Читать книгу Die erste Frau - Wolfgang Ebert - Страница 13
ОглавлениеUNSICHTBARE MATERIE
Jeannes Arbeitsrhythmus blieb der gleiche. Ständig pendelte sie zwischen dem Pflanzenraum und der Praxis hin und her und kümmerte sich um Archambaud. Er war jetzt über ein halbes Jahr alt und musste nicht mehr von der Amme gestillt werden, die bislang täglich dreimal gekommen war. Der Doktor nutzte jede Gelegenheit, um mit seiner Gehilfin zusammen zu arbeiten, wobei sich die Spannung zwischen ihnen zusehends steigerte. Jeanne spürte, dass Monsieur Commerson ihr bald eindeutige Avancen machen würde, aber aus Angst, ihn zu verprellen, gab sie keine Signale, die ihn hätten zurückhaltender sein lassen.
Manchmal verschaffte sich der erregte Mann Luft, indem er sie anschnauzte. Er suchte pedantisch nach Fehlern, regte sich jedes Mal auf, wenn sie in der Blumenpresse ein Blatt abgeknickt oder übereinandergelegt hatte. Als sie einmal während einer seiner Lektionen Archambaud ansah und mit seiner Lippe spielte, was das Baby besonders erheiterte, fauchte er sie wieder an. „Lernen ist nicht einen leeren Kopf füllen, sondern das Feuer der Neugierde entzünden! Ich werde Sie abfragen, dann werden wir ja sehen, ob Sie behalten haben, was ich Ihnen beigebracht habe!“
Jeanne hatte ihrem Lehrer den Rücken zugedreht, weil sie Archambaud die Flasche geben musste, als er sagte: „Bitte entschuldige mein herrisches Benehmen, Jeanne. Es war nicht böse gemeint.“ Er hatte zum ersten Mal Jeanne gesagt, nicht Mademoiselle. Und dann legte er von hinten die Arme um das Kindermädchen, das das Baby hielt, und flüsterte: „Ich brauche dich sehr.“ Siedend heiß durchfuhr es sie. Sie war so aufgeregt, dass sie zu zittern begann. Gott, was sollte sie jetzt machen? Instinktiv drückte Jeanne Archambaud an sich, als wäre er ein Schutzschild. Der Doktor streichelte ihre Haare und hauchte: „Ich bin so froh, dass du da bist.“ Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Nachdem Hortense gegangen war, legte sich Jeanne in ihr Bett und wartete mit klopfendem Herzen. Sie wusste, er würde zu ihr kommen. Sie wusste auch, was für ein Risiko das bedeutete. Madame war schon seit über einem halben Jahr tot; seitdem lebte er ohne Frau. Was würde aus ihr werden, wenn sie ein Kind bekäme, was, wenn er nur einer Laune nachgab und sie bald auf die Straße setzte? Sie war ja ein Niemand.
Sie bestaunte seinen Reichtum, bewunderte seine Bildung, teilte seine leidenschaftliche Blumenliebe, dankte ihm unendlich, weil er ihr die Möglichkeit verschaffte, eine neue, aufregende Welt zu sehen. Sie schaute zu ihm auf, weil er ein Herr war und fühlte sich durch sein Interesse an ihr geschmeichelt. Sie mochte diesen Monsieur Commerson, doch sie hatte kein körperliches Verlangen nach ihm. Aber spielte das eine Rolle? Keine Frau bekam den Mann ihrer Wahl, sie ließen es über sich ergehen, weil ihnen nichts anderes übrig blieb.
Jeanne starrte in die Dunkelheit. Hatte sie wirklich keine Wahl? Sie könnte zu Monsieur Tierri und Gisèle zurückkehren. Aber das hieße, auf ewig im Garten von Mabelle bleiben, die Welt außerhalb seiner Mauern wären ihr auf immer verschlossen. Es wäre ein Rückweg ohne Zukunft. Lernen, Neues entdecken, besser leben, das konnte sie nur im Schatten von Doktor Commerson. Der redete unaufhörlich von Selbstbestimmung, wenn er sich über die gesellschaftlichen Zustände ausließ, aber er machte sich wohl kaum Gedanken darüber, dass seine Angestellte gar keine Wahl hatte, als ihn über ihr Schicksal entscheiden zu lassen. War das wirklich so, unverrückbar für alle Zeiten? Gab es nicht doch einen Weg, ihr Schicksal mitzubestimmen? Die Tür öffnete sich, und flackerndes Kerzenlicht erhellte schemenhaft den Raum. Phile machte keine Umstände, entschuldigte sich nicht, zog sich langsam aus und legte die Kleider wie selbstverständlich über den einzigen Stuhl im Zimmer. Jeanne war eingeschüchtert und doch erregt. Was würde der Mann mit ihr tun? Er zog die Decke beiseite, nahm sie in die Arme und drückte sie so eng an sich, dass die junge Frau seine Erregung spürte. „Ma petite“, sagte er und streichelte ihre Haare. Es war ein Kosewort, aber sie fühlte sich tatsächlich klein und diesem dreizehn Jahre älteren Mann schutzlos ausgeliefert.
„Monsieur“, flüsterte sie heiser, „Monsieur, das dürfen wir nicht tun, bitte!“ „Aber Jeanne, was hast du?“, antwortete er schmeichelnd und streichelte ihr Gesicht. „Monsieur, ich habe solche Angst!“ Sie sprach sanft, bittend, um Verständnis ringend. „Ich weiß von den unglücklichen Mädchen, die mit einem Balg auf die Straße gesetzt werden, wenn der Herr ihrer überdrüssig wird. Ich bin so gerne bei Ihnen. Ich bin glücklich, lernen zu dürfen. Ich liebe Archambaud. Das möchte ich nicht verlieren.“ „Jeanne, kleine Jeanne!“ Phile lachte. „Nenne mich bitte nicht Monsieur, sag Phile.“ Er nahm ihren Kopf in seine Hände, zog ihn ganz dicht vor sein Gesicht und schaute sie zärtlich an. „Du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst kein Kind bekommen, das verspreche ich dir.“
Phile löste sich von ihr, stand auf, zog einen Gegenstand aus seiner Jacke, kniete sich vor sie und zeigte ihr ein komisch aussehendes, schlauchartiges Gebilde, das bei dem flackernden Kerzenlicht nur undeutlich zu erkennen war. „Es ist zu gefährlich, ohne Vorsichtsmaßnahmen zusammenzuliegen, Jeanne. Ich möchte auch nicht, dass du schwanger wirst. Das gäbe einen großen Skandal, der meine Stellung in Toulon-sur-Arroux völlig untergraben würde.“ Phile hielt ein braunes Ding hoch. „Es gibt diese Vorrichtungen, die ein gewisser Doktor Condom entwickelt hat, der Leibarzt des englischen Königs.“
Wieder redete er in seinem üblichen belehrenden Ton, als handelte es sich um ein neues Instrument für seine Arztpraxis. „Deshalb nennt man sie auch Englische Überzieher. Sie sind aus Schafsdärmen gemacht und werden oben mithilfe eines Seidenbändchens zugebunden.“
Jeanne besah sich die Vorrichtung skeptisch. „Aber was ist, wenn ich nun doch ein Kind bekomme?“ „Es wird nichts passieren, Jeanne. Und wenn doch, dann würde ich für dich sorgen.“ Phile hob die rechte Hand, als wolle er schwören. Er sprach so ehrlich und überzeugend, dass Jeanne ihm glaubte; wohl aber war ihr ganz und gar nicht dabei.
Phile kniete sich neben sie und legte den Darm an, ohne dass sie es sehen konnte. Plötzlich schob sich der Doktor auf sie, drückte ihre Beine auseinander und versuchte, in sie einzudringen. Es ging nicht. Jeanne nahm alles genau wahr. Es war, als würde sie danebenstehen und zuschauen, wie Phile einige Male auf seine Finger spuckte, erst diesen Überzieher und dann sie selbst mit Speichel einrieb. Es dauerte nur ein paar Stöße, und schon entlud sich der Mann. Er lag eine Zeit auf ihr, atmete heftig und sagte dann leise: „Ich war so lange allein.“ Dann stand er auf, nahm seine Kleidung vom Stuhl und ging in sein Zimmer zurück.
Jeanne starrte in die Dunkelheit. Sie war erleichtert, dass alles so schnell gegangen war, aber auch enttäuscht. Warum war er sofort gegangen, einfach so, ohne etwas zu sagen? Sie fühlte sich unangenehm an ihr erstes Zusammensein mit Antoine erinnert. Sie fragte sich, ob sich Männer immer so benahmen. Hatte er sie doch nur benutzt? Waren alle seine Versicherungen Schwindel? Würde Monsieur wiederkommen?
Er kam wieder und hielt ihr sogleich einen langen Vortrag, dessen Sinn sie anfangs nicht verstand. Phile saß vor ihr und sprach in ernstem Ton, gestelzt, wie sie es sonst nur aus seiner Praxis kannte. „Jeanne, es gibt leider noch allzu viele Ärzte, selbst aufgeklärte Menschen sind darunter, die Körperreinigung als leichtfertig verurteilen und für viele Krankheiten verantwortlich machen. Sie warnen vor dem Umgang mit Wasser, weil es angeblich durch Poren in die Haut eindringe, sie aufweiche und so Krankheiten übertrage. Damit leisten sie einer tief in allen Kreisen verankerten Überzeugung Vorschub, eine dicke Schmutzschicht schütze den Menschen vor allem Übel. Diesen Unsinn aus den Köpfen zu verscheuchen, haben sich einige fortschrittliche Ärzte zusammengetan und dem Körperdreck den Kampf angesagt, indem sie die Gefahren körperlicher Unreinheit aufzeigen. Dreck schützt nicht, sondern ist vielmehr Hort vieler Krankheiten. Außerdem verstopft er die Poren und behindert den Fluss der Ausscheidungssäfte.“
Was redete er da?, fragte sich Jeanne. Sie war verwirrt. Als Phile mit der Bitte endete, sie solle sich in Zukunft einmal in der Woche waschen und vor allem ihre intimen Bereiche sauber halten, fühlte sie sich gemaßregelt und war sich doch keiner Schuld bewusst. Sie hatte sich noch nie gewaschen; niemand, den sie kannte, hatte sich je gewaschen. Jeder wusste doch, dass die Hautkruste die Pest abwies. Monsieur Tierri und Gisèle hatten sie nur angehalten, nach der Arbeit Schmutzflecken mit dem Tuch abzureiben.
Als Phile fortfuhr, sah Jeanne nur die Silhouette seiner breiten Schultern, weil das schwache Licht der Kerze genau hinter ihm flackerte. „Und dann der Geruch, Jeanne! Die übelriechende Schmutzschicht ist nicht nur abstoßend, sie verdeckt auch den eigenen, ganz persönlichen Geruch, der seine Wirkung nur entfalten kann, wenn man sich wäscht.“ Phile fuhr mit der Hand über seine Brust und Arme und zeigte dann auf sich und Jeanne. „Du und ich, wir sind von einer unsichtbaren Materie umgeben, die unsere Haut ausdünstet; diese Teilchen wirken auf unsere Sinne ein; ihr Geruch ist es, der über Zuneigung oder Abneigung entscheidet.“ Er fasste sich an die Nase und dann an die Stirn. „Die Nase ist der Ursprung des Gefühls, weil sie dem Gehirn am nächsten ist.“
Jeanne wusch sich anfangs nur widerwillig, tat es schließlich immer öfter, weil sie merkte, dass es Phile gefiel; und gefallen wollte sie ihm. Er kam ja auch immer häufiger, und schließlich war sie froh darüber und wartete sehnsüchtig darauf. Phile benahm sich ganz anders als bei seinem ersten Besuch, und so gelang es ihm, Jeanne nach und nach für sich zu gewinnen. Er nahm sie zärtlich in die Arme, roch ihre Haut, streichelte ihren Rücken, ihr Gesicht, die Arme, so lange, bis sich ihre angespannten Muskeln lockerten und sie die Liebkosungen ohne Scheu genießen konnte. Er küsste ihre Haare, ihren Hals, die Stirn, strich schließlich zart über ihre Brüste, ihren Bauch, wieder und wieder, und sie merkte, wie ihr erst ganz wohlig wurde und dann so heiß, dass sie sich schließlich eng an ihn presste und dem Druck seiner Hände und seines Körpers folgte. Als sein Mund ihre kleinen Brüste berührte, seufzte sie auf; eine Sehnsuchtswelle durchlief ihren Körper, alles drängte zu diesem Mann. Die ganze Zeit flüsterte Phile Koseworte. Ganz behutsam legte er sich auf sie, legte eine Hand unter ihren Kopf, die andere unter ihren Hintern und drang ganz langsam in sie ein. Wie kann man Seligkeit beschreiben, Erschauern, steigendes Verlangen. Jeanne reagierte auf Philes immer heftiger werdendes Stoßen und Zucken, bis sich alle Gefühle in einem Punkt vereinten und sie wie von Ferne ihre eigene Stimme vernahm.
Sie hörte ihre Atemlosigkeit, lauschte auf das laute Klopfen ihrer Herzen und durchlebte die Wonnen noch einmal. Nie war sie so erfüllt gewesen. Sie lächelte Phile an, der sie eng umschlungen hielt. Dann erzählte er von sich und seinen zahlreichen Exkursionen auf der Suche nach immer neuen Pflanzen.
„Nicht die Menschen sind für mich heilig, auch wenn uns die Kirche unzählige Heiligenfiguren serviert: die Natur ist es. Nichts ist ursprünglicher, aus ihr schöpfe ich meine Kraft, denn sie stellt den Urzustand der Welt dar. In ihm lebte der Mensch einst voller Unschuld, bevor er den Irrweg namens Fortschritt einschlug. Wie sehr wünschte ich, wir könnten zu diesem Zustand zurückkehren.“ „Glaubst du nicht an Gott, der alles richtet und lenkt, Phile?“, fragte Jeanne. Es kostete sie Überwindung, den Doktor plötzlich mit Phile anzureden. „Ich bin mir nicht sicher, ich suche ihn noch, und vielleicht finde ich ihn, indem ich seine Schöpfung ergründe und die Natur zu entschlüsseln versuche. Ich kann mich dieser Berufung bald uneingeschränkt widmen, da mir mein Vater ein erkleckliches Erbe hinterlassen hat. Hinzu kommt noch das Vermögen, das Antoinette mit in die Ehe gebracht hat.“ „Aber du bist doch Arzt hier in Toulon-sur-Arroux?“ „Seitdem Antoinette tot ist, hält mich hier nichts mehr. Ich habe ja nur um meines Vaters Willen eine Praxis eröffnet.“
Jeanne mochte es, dass Phile ihren Kopf streichelte, während er redete. Es schien, als wäre er erleichtert, sich endlich jemandem öffnen zu können. „Meiner Frau konnte ich meine geheimen Pläne nicht anvertrauen, weil es ihre gesicherte Welt bedroht hätte. Ihr Vater hat lange genug gezögert, bevor er der Ehe endlich zugestimmt hat. Er traute meinen Versicherungen nicht, dass ich mit dreißig endlich ein geordnetes Leben nach seinen Vorstellungen führen würde. Wer eine angesehene Position in der Gesellschaft erreicht hat, der will sie auch für seine Kinder bewahren oder verbessern. Meine Vorfahren waren einfache Bauern und Handwerker. Erst mein Großvater schaffte es, Kaufmann zu werden und eine Kaufmannstochter zu heiraten. Heirate klug ist die Devise aller Emporkömmlinge. Mein Vater studierte Juristerei und brachte es bis zum angesehenen Anwalt des Prinzen von Dombes. Mein Großvater sorgte dafür, dass er die Tochter eines reichen Steuereinnehmers heiratete, meine Mutter. Ich bin das älteste von sieben Kindern. Ein Bruder wurde auch Anwalt, zwei Schwestern heirateten Anwälte, ein anderer Bruder wurde Priester.“ Sie lagen eine Weile still, bis Phile weitererzählte. „Du kannst dir vorstellen, dass einer wie ich, der im Land herumreist und Blumen und Pflanzen sammelt, nicht in das Erfolgsschema dieser Familie passt.“ „Wo hast du dein Bein verletzt?“ „Das passierte in der Dauphiné. Ich stürzte von einem Felsen, als ich in unwegsamem Gebiet eine besondere Blüte zu pflücken versuchte. Mein Bein schlug auf einen spitzen Stein und entzündete sich später immer wieder. Auf einer Alm in den Bergen biss mich ein Hund genau an der wunden Stelle. Ich glaubte, dass der Köter die Tollwut habe und lebte monatelang in Todesangst, bis ich sicher sein konnte, dass mir diese fürchterliche Sache erspart geblieben war. Ich wurde lange in einem Karthäuser-Kloster bei Grenoble behandelt und konnte nicht aufstehen. Die Schmerzen waren unerträglich.“
Jeanne hatte sich verändert, seit sie mit Phile schlief. Sie hatte ihren Körper entdeckt, Gefühle, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Sie spürte ihre Haut wie nie zuvor, und wenn sie allein war, dachte sie an das wunderbare Gefühl, Philes Körper an sich zu pressen, von ihm berührt zu werden, in immer neuen Wellen. Sie erlebte eine Erfüllung, von der sie meinte, sie würde nicht nur ihr Inneres erhellen, sondern auch für jedermann sichtbar nach außen strahlen. Das Verhältnis zu Phile ermutigte Jeanne, sich kühner in der Welt zu bewegen.