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DAS ENDE DER UNSCHULD

Jeanne war eine schlaksige Dreizehnjährige, deren kastanienbraune Haare verfilzt vom Kopf abstanden und deren Sommersprossen auf der sonnengebräunten Haut kaum noch zu sehen waren, als die Zeit der Unschuld für sie überraschend endete. Eines frühen Morgens hatte sie Rücken- und Kopfschmerzen, und dann geschah etwas Schreckliches. Das Mädchen spürte, wie eine Flüssigkeit aus ihm herauslief. Ängstlich fasste Jeanne sich zwischen die Beine und sah, dass sie blutete. Sie lag zusammengekrümmt auf ihrem Strohsack, hatte panische Angst und war sicher, sie würde sterben. Als es draußen hell wurde und der Lehrling nicht in der Gärtnerei erschien, klopfte Monsieur und rief: „Wach auf, du Langschläferin! Auf, auf, die Arbeit ruft!“ Jeanne hörte, wie er die Tür öffnete, weil sie nicht antwortete. „Was ist mit dir, Jeanne? Nun steh endlich auf!“ Schluchzend stieß sie hervor: „Es tut so weh, Monsieur. Es tut so weh!“ Monsieur Tierri war beunruhigt. „Warte Jeanne, ich hole Gisèle.“

Gisèle kam sofort, kniete sich vor Jeannes Strohsack und wischte ihrem Liebling mit der Hand über die Stirn, dass die harten Schwielen zu spüren waren. „Was ist mit dir, Kind? Was hast du denn?“ Jeanne schaute sie verlegen an und erzählte dann zögerlich von ihrem Unglück. Gisèle lachte erleichtert auf und schlug ihre großen, roten Hände zusammen. „Ach, du dummes Ding, du bist nicht krank! Das machen alle Frauen durch, wenn sie in dein Alter kommen. Gott hat uns damit für Evas Sünde gestraft, derentwegen Gott sie und Adam aus dem Paradies vertrieben hat. Alle vier Wochen blutet deshalb jede Frau fünf Tage lang.“

Jeanne verstand nicht, was Gott damit zu tun hatte. Sie wollte einfach nur, dass das widerliche Blut verschwand. „Was soll ich nur machen, Tante Gisèle?“ „Ganz einfach, mein Liebes. Damit das Blut aufgesaugt wird, bindest du dir ein Tuch um die Beine und tauschst es immer wieder gegen ein neues aus. Die gebrauchten Tücher wäschst du aus und benutzt sie wieder.“ Dann brachte Gisèle ihr ein paar Leinenlappen und zeigte dem verunsicherten Schützling, wie man sie anlegte.

Gisèles Gesicht bekam einen bedeutungsschweren Ausdruck, den sie immer dann aufsetzte, wenn sie wollte, dass man ihr genau zuhörte und ihre Anweisungen befolgte. „Kind, man sagt, Frauen seien während ihrer besonderen Tage unrein. Deshalb soll sich eine Frau während dieser Zeit von ihrem Mann fernhalten. Nun, das betrifft dich noch nicht, aber es gibt Regeln, die du jetzt schon beachten musst.“ Gisèle blickte ernst aus ihren kleinen braunen Augen. „Wenn du deine Blutungen hast, darfst du keine Sahne schlagen, da sie sonst schlecht wird. Du darfst kein Obst und Gemüse einkochen, und du darfst nur mit Handschuhen putzen. Warum das so ist, kann ich dir nicht sagen. Es war schon immer so. Alle Frauen richten sich danach.“

Jeanne schämte sich, plötzlich eine Frau zu sein. Sie fühlte sich von Verboten eingeschnürt, als hätte sie Schuld auf sich geladen. Gestern war sie noch ein fröhliches Mädchen gewesen und konnte nicht begreifen, warum sie nun wegen Adam und Eva bluten musste. Aber sie wusste, dass sich wieder ein neues Kapitel in ihrem Leben auftat, dessen Inhalt sie noch nicht kannte.

* * *

Monsieur legte Wert darauf, seiner Schülerin auch Bibelunterricht zu erteilen. Eigentlich gehörte es zu den Aufgaben eines Kirchenmannes, Kinder auf die Kommunion vorzubereiten, aber da das nächste Dorf, das eine Pfarrei hatte, zu weit entfernt war von den Gärten des Baron Brandonne, unterwies Monsieur sie stellvertretend in Absprache mit Curé Marcel, dem Priester von Saint Barthe. „Das Sakrament der heiligen Kommunion ist nach der Taufe der wichtigste Schritt zur Aufnahme in den Schoß der katholischen Kirche“, erklärte ihr Monsieur sehr ernst. “Erst nach der Kommunion darfst du das Abendmahl empfangen, den Leib Christi.“

Am entscheidenden Tag, dem ersten Sonntag nach Ostern, fuhr Monsieur das Kommunionkind mit einem Pferdewagen, den er vom Schlossverwalter ausgeliehen hatte, nach Saint Barthe, was einen halben Tag kostete. Pfarrer Marcel war ein kleiner, unscheinbarer, verdrießlich dreinblickender Herr, der in seiner schwarzen ungepflegten Perücke und der fleckig schwarzen Soutane aussah wie ein vertrockneter Strunk im Garten von Mabel. Sein eingefallenes, spitzes Gesicht erinnerte Jeanne an ein Frettchen. Bei der Prüfung beteten die Kommunionkinder in ihren braunen Bauernkitteln der Reihe nach das Glaubensbekenntnis herunter. Jeanne war der einzige Prüfling, der fehlerlos aufsagte.

Als sie mit den anderen Kindern in die Kirche ging, war Jeanne so aufgeregt, dass sie später nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Zeremonie hatte. Sie spürte noch die zitternde Kerze in ihrer Hand, sah ihr Licht, das sich mit den vielen anderen Talglichtern zu einem großen Strahlen verband. Alles war so feierlich, so geheimnisvoll unwirklich, dass Jeanne sich wie von Engeln umringt fühlte. Sie kniete nieder und spürte ein dünnes, trockenes Keksplättchen auf ihrer Zunge, das ihr trotz des winzigen Schluckes Wein, der ihre Lippen benetzte, fast im Halse stecken blieb. Sie schauderte ein wenig. Hatte sie jetzt den Leib Christi gegessen und sein Blut getrunken? Monsieur hatte ihr doch vom Abendmahl erzählt und davon, was es damit auf sich hatte, dass der Herr Jesus ein Stück Brot abgebrochen und seinen Jüngern gereicht hatte. Das Brot sollte der Leib Jesu gewesen sein und der Wein, den man ihnen zu trinken gab, sein Blut, das für alle Menschen vergossen worden war.

Jeanne fühlte sich beseelt und irgendwie stolz. Der Curé hatte ja gesagt, dass sie nun Teil eines großen Ganzen sei, dazugehörte. Inbrünstig schlug sie das Kreuz, so wie sie es tagtäglich gesehen hatte. Ihre Mutter hatte immer wieder mit ausgestreckten Fingern die Stirn, die Brust und dann die linke und die rechte Schulter berührt. Kindlich verspielt hatte sie die unverständliche Bewegung nachgeahmt. Tante Élise hatte es auch gemacht und dabei stets etwas gemurmelt. Aber erst Monsieur hatte ihr erklärt, dass es der Herr Jesus sei, der durch die Geste immer wieder ans Kreuz geschlagen würde. Die Geschichte von den unsäglichen Leiden des Heilands hatte sie mehrmals in Monsieurs Bibel gelesen, und jedes Mal hatte sie von Neuem ein gruseliger Schauder erfasst. Wie grausam, wie traurig, wie herzzerreißend die Erzählung war.

Ein Bild von Maria mit dem Jesuskind an der Kirchenwand zog Jeanne besonders in Bann. Kniend bestaunte sie das gütige Gesicht der Heiligen und flüsterte voller Sehnsucht: „Mutter, Mutter“. Das Gesicht Marias verschmolz mit dem Sehnsuchtsbild, das in ihrem Gedächtnis war. Das zarte Jesuskind auf ihrem Arm, das war doch sie, die kleine Jeanne. „Mutter“, schluchzte sie und schlug das Kreuz.

Am Tag bevor die Jugendlichen das Abendmahl empfingen, predigte ihnen der Pfarrer: „Vergesst nicht, dass Gott jedem von uns seinen Platz auf Erden zugewiesen hat. Es ist eine gerechte Ordnung, über die unser König gebietet, der von Gottes Gnaden über uns gesetzt ist. Lasst euch sagen: Der Mensch ist nicht von Gott geschaffen, um auf dieser Welt glücklich zu sein.“ Nach einer Pause, die der strenge Mann nutzte, um jedem in die Augen zu sehen, als wollte er Gottes Bannstrahl in sie fahren lassen, fuhr er, den Kopf gen Himmel gewandt, salbungsvoll fort. „Erst im Paradies wartet das Glück auf euch! Und noch etwas möchte ich euch Jungen und Mädchen ans Herz legen!“ Der Curé hieb mit dem Zeigefinger auf und nieder. „Vergesst nicht: Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist Gottes, sodass ihr nicht mehr in der Lage seid, Seinen Willen zu tun! Die Wollust ist der Stachel im Fleische, darum sollt ihr die Wollust hassen wie die Sünde selbst!“

Wollust? Sünde? Jeanne verstand nicht, was der Pfarrer seinen Schäflein einbläuen wollte. Leider erklärte es ihr auch Monsieur nicht.

Im Unterricht, der meist im Wohnzimmer vor dem Kamin der Tierris stattfand, hatte er ihr wiederholt Geschichten vorgelesen, in denen von Sünde die Rede war. Da sie vor langer, unvorstellbar langer Zeit geschehen waren, konnte Jeanne sie nicht mit ihrem Leben in Einklang bringen. „Warum“, fragte sie Monsieur einmal schüchtern, „warum wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, nachdem sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten?“ Und dann: „Wofür straft Gott alle Frauen bis heute, wie Gisèle gesagt hat?“ Aber Monsieur antwortete nur ausweichend und machte dabei ein verlegendes Gesicht. „Das wirst du erst später verstehen, mein Kind“, sagte er nur, was Jeanne ärgerte. Sie war doch kein dummes Kind mehr.

Jahre später sagte sich Jeanne, dass sie vielleicht noch lange unschuldig geblieben wäre, wenn man ihr nicht verschwiegen hätte, was Adam und Eva Sündiges getrieben hatten. So hatte Antoine, der älteste Gehilfe von Monsieur, leichtes Spiel mit seiner Auserwählten. Jeanne hatte sich inzwischen zu einem Mädchen mit ansprechenden Rundungen entwickelt, was Antoine nicht entgangen war. Er war ein hoch aufgeschossener Junge mit rotem Wuschelhaar und schmalem, pickligem Gesicht. Wann immer der Gärtnergehilfe an Jeanne vorbeiging, und das wurde immer häufiger, klapste er ihr auf den Hintern, streichelte ihn kurz oder kniff hinein. „Widerlicher Kerl!“, schrie sie den aufdringlichen Burschen an, aber wenn sie ihn zu fassen versuchte, entwischte der ihr jedes Mal lachend. Sie mochte den linkischen Jungen eigentlich nicht, aber sie fand die wiederholten Spielchen allmählich kribbelig und spürte plötzlich eine Erregung, die ihr völlig neu war. Wenn Antoine sie unvermittelt links liegengelassen hätte, wäre sie sehr enttäuscht gewesen.

Als die beiden während der Arbeit in einem Heckenlabyrinth zusammentrafen, taten sie so, als sei es Zufall gewesen, dabei wusste Jeanne, dass Antoine beobachtet hatte, wo sie hinging. Als das Paar plötzlich allein war, machte der Bursche keine Annäherungsversuche, sondern setzte sich verlegen neben sie und sah sie nur verstohlen von der Seite an. Jeanne war so aufgeregt, dass sie meinte, Antoine müsse ihr Herz klopfen hören. Dann war sie es, die nahe an in heranrückte und schließlich all ihren Mut zusammennahm und kurz den Kopf auf seine Schulter legte. Antoine lächelte wie erlöst, ohne sie anzuschauen. Als er ihre Hand nahm und sie drückte, bündelten sich plötzlich all ihre Gefühle in ihren Fingern. Kein Wort wurde gesprochen, und dennoch wussten beide, dass sie sich wieder heimlich treffen würden.

Es war ein aufregendes Sehnen, das sie in Antoines Nähe empfunden hatte und das sie nur wenige Tage später wieder zum Versteck lockte. Antoine, dem keine Schüchternheit mehr anzumerken war, hatte eine Flasche Wein aufgetrieben. Er trank in großen Zügen daraus und hielt sie dem Mädchen an die Lippen, bis es den Mund öffnete und das saure Zeug widerstrebend schluckte. Bald schwirrte Jeanne der Kopf, und sie begann, albern zu kichern, wenn der Junge an ihr herumgrabschte und seine Hände über ihren Körper wanderten. Immer wieder griff er zwischen ihre Schenkel, und jedes Mal schlug sie seine Hand zurück, ohne etwas zu sagen. Das verbotene Spiel war so aufreizend, dass ihr vor aufwallender Hitze der Schweiß ausbrach. Als sie danach in ihrem Bett lag, verspürte sie so ein lustvolles Ziehen in ihrer Scham, dass sie ihre Hand ganz fest hineinpresste.

An einem heißen Sommertag schlichen sie nach der Arbeit fort. Antoine, der bisher kaum geredet hatte, war von ansteckend guter Laune und machte so komische Faxen, dass sie kichern musste. Er hatte etwas Kalk mitgebracht, schmierte damit sein Gesicht weiß, band die Haare mit einem rosa Tuch zusammen und sagte dann mit strenger, verstellter Stimme: „Jeanne, wie heißt die Hyazinthe auf Lateinisch?“ Sie hielt sich den Bauch vor Lachen. Es war zu lustig, wie er Monsieur Tierri nachäffte, die Schultern schlaff nach vorne hängen ließ und plötzlich übertrieben glotzte, dass ihm die Augäpfel hervortraten. „Wenn dich Monsieur so sehen würde“, prustete sie los, „dann gnade dir Gott!“

Antoine nutze die entspannt fröhliche Stimmung, Jeanne immer wieder anzufassen, ihr Gesicht, die Brüste und dann die Schenkel zu streicheln, bis ihre Abwehr immer schwächer wurde. Er hatte ihr die Hose so weit heruntergezogen, dass sie nur noch an einem Fuß hing. Als er sich auf sie legte und ihre Beine auseinanderdrängte, bekam sie Angst, stemmte die Hände gegen seine Brust und drehte das Becken hin und her. Sie hatte im Dorf gesehen, wie ein Bulle eine Kuh deckte, hatte sich aber nie vorstellen können, dass die Menschen genauso aufeinanderstiegen. Von Antoine sah sie nur die abstehenden Haare und den Himmel über ihm. Plötzlich spürte Jeanne, dass etwas in sie eindrang und einen stechenden Schmerz auslöste. Sie schlug um sich, wollte sich befreien, aber Antoine stieß immer wieder in sie hinein. Dabei grunzte er ganz seltsam, stöhnte mit einem Mal laut auf und sank schließlich auf ihr zusammen.

Jeanne rührte sich nicht, weil sie sich schämte, war aber gleichzeitig überrascht, weil alles doch eine seltsame Lust bereitet hatte. Antoine erhob sich und drehte sich zur Seite, während er an seiner Hose nestelte. Als er davonschlich, ohne sie noch einmal anzuschauen, war Jeanne gekränkt, obwohl sie nicht wusste, was sie erwartet hatte. Aber der Junge hatte Begehren entfacht, und so trafen sie sich häufiger in einer abgeschiedenen Ecke des Parks und gaben sich der „Sünde“ hin, die Jeanne nun endlich kennenlernte.

Als Monsieur sah, wie sich die beiden bei der Arbeit neckten, schöpfte er Verdacht und schlich ihnen eines Tages nach. Zum Glück hatten Antoine und Jeanne sich noch nicht hingelegt, als sie überrascht wurden. Monsieur lief vor Wut puterrot an, schlug auf seinen Gehilfen ein und schrie. „Pack deine Sachen, du Mistkerl! Mach dass du wegkommst, und lass dich hier nie wieder blicken!“ In der Region fand Antoine keine Arbeit mehr, dafür sorgte Monsieur. Irgendwann hörte das beschämte Mädchen, dass sich der arme Kerl bei der Armee verdingt hatte. Jeanne sah ihn nie wieder.

Monsieur zerrte sie an den Zöpfen hinter sich her und schimpfte. „Du undankbare Göre, bringst uns in Verruf! Erinnere dich an die Predigt von Curé Marcel. Eine Frau hat solange keusch zu sein bleiben, bis sie verheiratet ist!“

Drei Tage sperrte Monsieur sie in ihre Kammer ein. „Hungern sollst du, fasten, damit du deine Sünden büßt!“ Aber schon am nächsten Tag schob ihr Gisèle, ohne etwas zu sagen, Essen über die Schwelle. Jeanne war traurig, weil sie das Missfallen der verehrten Tierris erregt hatte, aber Gewissensbisse hatte sie nicht. Die Erinnerung an Antoine überraschte sie wieder und wieder mit einem aufregenden Begehren. Mit der Zeit wurde das Sehnen jedoch immer gedämpfter, bis es schließlich eingeschlafen war. Ein neuer Gespiele kam für Jeanne nicht infrage, weil sie nichts mehr fürchtete, als von Monsieur aus ihrem Blumenparadies vertrieben zu werden.

* * *

Der Garten war Jeannes geliebte Welt, und die lag unendlich weit vom Herrenhaus entfernt, dessen grandioser Anblick sie einschüchterte und gleichzeitig anzog, wann immer sie es bei der Arbeit bestaunte. Um die ganze Länge des Baus abmessen zu können, hätte sie hundert Schritte machen müssen. Eine geschwungene Freitreppe führte zum Hauptportal des Prachtbaus, der fünf Stockwerke hoch emporragte und durch Fensterreihen voller Simse und Säulen gegliedert war, zwischen denen weiße Figuren standen. Jeanne hatte das unheimliche Gefühl, es seien versteinerte Menschen, die sie aus toten Augen anstarrten. Mabelle war so groß, dass alle Häuser des Weilers Bande darin Platz gefunden hätten. Wenn das Anwesen des Barons schon solche Ausmaße hatte, wunderte sie sich, wie riesig musste dann erst der Palast des Königs sein, von dem so erstaunliche Geschichten erzählt wurden.

Die Herrschaften wohnten nur einen Teil des Sommers hier, im Winter logierten sie in ihrem Pariser Anwesen. Einmal im Jahr gaben sie ein Fest auf Mabelle, so glanzvoll, dass es das arme Mädchen in eine völlig unbekannte, unvorstellbare Welt versetzte, deren Bewohner von einem anderen Stern zu stammen schienen. Hunderte Fackeln erhellten den Garten und ließen das Schloss rosa schimmern. Von Ferne sah Jeanne von schwarzen, weißen und braunen Pferden gezogene Kutschen die lange Auffahrt heranrollen. Männer in gleichfarbiger Livree saßen vorne auf den Kutschböcken und standen hinten auf Plafonds. Ein Wagen nach dem anderen hielt vor der großen Treppe, auf der Diener Spalier standen. Diener klappten die Wagentritte der Kaleschen herunter. Diener rissen die Türen auf. Fabelwesen stiegen aus. Da ihre Füße unter den langen Roben verborgen waren, glaubte Jeanne, sie würden schweben, als die Märchengestalten die Stufen hinaufstiegen, an deren Ende sie Baron und Baronesse Brandonne empfingen.

Nach inständigen Bitten führte Monsieur sein Mündel auf die Terrasse oberhalb der Freitreppe, von wo aus sie durch hoch aufragende Fenster in einen riesigen Saal blickten. Jeanne hätte sich niemals vorstellen können, dass es solch große Räume überhaupt gab. Sie drückte die Nase an die Scheiben, um das festliche Treiben dahinter besser bestaunen zu können. Von innen konnte man sie nicht sehen, denn sie stand im Dunkeln. Die aber feierten im Licht. Gläserne Lüster voll hunderter Kerzen spiegelten sich in den glatten Steinen, mit denen der Boden belegt war. Marmor aus Italien, wie Monsieur flüsterte. An den Wänden hingen große dunkle Bilder mit streng dreinblickenden Männern, die lange Perücken trugen und aus goldenen Rahmen starrten. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Jeanne Gold sah. Sie freute sich, dass man entlang der Wände große Bouquets mit Blumen aus ihrem Garten aufgereiht hatte. Im Kerzenschein erschienen sie ihr noch bunter und üppiger.

Auf einer Empore spielte ein Orchester Tanzmusik. Jeanne konnte sich an dem festlichen Treiben nicht sattsehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie in einer ausladenden Robe zwischen den langen Reihen sich drehender Paare tanzte, aber es gelang ihr nicht. Das Kunterbunt der Farben machte Jeanne schwindlig. Immer wieder fragte sie Monsieur, woher diese Wesen voller Juwelen kämen und aus welchem Material ihre Kleider seien. Auf schimmerndem Satin zitterten Spitzenrüschen, wippten glitzernde Diamantketten. Die Haut der Frauen war so weiß wie das Porzellan auf den Tischen. Weißer Staub wehte von hoch aufgetürmten Haaren. Die Herren trugen hohe, steife Kragen und frisch plissierte Spitzenjabots, die bis zum Kinn reichten. Die langen Jacken in den unterschiedlichsten Farben waren am Rücken geteilt und sahen aus wie angelegte, mit reichen Borten abgesetzte Bienenflügel. Dazu Westen aus Brokat voll ziselierter Silberknöpfe und darunter das feine Musselingewebe der Hemden. Monsieur wies Jeanne auf die vielen Schilder hin, die auf den Jacken der Herren prangten, Orden, die unterschiedliche Ränge der Aristokraten markierten, Barone und Grafen, Marschälle und Herzöge. Das Gepränge war so groß, so fremd, dass sie nicht einmal neidisch auf dieses Leben war. Eher empfand sie große Scheu, fühlte sich wie ein Nichts, ein ganz anderes Wesen angesichts dieser Lichtgestalten. Das waren keine Menschen wie sie.

Die erste Frau

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