hängte er sich einen in Stoff gewickelten Männerzahn um den Hals oder eine Bohne, in der eine Laus gefangen saß. Litt ein Kind unter Bauchschmerzen, steckte ihm die Mutter ein Stück seiner getrockneten Nabelschnur unters Kleid. Hatte einer ihrer Söhne schweren Durchfall, nahm Tante Élise den Kot eines Hundes, der drei Tage nur Knochen genagt hatte, und mischte ihn mit Milch.

Josephine beobachtete die Bevorzugung Jeannes mit immer finsterer Miene; ihre Laune wurde immer giftiger, die Lippen immer verkniffener. Eines Tages rief der Doktor seine Assistentin ins Esszimmer, wo ihn Josephine bediente, und bat sie, am Tisch Platz zu nehmen. Er wollte während des Essens nicht alleine sein und redete über Blumen, die ihm aus der Bretagne geschickt worden waren, und was damit zu geschehen hätte. Gelegentlich schielte Jeanne zu Josephine hinüber, die Monsieur Fleisch nachlegte. Ihr verkniffenes Gesicht und die stummen Mundbewegungen, die empörte Worte ahnen ließen, signalisierten unmissverständlich, dass sie die Anwesenheit einer Hausangestellten am Tisch des Herrn für völlig unangebracht hielt. Es schien sie zu beleidigen, dass die Kinderfrau, diese schlichte Tagelöhnerin, am gleichen Tisch saß wie der Herr Doktor.

Im Haus Commerson sah Jeanne zum ersten Mal verzinntes Besteck, glänzend polierte Löffel, Messer und Gabeln mit Verzierungen und Inschriften. Onkel Paul, Tante Élise und ihre Jungen hatten gemeinsam mit Holzlöffeln aus einer Holzschüssel gegessen. Dem Mädchen klatschte man Brei in einen Topf, den es im Stall essen musste. Monsieur Tierri und Gisèle benutzten Holzlöffel und Messer und Gabeln mit zwei Zinken aus Blech. Jeanne musste wohl Monsieurs Gabel mit vier Zinken zu neugierig betrachtet haben, jedenfalls hielt der Doktor das Essbesteck hoch und lachte. „Bei Monsieur Tierri gab es wohl keine Gabeln mit vier Zinken, was, Mademoiselle!“ Dann fügte er mit einem verschmitzten Lächeln und betont leise hinzu, als sollte es außer ihr niemand hören: „Wissen Sie, der Gärtner des Barons scheint mir ein allzu treuer Anhänger der Kirche zu sein. Die Pfaffen haben nämlich noch vor gar nicht langer Zeit vierzinkige Gabeln als Symbole des Teufels angesehen und sie deshalb verdammt.“

Dann kam eine Zeit, in der die Zusammenarbeit sich veränderte. Wenn der Botaniker ihr eine neue Pflanze reichte oder mit dem Finger auf Details wies, um Jeanne etwas zu erklären, berührte er sie dabei flüchtig, wobei sie instinktiv spürte, dass es Absicht war. Ihr Herz flatterte vor Aufregung, weil sie ahnte, dass die scheinbar zufälligen Berührungen nur der Anfang weiterer Annäherungsversuche sein würden. Erst ließ er einen Finger, dann die Hand auf ihrem Arm ruhen, doch sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Einmal, Jeanne stand etwa ein halbes Jahr in seinen Diensten, strich er über ihren Arm, und schließlich glitt seine Hand vom Ellbogen bis zur Schulter hinauf. Dabei sprach der Doktor über die Blumen auf dem Tisch, als ob nichts geschehen wäre.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wie sollte sie sich verhalten? Die Berührungen ihres Herrn waren aufregend, aber wo würden sie hinführen? Monsieur Tierri hatte seinem Mündel von traurigen Schicksalen berichtet, von Dienstmädchen, die geschwängert und dann auf die Straße gesetzt wurden, wo sie elendiglich verkamen. Angestellte waren völlig abhängig von ihrem Arbeitgeber und konnten leicht erpresst werden.

Josephine weigerte sich schließlich, für das „unverschämte Weibstück“ zu kochen und forderte Jeanne durch beleidigende Äußerungen heraus. „Mach dir dein Essen selber!“ „Kannst doch scheinbar sonst alles!“ „Ich bin nicht deine Magd!“ „Bald legst du dich auch noch zu Monsieur ins Bett!“ Eines Tages, mitten im Winter, wurde der Doktor zufällig Zeuge einer bösen Tirade Josephines. Sie war so zornig, dass sie sich auch bei Monsieur lauthals über „die Dorfschlampe“ beschwerte, als er sie zur Rede stellte. Es war das erste Mal, dass Jeanne seinen Jähzorn aufblitzen sah. Der Doktor lief puterrot an, eine steile Falte grub sich in die Stirn ein, die Adern am Hals traten hervor, als er losbrüllte: „Du unverschämte Person, du wagst es, so mit mir zu sprechen? Verlass sofort mein Haus!“ Er deutete mit einer abrupten Bewegung zur Küchentür und schrie: „Raus! Raus aus meinem Haus!“

Josephine wurde aschfahl und fiel so sichtlich in sich zusammen, dass sie Jeanne plötzlich leid tat. Unter Tränen stammelte die Entlassene Entschuldigungen, bat um Verzeihung, aber Monsieur Commerson war unerbittlich. Jeanne sah sie nie wieder, doch die böse Zunge der Magd verfolgte Jeanne auch weiterhin. Es dauerte fünf Tage, bis ein neues Hausmädchen eingestellt wurde.

Hortense, eine Achtzehnjährige mit langen Zöpfen, rosigem Gesicht und einer schmalen Figur, die Jeannes ähnlich war, blieb bei ihren Eltern wohnen. Ihr Vater war ein armer Tagelöhner, der von Gelegenheitsarbeiten lebte. Sie kam um fünf Uhr in der Früh ins Haus, fing an, die Öfen zu heizen, und verließ es vierzehn Stunden später, nachdem sie das Geschirr vom Nachtmahl abgewaschen hatte. Die Frauen kamen gut miteinander aus, weil Hortense von Anfang an die überlegene Stellung der Assistentin des Doktors akzeptierte und ihren Anweisungen folgte.

Die erste Frau

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