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BÉBÉ

Im Herbst des Jahres 1746 änderte sich Jeannes Leben zum ersten Mal drastisch. Sie musste sechs Jahre alt gewesen sein, da holte Onkel Paul Merçier das kleine Mädchen ab, ein Nachbar, der am Rande des winzigen Weilers Bande in Burgund wohnte. Der kleine, dünne Mann mit schlaffem Gesicht, schütterem Haar, schweren Lidern und vorquellenden Augen, sprach mit strenger Stimme. „Hol dein Bündel, Jeanne, du kommst jetzt mit mir.“ Die Eltern des Mädchens waren weggegangen und hatten es für den Tag alleingelassen. Das Kind sollte den Boden kehren und die Wasserkrüge auffüllen. Erst danach durfte es mit Claire herumtollen, der Nachbarstochter, deren Vater auch Tagelöhner war. Claire war das jüngste von zehn Kindern. Die beiden hatten sich ein Spiel ausgedacht, bei dem sie sich mit ihren Puppen auf eine Reise zum König aufmachten. Die spindeldürren Freundinnen pflückten Wiesenblumen und stellten die schönsten Farben zusammen, um einen Strauß für die Prinzessinnen in seinem Schloss zu binden.

Ihr Vater, Pierre Baret, war Lohnarbeiter, ein manoeuvre, der für die feinen Herren auf der niedersten Stufe des Menschseins stand. Schlimmer waren nur noch die Bettler und Wegelagerer dran. In Frankreich gab es zwei Millionen Manoeuvres, die all die niederen Arbeiten verrichteten, ohne die der Staat nicht funktionierte. Aus ihrer Masse wurden die Soldaten und Seeleute rekrutiert. In den Städten reinigten sie die Kloaken, waren Abdecker, Totengräber oder Dienstboten, auf dem Land stellten sie die Saisonarbeiter, die je nach Jahreszeit einigermaßen zurechtkamen oder Hunger litten. Pierre Baret verdiente ein paar Sous, wenn er mähte, erntete, drosch, Holz hackte oder Abwässergräben aushob, aber im Winter fand er meist keine Arbeit. Es war ein elendes Dasein, geprägt von der ständigen Angst zu verhungern. Zum Glück durfte die Familie einen kleinen Gemüsegarten bestellen.

Die Barets hausten in einer erbärmlichen kleinen Kate mit gestampftem Lehmboden. Wie alle Häuser war sie aus dem düsteren Stein gebaut, der typisch für die Region war. Das Häuschen bestand nur aus einem Raum, in dem Eltern und Tochter in einem Bett schliefen und die Mutter über einer offenen Feuerstelle kochte. Dazu lagerten an den Wänden die kärglichen Vorräte. Den Barets war Jeanne als einziges Kind geblieben, nachdem drei Geschwister schon bei der Geburt gestorben waren und zwei nicht einmal das zweite Jahr überlebt hatten.

Sie wusste, dass der Mann, den sie Onkel Paul nannte, ein weit entfernter Verwandter ihrer Mutter war, kannte ihn aber nur von gelegentlichen Besuchen. Als er ihre wenigen Kleidungsstücke auf den Leiterwagen warf und sie hinaufhob, ohne irgendetwas zu sagen, fühlte sich die Kleine plötzlich bedroht und wehrte sich schreiend mit Händen und Füßen. Sie riss sich los, lief ins Haus und griff die geliebte Puppe Bébé, die ihre Mutter für sie aus Stoffresten genäht hatte. Jeanne hütete Bébé bis ins hohe Alter, und wenn sie das Heu roch, mit dem ihr Liebling ausgestopft war, dachte sie sofort voller Trauer an die Mutter, die ihr im Traum oft wie ein Engel erschien.

Schimpfend rannte Onkel Paul hinter dem Kind her und rief: „Hier kannst du nicht mehr bleiben!“ Er packte sie am Arm, schleifte sie nach draußen, hob sie auf den Wagen und drohte mit Prügeln, falls Jeanne noch einmal entwischen sollte. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah, weinte vor Angst und presste Bébé eng an sich, während Onkel Paul die Deichsel packte und sie zum Haus der Merçiers zog. Der Weg war voller Schlammlöcher, es nieselte, Dreck spritzte auf, Kot. Jeanne zitterte nicht nur wegen der Kälte.

Das winzige Häuschen, in dem Onkel Paul mit seiner Frau Élise und zwei Buben hauste, war kaum größer als die Kate der Barets. An einer Hausseite war ein Stall aus Holzlatten angebaut, in dem ein paar Haustiere untergebracht waren. Onkel Paul gehörte zu den mainmortables, Leibeigenen, die es nach altem Feudalrecht nur noch in wenigen Departements Frankreichs gab. Paul Merçier bearbeitete ein kleines Stück Land, von dessen Ertrag er den größten Teil an seinen Herrn abgeben musste, Baron de Brandonne. Der Grand Seigneur besaß viele Dörfer, Wälder und Felder, und jeder musste sein Korn in der Mühle des Herrn dreschen und das Brot in seinen Öfen backen lassen. Nur er besaß das Jagdrecht in den Wäldern und das Fischrecht in den Bächen und Flüssen.

Die Merçiers konnten ihre Scholle nicht verlassen, andernfalls würde ihr ganzer Besitz dem Baron zufallen. Ein Mainmortable durfte nicht ohne die Zustimmung seines Herrn heiraten, und seine Kinder konnten nur erben, wenn sie das Land auch weiterhin bestellten.

Onkel Paul schubste Jeanne in den Stall und warf ihre wenigen Sachen auf ein Strohlager. Als sie laut schluchzend wegzulaufen versuchte, hielt er sie am Nacken fest und drehte grob ihren Kopf, so dass Jeanne mit verweintem Gesicht zu ihm aufblicken musste. Das bleiche, stoppelige Gesicht des Mannes flößte ihr Angst ein. „Hör endlich auf, so störrisch zu sein, Jeanne! In Zukunft wirst du bei uns wohnen. Dies ist dein Schlafplatz. Drinnen im Haus ist kein Platz für dich. Es ist kaum Raum genug für Élise, mich und die beiden Jungen.“ Leise, als würde es ihm große Mühe machen, es auszusprechen, fügte er hinzu: „Du bist jetzt eine Waise, Jeanne. Deine Eltern sind tot. Sie sind im Arroux ertrunken, als sie übersetzen und an der Beerdigung deines Onkels Gaston teilnehmen wollten.“ Onkel Gaston war der Bruder von Jeannes Vater und der einzige enge Verwandte, der in einem Dorf am anderen Ufer wohnte.

Onkel Paul ließ Jeanne frei und sagte mit rauer Stimme: „Deine Eltern kommen nie wieder. Gott hat sie zu sich geholt.“ Was wusste Jeanne schon vom Tod. Das Wort „Waise“ hatte sie noch nie gehört. Sie konnte nicht begreifen, was Onkel Paul ihr da sagte. Maman und Papa kommen nie wieder? Das konnte doch nicht sein! Sie waren doch eben erst aus dem Haus gegangen, und Maman hatte gesagt, sie kämen bald zurück.

Jeannes Ohren füllten sich mit einem betäubenden Rauschen. Sie fühlte einen beißenden Schmerz in der Brust und war wütend auf die Eltern, weil sie ihr so Schreckliches antaten. Wo seid Ihr?, schrie es in ihr. Warum holten die Eltern sie nicht heim? Als Onkel Paul seine schwielige Hand auf ihren Kopf legte, trat sie trotzig um sich und schrie ihren Schmerz heraus. „Das ist nicht wahr! Du lügst! Das ist nicht wahr!“ Onkel Paul versuchte vergeblich, sie zu beruhigen, doch als sie nicht aufhörte, verzweifelt „Maman! Maman!“ zu rufen, gab er ihr eine Ohrfeige; das tat er jedes Mal, wenn Jeanne wieder anfing, ihren Kummer herauszubrüllen. Mit zornesrotem Kopf rief er: „Du bleibst so lange im Stall, bis du dich beruhigt hast!“ und schlug die Tür hinter ihr zu. Jeanne trat immer wieder gegen das Holz, kreischte, weinte, aber vergebens. Endlich ging sie in die Knie, lehnte sich gegen die Holzwand und presste die Hände um die blutig geschlagenen Füße.

Wie ein scheues, verletztes Reh kauerte Jeanne am Boden. Was war nur geschehen, dass es ihre heile Welt plötzlich nicht mehr gab, dass sie allein und ohne Schutz war, fremden Menschen ausgeliefert? „Maman! Maman!“ Nur ein paar fadendünne Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Wände und tauchten den Stall in ein schummriges Licht. Eine Kuh scharrte nervös in ihrem Pferch. Obwohl sie sich früher solch eine Hausgenossin immer gewünscht hatte, jagte sie ihr in dem dunklen Stall Furcht ein. Jeanne glaubte sich in die Hölle verstoßen, von der die Eltern so oft gesprochen hatten.

Nur allmählich gewöhnte sie sich an ihre neue Umgebung und an die neue Familie, die nicht ihre war. Das Kind spürte, dass die Merçiers sie als Belastung empfanden, obwohl sie von ihrer Arbeitskraft profitierten. Und arbeiten musste die Kleine von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang: Stroh häckseln, Wasser schleppen, die Kuh Marie melken, Flachs spinnen. Am liebsten harkte sie Heu zusammen, nachdem die kleine Wiese vor dem Haus gemäht war. Sie liebte den Geruch von Heu, weil er sie an ihre Mutter erinnerte. Bébé roch ja auch nach Heu.

Sie fühlte sich nicht nur wie eine Fremde, sie wurde auch so behandelt. Während der fünf Jahre, die Jeanne bei Élise und Paul lebte, hatte sie die menschliche Kälte ihrer Zieheltern schmerzlicher gespürt als den beißenden Winterfrost, gegen den sie ihr dünnes, zerrissenes Leinenkleid nicht schützte. Aber auch die anderen Kinder im Weiler Bande froren, hungerten und kannten keine Liebe. Das elende Dasein ließ keinen Raum für Mitgefühl.

Etwas Wärme bekam Jeanne nur von der Kuh Marie, deren unmittelbare Nachbarschaft sie bald zu schätzen wusste. Nachts schmiegte sie sich an das weiche Fell, spürte die Lebendigkeit des mächtigen Tieres und erzählte ihm all ihren Kummer. Die immerwährende Ruhe der Kuh besänftigte die Unglückliche in der Nacht und gab ihr das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Ihre abgearbeitete Mutter hatte sie nicht mit Zärtlichkeiten verwöhnt, aber sie hatte ihrem einzigen Kind, das überlebt hatte, doch ab und zu mit schwieligen Händen über den Kopf gestrichen und ihr das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Nachts, wenn Jeanne auf ihrem Strohlager schlief, beugte sich die Mutter in ihren Träumen wieder und wieder schemenhaft über das schweißnasse Mädchen. Sie sagte nichts, aber sie lächelte vertraut. „Maman, Maman“, murmelte Jeanne voller Sehnsucht.

In ihrer Einsamkeit verschloss sich Jeanne zunehmend in sich selbst. Sie erledigte ihre vielen Aufgaben so gut als möglich, war immer freundlich, so schwer es ihr auch fiel, und wartete doch vergebens auf ein Lob, ein anerkennendes Lächeln. Auf ihre kindlich naive Art kämpfte sie darum, sich einen Platz zu erobern. Und je älter sie wurde, desto mehr zeigte sich, wie zäh und unbeugsam sie war. Das bekamen die Söhne der Merçiers als erste zu spüren. Der dünne, stupsnasige Jean, der zwei Jahre älter war als Jeanne und der ein Jahr jüngere, plumpe, schwerfällige Nicolas piesackten sie ständig, schubsten und traten, wann immer sie dem „Kuhmädchen“ begegneten. Die Grobiane zogen sie an den Haaren hinter sich her, bewarfen sie mit Dreck und bürdeten ihr Arbeiten auf, die sie selbst hätten erledigen müssen. Jeanne wehrte sich jedes Mal, biss, kratzte, trat und schrie, aber mit den bösen Kerlen konnte sie es nicht aufnehmen. Dennoch stellte sie ihnen manchmal nach, war neugierig, was die Burschen trieben. Sie sah ja, dass die beiden so anders waren als sie selbst.

Wie die Erwachsenen, so erledigten auch die Kinder ihr Geschäft wie selbstverständlich in Gegenwart Anderer. Wann immer Jeanne musste, hob sie einfach ihr zerrissenes Kleidchen und hockte sich hin, wo sie sich gerade aufhielt. Sie ärgerte sich, weil Jean und Nicolas sie höhnisch „Hackenpisser!“ riefen, und war neidisch auf die beiden, weil sie im Stehen pinkeln konnten. Sie beobachtete, wie die Kerlchen mit einem Griff ihre kleinen Schwänzchen aus dem langen Schlitz im Vorderteil ihrer Hosen zogen und ihr Wasser in hohem Bogen spritzen ließen. „Wer weiter kommt, ist Sieger!“, rief Nicolas dabei seinem Bruder zu und strahlte natürlich immer weiter als der kleinere Jean. Im Stehen pinkeln, das wollte Jeanne auch. Sie stellte sich breitbeinig hin, schob das Becken vor und sprenzte los. Ihre linkischen Versuche gab sie allerdings schnell wieder auf.

Je ärger die Burschen sie triezten, umso entschlossener war sie, der Quälerei bei günstiger Gelegenheit ein Ende zu machen. Als eines Tages die bösen Buben die Stalltür aufstießen, sich großspurig hinstellten und auf ihr Strohlager pinkelten, wurde Jeanne so zornig wie noch nie in ihrem jungen Leben. Sie packte die Mistgabel, mit der sie jeden Tag das kotige Stroh von Marie wegschaufelte, und rammte Nicolas die Spitzen in den Hintern. Als der Knabe hysterisch herumsprang, wie am Spieß schrie und schließlich fluchend zu seinen Eltern humpelte, wurde ihr angst und bang. Onkel Paul prügelte Jeanne windelweich, aber sie hatte die Genugtuung, dass Nicolas und Jean ihr in Zukunft aus dem Weg gingen.

Jahraus, jahrein lief Jeanne entweder barfuß oder trug Holzpantinen, die ihre Füße wundscheuerten, aber sie war es nicht anders gewohnt. Vielmehr litt sie darunter, dass sie oft von Onkel Paul geschlagen wurde. Mal hatte sie angeblich den Stall nicht sauber genug ausgemistet, dann wieder hatte sie auf dem Feld zu langsam gearbeitet. Sie konnte ihm einfach nichts recht machen. Tante Élise war eine knochige, verbitterte Frau, mit müden, wie ausgehöhlten Augen. Die strähnigen, fettigen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und trug ein abgewetztes, vielfach geflicktes Kleid. Die harte Frau bestrafte „den überflüssigen Fresser“, wie sie Jeanne schimpfte, bei der geringsten Unachtsamkeit, indem sie ihr während der Hausarbeit Hiebe versetzte und ihr nichts zu essen gab.

Wie Jeannes Mutter war auch Élise von der ununterbrochenen Schufterei völlig ausgelaugt, dabei konnte sie trotz ihres zerfurchten Gesichts kaum älter als dreißig gewesen sein. Jeanne erinnerte sich nicht, jemals gesehen zu haben, dass Élise auch nur einen Augenblick lang die Hände in den Schoß legte. Die Bäuerin verschwendete keine Minute und verrichtete oft mehrere Aufgaben nebeneinander. Wenn sie Wasser holen ging, nahm sie ihren Spinnstock mit und spann auf dem Weg zum Brunnen und zurück zum Haus.

Hinter der Bauernkate lag eine Parzelle, die mit Flachs bebaut war, das Élise selbst verarbeitete. Tag für Tag hallte das Geklapper des Webstuhls aus dem kleinen Häuschen, und bald musste auch Jeanne lernen, was ein Kettfaden ist und was ein Schussfaden. Wie fast alle Bauern webten Frauen, Männer und Kinder grobes Leinen, aus dem die Kleidung der Bauern genäht wurde. Vor allem aber brachte es einen kleinen Nebenverdienst ein, ohne den die Familie kaum hätte überleben können. Trotz der ständigen Webarbeit trugen die meisten Landbewohner selbst nur zerlumpte Kleider.

So wie die meisten Bauern quälte auch Jeanne oft der Hunger. Sie aßen hauptsächlich einen Brei aus Buchweizen, Hafer- und Gerstenkleie, in den gehäckselte Strohstücke untergemischt wurden. Im Sommer gab es etwas Gemüse, dazu wurden wilde Beeren gepflückt. Fleisch konnte man sich nicht leisten.

Alles in der Natur um Jeanne herum äußerte sich für die Bauern bedeutungsschwer. Die Beschaffenheit der Wolken kündete von bedrohlichen Wesen, die dahinter hausten. Sterne lenkten den Alltag, und Schutzheilige sollten vor Übel bewahren. Die Menschen beteten Jesus und Maria an, fürchteten Teufel und Hexen, vertrauten Quacksalbern und Wahrsagern. Alle glaubten Gerüchten und Einflüsterungen mehr als ihren eigenen Augen, geschweige denn der Stimme der Vernunft. Die Welt war ein schreckenerregender, geheimnisvoller Ort, dem sich jedermann schutzlos ausgeliefert fühlte.

Ab und zu kamen Hausierer zum Weiler Bande, und das Mädchen bewunderte mit gierigen Augen den Flitterkram, den die bunt gekleideten Gauklergestalten anboten. Es war billiges Zeug, aber das Glitzern lockte, als wäre es der größte Schatz auf Erden. So gerne hätte Jeanne mit dem bunten Tand wieder Prinzessin gespielt, wie damals, als sie mit ihrer Freundin Claire Blumen für die Töchter des Königs geflochten hatte. Aber Claire war ja schon vor einiger Zeit an einer der vielen Krankheiten gestorben, die so viele Kinder dahinrafften. Als Prinzessin mussten mal Bébé und mal die Kuh Marie herhalten, die sie mit immer neuen roten Mohngirlanden, blau schimmernden Diademen aus Kornblumen oder weißen Mänteln aus geflochtenen Margeriten behängte.

Jeanne sah Männer in langen schwarzen Mänteln und Hüten, mit weit ausladenden, an den Seiten weich überhängenden Krempen, die in unregelmäßigen Abständen zum Weiler kamen. Sie mussten sich ins Fäustchen lachen, wenn sich das blöde Bauernpack die gepanschte Medizin andrehen ließ. Obskure Mittel sollten Schmerzen, böse Krankheiten oder Liebeskummer heilen. Jeanne sah, wie Élise Tinkturen gegen ihre großen Gesichtswarzen kaufte, obwohl sie doch bitterarm war. Vagabunden schwatzten den einfältigen Hinterwäldnern Horoskopkalender auf, magische Zahlen sagten die Zukunft voraus, die Form eines Gesichts oder die Farbe des Haares entschlüsselten den Charakter, förderten Laster und Tugenden zutage, prophezeiten das Schicksal. Und waren die Vorzeichen allzu beängstigend, gab es ja noch den Geisterbeschwörer, der den bösen Zauber mit einem Gegenmittel vertreiben konnte.

Dummheit und Aberglaube standen im Dienste der Herren. Trotz der brutalen Ausbeutung hatten sich die Bauern jahrhundertelang widerstandslos mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber immer mehr Stimmen protestierten jetzt auch gegen die unerträglich hohen Abgaben an die Großgrundbesitzer. Jeanne beobachtete, wie es eine Abordnung der abhängigen Pächter wagte, bei Baron de Brandonne vorstellig zu werden, wie sie unterwürfig am Eingangstor zum Schloss knieten und verzweifelt um Erleichterung der Bürde baten. Doch der Verwalter hetzte die Männer mit seinen Hunden davon. Da dem Baron auch die Gerichtsbarkeit auf seinem Territorium unterstand, waren ihm seine Hörigen rechtlos ausgeliefert. Der Hass auf die Unterdrücker wuchs unaufhaltsam. Dass kaum eine Generation später ihre Köpfe unter der Guillotine rollen würden, war damals undenkbar.

Die erste Frau

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