Читать книгу Die erste Frau - Wolfgang Ebert - Страница 11

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VERWANDLUNG

Jeanne hatte nun endlich Zeit, sich mit der Étoile vertraut zu machen, einem schwimmenden Haus, das sich auf dem unendlichen Ozean wie ein Nichts ausmachte. Die Étoile sollte nach Rio de Janeiro segeln und von dort aus im Verein mit der Boudeuse ins große Meer jenseits von Amerika vorstoßen. Die Fregatte unter dem Kommando des Expeditionsleiters Louis-Antoine de Bougainville hatte zu wenig Platz, um genug Verpflegung und Wasser für ihre große Besatzung aufzunehmen, weshalb Bougainville auf die Étoile als Packesel angewiesen war. Warum man das Flaggschiff Boudeuse genannt hatte, Die Schmollende, konnte Jeanne niemand erklären. Da der Segler gerade erst vom Stapel gelaufen war, hatte er, wie seine Besatzung, noch keinen Grund zum Schmollen gehabt.

Für Jeanne war es eine fremde Welt voller fremder Menschen, die alle Männer waren, hundertsechzehn Kerle, die eine Menge unverständlicher Worte benutzten, die sie alle noch lernen musste. Alles an Bord hatte einen anderen, seltsamen Namen, hunderte Namen. Besanschoten, Backhalsen, Bulinen, Vorbramsegelschoten, Reffgatschen, Heckducht. Ihr brummte bald der Schädel. Wenn sie auf dem Achterdeck stand und bis zum Bug schaute, erschien ihr die Étoile überraschend groß. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sie bislang nur die Boote auf der Seine gesehen hatte. Aber konnte man eine Wohnstätte für so viele Menschen groß nennen, die nur dreiunddreißig Meter lang und an der breitesten Stelle maximal neun Meter breit war?

Drei Masten ragten über dem Rumpf empor, die eine Unzahl Trossen und Taue mit dem Schiff vertäuten. In ihrer Phantasie warf Jeanne eine Plane über das scheinbare Gewirr, und schon entfaltete sich ein riesiges Zelt über dem Deck der Étoile. Von den Masten standen lange Querbalken ab, an denen viereckige Segel angeschlagen waren, und jedes Segel hatte einen anderen Namen. Wie sie sich bewegen ließen und wie sie hießen, das lernten Neulinge auf die harte Tour.

„Wache Eins klar zum Manöver!“, hallte es übers Deck. „An die Brassen!“ „Gei auf die Royal!“ „Klar bei Obermars! Los, los, Leute, schneller! Euch Landlubber soll der Teufel holen.“ „Hol weg, Backbordbuline! Maat, ziehen Sie den Transusen eins mit dem Tampen über, Schmeißfliegen elendige!“ Jeanne verstand das Befehlsgebrüll nicht, aber sie sah, dass die Rahen an den Masten herumschwangen und die Segel straff wurden. Sie mochte das herrliche Geräusch und den erhabenen Anblick, wenn der Wind in die schlaffen Leinenberge blies und sie mit einem Ruck in pralle Riesenflügel verzauberte. Daran konnte sie sich während der ganzen Reise immer wieder erfreuen. Es war ein Symbol für Bewegung hin zum Ziel, welches auch immer. Vor allem für eine Frau, die nie erwartet hatte, jemals aus ihrem winzigen Dorf herauszukommen.

Die Neulinge an Bord, die Grünschnäbel, der Ausschuss, der Auswurf, wie man sie beschimpfte, wurden im Schnellkurs zu Matrosen getrimmt. Jeanne konnte nur wenige kräftige Männer unter ihnen ausmachen. Die meisten waren unterernährte, unansehnlich bleiche Mickerlinge. Einige trugen noch die Straßenkleidung, in der sie aufgegriffen worden waren, andere hatten nur zerschlissenes Zeug am Leib. Es war kalt, und es blies ein scharfer Wind, der die Männer völlig auslaugte.

„Eine Menge Taugenichtse und ausgewachsene Halunken sind das, nichts als aufsässige, dreckige, nichtsnutzige, hundsvermaledeite Spitzbuben, verlottertes Lumpenpack, lichtscheues Gesindel“, so beschrieb Jean-Louis Caro den Neuzugang. Er war wohl nicht viel älter als Jeanne und schon Erster Offizier.

Die wenigsten Neulinge hatten sich freiwillig gemeldet. Flüchtige vor dem Arm des Gesetzes waren die meisten, weil sie ein Brot gestohlen hatten oder ein Hemd, worauf an Land die Prügelstrafe oder Deportation stand. Andere versuchten zu entwischen, weil sie Bankrott gemacht hatten und dem Schuldturm entgehen wollten. Bleiche Hungerleider hatten sich dem Teufel verschrieben, weil sie hofften, an Bord wenigstens regelmäßig zu essen zu bekommen. Der größte Teil dieser bemitleidenswerten Jammergestalten jedoch war zum Dienst gezwungen worden.

Presstrupps unter Führung von Unteroffizieren durchkämmten die Häfen auf der Suche nach Menschenbeute, um unterbemannte Schiffe auf Sollstärke zu bringen. Einige Opfer wurden betrunken gemacht und verpflichteten sich mit unbedacht schneller Unterschrift zum Seedienst; anderen wurde einfach eins über den Schädel gezogen, bevor man sie heimlich verschleppte. Waren sie erst einmal an Bord, war ihr Schicksal besiegelt. Ein langer, dürrer Kahlkopf, den sie Haridelle nannten, Die Bohnenstange, erzählte Jeanne später sein trauriges Schicksal. Weil er wusste, dass die Häscher der Flotte immer an der Küste lauerten, hatte er seine Schneiderwerkstatt extra tief ins Hinterland verlegt. Einen Tag aber im Jahr musste er geschäftlich nach Rochefort, und gerade an diesem Tag hatten ihn die verfluchten Menschenfänger erwischt. „Nadel und Faden sind meine Werkzeuge, nicht Taue und Belegnägel. Für mich ist das nichts anderes als Sklaverei“, fluchte er verbittert.

Das Entsetzen und die Angst vor dem Sprung ins Unbekannte war den Landratten anzusehen. Wer sich aber nicht in sein Schicksal ergeben wollte und aufbegehrte, der wurde brutal zur Räson gebracht. Das konnte auch mal mit einer Schlinge um den Hals enden und mit heraushängender Zunge, wie Der Erste, Jean-Louis Caro, ohne jede Emotion feststellte.

„Hol weg! Hol weg!“ Wieder und wieder zerrten die Männer schwitzend und stöhnend an dicken, schweren Tauen. „Eins, zwei! Zieht, zieht, bis die Muskeln krachen!“ Die Neulinge zerrten an der nächsten und übernächsten Leine und bewegten doch nur einen winzigen Teil der Takelage. Dreißig Kilometer Tauwerk verwandelten das Schiff in ein unübersehbar verworrenes Spinnennetz. Von den rauen Hanfseilen waren die Hände der Lubber schnell blutig gerissen.

Nach dem ersten Drill rannten die neuen Rekruten zu den Abortkästen, wozu sie den ganzen Morgen über keine Gelegenheit hatten. Fluchend standen sie Schlange, weil es nur vier Löcher gab, über die sie sich erleichtern konnten. Je zwei dieser „Pissstühle“ hingen auf beiden Seiten über das Galion. Die weit ausladende Verlängerung des Vorderteils des Schiffs bog sich mit offenem Gebälk wie eine Sichel nach oben. Es waren windige Austritte, die mit der Bewegung des Schiffes hoch- und niedersausten. War die See aufgewühlt, spülte das Meer gleich die Notdurft hinweg. Bei ruhigem Wetter schöpften die Abortgänger Seewasser aus einem Eimer, um sich zu säubern. Jeanne schauderte beim Anblick einiger Matrosen, die sich an einem Tau festgeklammert, die blanken Hintern über die Bordwand hängten und sich erleichterten.

* * *

Phile und Jeanne hatten sich von Maat Pierre Saussi die einzelnen Decks des Schiffs zeigen lassen, solange nach dem Auslaufen aus Rochefort noch Trubel herrschte und die einzelnen Mannschaftsbereiche nicht streng von einander abgesondert waren. „Wie gesagt, einfache Matrosen fahren vor dem Mast in der Mitte des Schiffes; das Mannschaftsquartier liegt im Zwischendeck“, erklärte Maat Pierre, als sie einen Niedergang hinabstiegen. „An Bord herrscht die gleiche Hierarchie wie an Land. Jede Klasse lebt abgetrennt für sich. Die Männer schlafen und essen hier in der Back. Das ist ihr Zuhause; ein anderes haben sie nicht.“

Vor ihnen öffnete sich ein Raum, der die ganze Schiffsbreite ausfüllte und dessen Seitenwände im Bogen auf die Spitze des Bugs zuliefen. An der Decke, die so niedrig war, dass man nicht aufrecht stehen konnte, hingen Tische, die an Seilen von der Decke herabgelassen werden konnten; Seekisten, die als Bänke dienten, standen zwischen Kanonen, die an den Bordwänden verzurrt waren. Ein stickiges Loch, trotz der Kälte draußen. Hängematten hingen in Zweierreihen übereinander; Stützbalken unterteilten das Revier. Das einzige Licht kam von Öllämpchen, die an Haken an der Bordwand hingen. Die Flammen blakten in der muffigen Höhle. Obwohl nur die halbe Mannschaft versammelt war, hatte man das Gefühl erdrückender Enge. Dagegen war Jeannes Viehstall in Bande ein geräumiges Heim gewesen.

„Schauen Sie sich das an. Jetzt sehen Sie, wie komfortabel Sie als Achtergäste wohnen“, meinte Pierre süffisant. Philes Gesicht verzog sich, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. „So sollte kein Mensch hausen! Das ist die reinste Brutstätte für Krankheiten! Warum stehen denn im Mannschaftsraum und auch in den Gängen so viele Kisten und Ballen herum, die eher in die Last gehören, Monsieur Saussi?“ „Monsieur, Offiziere dürfen Handelsgüter auf eigene Rechnung verkaufen. In den Kolonien lässt sich mit bestimmten Waren ein hübsches Sümmchen verdienen.“ „Handelsgüter? Auf eigene Rechnung? Deshalb ist das Schiff also bis in den letzten Winkel vollgepfropft! Das wird doch nur in der Handelsmarine geduldet. Die Étoile aber untersteht während dieser Fahrt der königlichen Marine, und der ist Privathandel strengstens verboten!“ „Ich habe damit nichts zu tun, beschweren sie sich bei den Offizieren, Monsieur.“ „Darauf können Sie sich verlassen!“

Anscheinend war Pierre das Thema unangenehm. Um abzulenken, zeigte er auf einen muskelbepackten, bulligen Mann. „Das ist Maat Arman Pasti. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen, wenn man ihm in die Quere kommt. Die Leute nennen ihn Le monstre, weil der Riese aus Unruhestiftern sofort Kleinholz macht.“ Der Maat hatte einen lockigen, hinten zusammengebundenen Haarschopf und brachte gerade die Lubber auf Vordermann. Jeanne starrte fasziniert auf die langen, blonden Zöpfe, die sich Das Monster aus seinem Barthaar geflochten hatte. Maat Pasti stützte ein Knie auf die Bodenplanken, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen, und warf einem Matrosen eine Hängematte aus Segeltuch zu.

„Euch Halunken stehen sechsunddreißig Zentimeter Luftraum zum Nebenmann zu, nicht mehr und nicht weniger, damit das klar ist!“, sagte der Riese ganz leise, aber deshalb nicht weniger bedrohlich. „Mehr gestattet der König Nichtsnutzen wie euch nicht! Und das ist noch viel zu viel, ihr Landratten! Man sollte euch übereinander stapeln! Die Hängematte wird nur zum Schlafen aufgehängt. Wenn der Befehl branle-bas ertönt, Hängematte runter, wird sie verstaut, verstanden!“

Jeanne lief ein Schauer über den Rücken. So ein Schiff war nichts anderes als ein Gefängnis, nur dass man den zusätzlichen Nachteil hatte, untergehen zu können.

„Die Mannschaft ist in drei Wachen eingeteilt, deren Dienstzeit die Sanduhr bestimmt, das Glas“, machte Maat Pasti den Neulingen klar. „Jede Wache dauert vier Stunden und wird durch das Glasen der Schiffsglocke verkündet. Alle halbe Stunde ein Schlag.“ Pasti musterte die Männer streng. „Wer die Anordnungen nicht befolgt, begeht ein Dienstvergehen, das sofort geahndet wird. Kleinere Vergehen werden mit verdünnter Rumration oder Rumentzug bestraft. Wer seinem Vorgesetzten widerspricht, spürt die Neunschwänzige Katze. Auf Arschfickerei, meine Herren, steht der Galgen. Auch auf tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte. Ich sag’s euch im Guten, prägt es euch genau ein, sonst sollt ihr mich kennenlernen!“

Als sie den verlorenen Haufen der Lubber beobachtete, befiel Jeanne ein beklommenes Gefühl. Im Vergleich zur Mannschaft führten die Offiziere und Gäste Seiner Majestät ein privilegiertes Leben. Achtern war ihr Reich, wo die Matrosen nichts zu suchen hatten. „Abtreten!“, hörte sie Pasti noch brüllen, als sie schon wieder die Treppe zum Hauptdeck hinaufstieg.

* * *

Jeanne wachte in Panik auf: hastiger Atem, Herzrasen, Schweißausbrüche. Sie hörte Stimmen flüstern, sah Finger auf sich zeigen, spürte skeptische Blicke. Ihr war, als hockte sie wie eine Maus im Loch, vor dem die böse Katze lauert; als säße sie auf einem Pulverfass. Wie leicht konnte die Lunte entzündet werden. Eine unbedachte Bewegung, ein falsches Wort, ein Zufall konnte den falschen Jean entlarven. Wenn man sie in Reichweite der französischen Küste erwischte, müsste sie damit rechnen, sofort den Behörden an Land übergeben und hart bestraft zu werden. Bei dem Gedanken, dass man sie ins Gefängnis stecken würde, schauderte sie.

Jeanne wartete angespannt darauf, dass die Schiffsglocke sie in die Offiziersmesse rief. Würde sie sich im Kreis der Männer nicht verplappern? Würde man erwarten, dass sie sich an den Tischgesprächen beteiligte? Obwohl sie wieder und wieder tief einatmete, bevor sie die Messe betrat, raste ihr Herz, und der Mund war so trocken, als hätte sie Staub geschluckt. Aber an Rückzug war nicht mehr zu denken.

Zumindest war die Assistentin des Naturforschers für den Anlass gebührend gekleidet. Sie trug eine hellgraue Samtjacke, hellgraue Weste und Kniehose, die Strümpfe dunkelblau. Natürlich hatte Jeanne den Aufzug schon in Paris vor dem Spiegel überprüft und fand, dass Jean vornehm aussah. Als sich die Tür zur Messe öffnete, verschwamm alles vor ihren Augen. Schuld daran war sicher nicht nur der dichte, beißende Tabakqualm. Zuerst nahm sie nur vielstimmiges Gerede wahr, erst langsam wurden die Augen klarer. Sie atmete ruhiger, erfasste die Situation und sah den langen, dicht an dicht mit Männern besetzten Tisch. Jeanne hatte das Gefühl, alle Augen würden sie anstarren, als stünde sie nackt da. Die Offiziere und Gäste schätzten sich gegenseitig ab, beäugten sich mit unverhohlener Neugier. Aber kein misstrauischer Blick blieb an etwas Ungewöhnlichem hängen. Die Männerrunde erkannte nicht die Frau. Die Vorstellung hatte gar keinen Platz in ihrem Kopf; was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein. Die Messe, das Schiff, war eine strikte, ausschließliche Männerwelt.

Man nickte sich kurz höflich zu, nahm unterbrochene Gespräche wieder auf und schmauchte an seiner Pfeife. Ein Messediener führte Phile zu einem Platz neben dem Kapitän. Jeanne wurde ans andere Ende der Tafel geleitet. Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, wie sie es in Pariser Cafés gesehen hatte, und zog ihren Tabakbeutel hervor, ohne aufzublicken. In Paris auch hatte sie sich eine der vielen weißen Tonpfeifen von Phile genommen und so lange gepafft, bis sie nicht mehr husten musste.

Die Messe war ein zentraler Raum von beachtlicher Länge, mit einem langen Tisch und am Boden verschraubten Stühlen. An den Wänden hingen Schränke, dazwischen Regale mit nautischen Büchern und Expeditionsberichten bekannter Weltumsegler. Ein Kamin erwärmte den Raum. Jeanne war überrascht von dem festlichen Eindruck. Gläser und Geschirr standen auf dem Tisch, und an beiden Seiten stand ein Messediener. Alle Offiziere und die jungen Offiziersanwärter glänzten in der blauen Uniform der königlichen Marine. Im Gegensatz zu den Unteroffizieren und Matrosen, die häufig Vollbärte trugen, war am Tisch jedermann rasiert.

Am Kopfende nahm Kapitän François Chenard Giraudais Platz. Amüsiert beobachtete Jeanne, wie sein Vogelkopf beim Reden vorruckte, als pickte er mit seiner spitzen Nase Körner auf.

„Messieurs, mein Vater hat mich schon an meinem fünften Geburtstag mit auf See genommen und in den dreißig Jahren, die inzwischen vergangen sind, habe ich viel von der Welt gesehen und an so manchem Kampf teilgenommen“, adressierte er die Tischgesellschaft mit seiner tiefen, sonoren Stimme, die so gar nicht zu seinem kleinen Körper passte. „Ich habe mein Leben lang auf Handelsschiffen gedient, aber was bedeutet schon ein Leben lang! In Kriegszeiten wechselte ich zur Königlichen Marine, und immer ging es gegen die Engländer. Im Österreichischen Erbfolgekrieg erhielt ich mit siebzehn das Leutnantspatent. Im letzten, sieben unerfreuliche Jahre dauernden Waffengang befehligte ich ein Kaperschiff vor der Küste unserer Kolonien in Kanada. Leider haben wir den Krieg verloren.“

Der Kapitän streckte sich, als wollte er größer erscheinen, und lächelte in die Runde. „Aber die Krönung meines Seemannslebens ist diese Reise: Wir werden die ersten Franzosen sein, die um die Welt segeln, die den großen Kreis vollenden, wie man in Paris sagt. Ich kann mir nichts Großartigeres vorstellen.“ Dann erhob er sein Glas und rief aus: „Messieurs, trinken wir auf Seine Majestät Ludwig XV. und den Mann, der dieses Abenteuer möglich gemacht hat: Louis Antoine de Bougainville.“ Alle am Tisch erhoben sich und riefen: „Vive le Roi!“ „Vive Bougainville!“

Kapitän Giraudais wandte sich zu seinen Nachbarn zur Rechten und erhob noch einmal seine Stimme: „Es ist mir eine Freude, einen so exzellenten Wissenschaftler wie Monsieur de Commerson an Bord zu haben.“ Dann drehte er sich zu seiner Linken und erhob noch einmal die Stimme: „Eine ganz besondere Ehre ist es natürlich, Sie, mein Prinz, als Gast begrüßen zu dürfen.“

Was für ein Kontrast zwischen dem kleinen Seemann und dem langen Prinzen, dachte Jeanne. Was für eine Gewandtheit im Auftreten. So wie diesen reich gekleideten, schlanken, blendend aussehenden Mann Mitte Zwanzig, den sie alle Monsieur le Prince oder Hoheit nannten, stellte sie sich einen der heldenhaften Musketiere vor, die mit ihren flinken Degen den König in Versailles bewachten. Er trug einen cremefarbenen, offenen Gehrock aus glänzender Seide, weißen Spitzenschal und weiße Strümpfe. Nicht nur seine Perücke war weiß gepudert, auch sein schmales, langgezogenes Gesicht und die Hände. Als Jeanne ihn beim Beladen des Schiffes zum ersten Mal an Deck gesehen hatte, hielt er sich wegen des Gestanks ein Seidentuch vor die Nase. Mit seiner Entourage bunt gekleideter Diener, zwei Windhunden und einem ganzen Berg voller Gepäck wirkte er wie ein Fremdkörper inmitten der schwitzenden Matrosen.

„Messieurs, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Charles Henri Nicolas Othon, Prinz von Oranien und Nassau-Siegen. Mit so vielen Dienstjahren wie unser werter Kapitän kann ich nicht aufwarten. Meine Karriere in der Armee unseres Königs begann erst vor zehn Jahren, da war ich fünfzehn.“ Othon lächelte verschmitzt. Wie er sich, um die Gesten seiner weißen Hände ironisch zu untermalen, seines feinen Seidentuchs bediente, begeisterte Jeanne, so als würde sie eine verführerische Gauklernummer bewundern. „Messieurs, ich stelle zu meinem Bedauern und zur Freude meiner Familie fest, dass mir keine Damen auf unserer Reise gefährlich werden können.“ Dann machte er einen übertriebenen Kratzfuß und gestand, nicht ohne das Gesicht in gespielter Verschämtheit zu verziehen: „Meine Familie meinte, es bestände die Gefahr, dass ich mich selbst und ihr Vermögen in der Welt der Galanterie in einem Ausmaß verausgabe, die meiner Ehre nicht gut tue. Sie warfen mir meine Duelle mit eifersüchtigen Rivalen vor und meine angeblich horrenden Spielschulden. Da gerade Frieden herrscht, hat man Seine Majestät gebeten, mir etwas frische Luft zu verschaffen, damit ich fernab jeglicher Versuchung zu Sinnen komme. Messieurs, ich hoffe doch sehr, dass Sie meinen Verfolgern nur Gutes von mir berichten werden, damit ich nicht mein Leben lang um die Welt segeln muss.“ Dann erhob er sein Glas und prostete: „Ein Hoch auf Seine Majestät!“, und alle riefen: „Vive le Roi!“

Mit seinem nonchalanten Geständnis hatte der Prinz für eine aufgelockerte Stimmung gesorgt. Während die Messediener Spinatsuppe auftrugen, erhob sich der große, schmale Schiffsschreiber René Michaud, in dessen Gesichtszügen sich nie Gefühle regten. Als Notar und Buchhalter war er für die amtlichen Dokumente zuständig, die in Häfen benötigt wurden. Er verwaltete die Bordkasse und führte Buch über Ladung und Vorräte. Außerdem war er beauftragt, eine Chronik der Reise zu verfassen.

„Euer Ehren, Sie vergessen, dass wir das legendäre Südland suchen, an dessen versteckten Gestaden es angeblich, neben allem Überfluss, nur so von schönen Frauen wimmeln soll. Ich hoffe also mit ihnen, Sire, dass der Kommandant das Sagenland finden möge. Sein angeblich unermesslicher Reichtum würde helfen, die leeren Kassen des Königs zu füllen.“

* * *

Jeanne beobachtete das Verhalten jedes Einzelnen, saugte jedes Wort, jede Geste und jede Nuance ihrer Tischnachbarn auf, weil sie schnellstmöglich lernen musste, wie man sich in solch einem Kreis benahm.

Schon in Paris hatte sie Kleidung, Gangart und Haltung des „starken Geschlechts“ einstudiert. Am wichtigsten erschien Phile zunächst die Kleidung, weil die nicht nur den sozialen Status ihres Trägers bezeugte, sondern auch das augenscheinlichste äußere Merkmal war, das Frauen von Männern unterschied. Jeanne trug die Culotte, eine Hose aus brauner Wolle, die kurz unters Knie reichte und sehr eng anlag. Um den Einstieg zu erleichtern, war die Außennaht am unteren Beinende geschlitzt. Sie knöpfte einen von Hüfte zu Hüfte reichenden Latz vorne am Bund fest und inspizierte die beiden großen Taschen, die an den Seiten angenäht waren. Dazu kamen lange, beigefarbene Strümpfe und Schnallenschuhe. Jeanne schlüpfte in ein Leinenhemd, an dessen Brustschlitz ein Jabot angenäht war, ein aus Batist bestehender Volant, der zwischen den Vorderkanten der Weste hervorlugte. Dann zog sie einen offenen, langschößigen Gehrock mit Revers an, setzte eine braune Perücke auf, stülpte den schwarzen Dreispitz darüber und paradierte vor einem Spiegel hin und her. Sie fühlte sich anders, fremd, aber irgendwie auch bedeutender, größer, als sie zum ersten Mal wie ein Mann ausstaffiert war.

Es war ein Vorteil, dass sie breite Schultern und ein schmales Becken hatte. Doch Jeane wusste, das allein reichte nicht, um sich in einen Mann zu verwandeln, die Rolle überzeugend zu spielen. Männer hatten eine andere Körpersprache, ein anderes Auftreten als Frauen, eine andere Aura, wie Phile sich ausdrückte.

Zuhause übte sie, was sie auf der Straße beobachtete. Frauen stellten im Stehen oft das linke Bein etwas vor und hielten die Schultern gesenkt, als wollten sie gleichzeitig kokett und unterwürfig aussehen. Männer standen häufig in paralleler Fußstellung selbstbewusst aufrecht, machten sich breit und gewichtig; Frauen schlugen die Augen nieder, wenn sie mit Männern redeten; Männer hingegen betrachteten Frauen ohne Hemmungen; Frauen machten meist kleine Trippelschritte; Männer schritten und schwenkten dabei die Schultern nach vorne: rechts, links, rechts, links.

Als sie sich das erste Mal gemeinsam mit Phile in Männerkleidern auf die Straße wagte, hatte Jeanne weiche Knie, weil sie fürchtete, Passanten würden sie auslachen oder empört mit dem Finger auf sie zeigen. Aber nichts dergleichen geschah; der Anzug machte sie unsichtbar. Man beachtete sie nicht, weil sie eine Uniform anhatte, die sie als Mann auswies. Man sah die Hülle, aber nicht den Menschen, der sich darin verbarg.

Es hatte eine Weile gedauert, bis Jeanne auch verstand, wie unterschiedlich Männer- und Frauenstimmen eigentlich klangen. Es war nicht nur die Stimmlage, das war das Einfachste; es war die Art, die Worte zu betonen, die Weise, wie Männer und Frauen sprachen. Phile hatte ihr vorexerziert, wie maßgeblich der Klang einer Stimme von der Art der Atmung abhing. Er ahmte Jeanne nach, plapperte schnell und holte nach wenigen Worten immer wieder Luft, wodurch seine Stimme höher klang als normalerweise. „So redest du, Jeanne, schnell, abgehackt, mit mehr Worten als nötig. Du atmest in Stößen, damit du so schnell als möglich los wirst, was du sagen willst. Dein Gesicht spiegelt eine gewisse Aufgeregtheit. Und achte auf deine Hände. Du sprichst mit den Händen, als hättest du keinen Mund. Halte sie ruhig.“

Also übte sie sich darin, ihren Atem länger zu halten, langsamer und laut zu sprechen, knapper zu formulieren und ihre Gesichtszüge zu kontrollieren. Sie bläute sich ein: Entspanne dich! Atme ruhig und tief, bevor du zu sprechen ansetzt! Phile instruierte weiter: „Wenn du dich ärgerst oder fürchtest und aufgeregt bist, atmest du automatisch schneller, dein Herz schlägt wilder, die Stimmlage wird höher. Versuche in einem solchen Moment, Zeit zu gewinnen, und rede erst weiter, wenn du entspannter geworden bist und sicher weißt, was du sagen willst.“

Wenn Phile dozieren konnte, war er in seinem Element. Für Jeanne war die Vorbereitungszeit eine seltsame Mischung aus Freude und nervöser Anspannung, aus Abenteuer und Verrücktheit. Sie lachten viel bei den Proben, aber es war wohl mehr Galgenhumor, weil sie fürchten mussten, Jeannes Schauspielkünste würden am Ende nicht ausreichen. Phile wurde nicht müde, ihr das Wesen des Mannes zu erklären: „Man kann die Verhaltensweisen der Männer nur ein Stück weit erlernen, aber wenn du sie ausgiebig beobachtest, wirst du selbstsicherer umgehen mit schwierigen Situationen, auch mit Begegnungen, die dich irritieren.“ Sogar in ihren Träumen stolzierte sie als Mann herum und testete ihr Auftreten. Immer wieder reckten sich ihr anklagend unzählige Hände entgegen, verzerrte Gesichter starrten sie stumm an. Wenn sie aus solch einem Alptraum aufwachte, streichelte Phile ihr Gesicht und machte ihr wieder Mut. „Hab keine Angst, du bist doch mein Assistent Jean! Jeder sieht das.“ Und schelmisch fügte er hinzu: „Vielleicht wächst dir ja noch ein Bart, wer weiß.“ Aber all die Neckereien konnten nicht über ihre Anspannung hinwegtäuschen. Auch Phile wurde nervöser, je näher die geplante Reise kam. Immer deutlicher stand ihm vor Augen, auf welches Wagnis sie sich einließen.

* * *

Messediener, zu deren Aufgaben es gehörte, für Ordnung in den Kabinen der Offiziere und Gäste zu sorgen, standen um die Tische herum und legten gebratenes Rindfleisch mit Erbsen und Kartoffeln auf. Immer wieder schenkten die Männer die Gläser voll. Monate später, als Schmalhans grausamer Küchenmeister wurde, sollte sich Jeanne nach den üppigen Mahlzeiten sehnen.

Als Der Erste, Jean-Louis Caro, zufällig zu ihr herüberschaute, nahm sie allen Mut zusammen und prostete ihm zu. Der Mann war groß und muskulös, mit mächtigen Pranken, die sein Weinglas äußerst zerbrechlich erscheinen ließen. Er machte einen unnahbaren Eindruck, dem Assistenten des Naturforschers gegenüber zeigte er sich jedoch im Laufe der Reise stets sehr hilfsbereit und gelegentlich sogar gesprächig. Jeanne musste ihn immer wieder anstarren, weil er wild abstehende, buschige Augenbrauen und eine Hakennase hatte. Vor allem aber faszinierte sie sein enormer Kehlkopf, der vorstand, als wäre ein großer Knochen in seinem Hals steckengeblieben.

Die tiefe Bassstimme des Ersten dröhnte durch die Messe, obwohl er in normaler Lautstärke sprach. Bei jedem Wort hüpfte sein Kehlkopf auf und ab, als würde ihn ein unsichtbarer Mechanismus bewegen. „Messieurs, ich stand den größten Teil meiner Laufbahn im Dienst der Französisch-Ostindischen-Kompanie. Leider eroberten die Engländer im letzten Krieg auch den größten Teil der französischen Territorien in Asien. Hoffen wir, dass unsere Mission ihr Ziel erreicht und wir Ersatz dafür entdecken.“

Der Schiffsschreiber Michaud fragte Phile: „Welche Ziele haben Sie sich gesteckt, Monsieur de Commerson?“

Phile setzte ein etwas hochfahrendes Gesicht auf. „Monsieur Michaud, Seine Majestät hat mir den Auftrag erteilt, zum Wohl unseres Landes die Natur ferner Länder zu studieren.“ Zum Kapitän gewandt, setzte er hinzu: „Gestatten Sie mir, dass ich noch einen Auftrag benenne: nämlich Mittel und Wege zu finden, die Gesundheit an Bord zu verbessern. Auf den Schiffen aller Nationen grassiert seit Jahrhunderten der Tod in einem Ausmaß, das an Land unbekannt ist. Ich habe einige Ärzte der neuen Schule konsultiert, die sich dieses Dilemmas besonders angenommen haben, und mich mit den typischen Krankheiten auf See vertraut gemacht. Ich hoffe nun, mit Ihrer Unterstützung meine Erkenntnisse erfolgreich einzubringen, was auch Vorbeugemaßnahmen einschließt.“

Der Kapitän nickte anerkennend, und der Schiffsschreiber rief: „Ich bin vollkommen ihrer Meinung, Monsieur le Docteur. Die hohe Sterberate ist auch ein Kostenfaktor.“

Der Zweite, Josef Bonal, schaute Phile mit zusammengezogenen Brauen an, blähte sich auf und polterte: „Mein verehrter Doktor, die typischen Krankheiten auf See sind gottgewollt. Ihr Einsatz wird verlorene Liebesmühe sein. Nichts für ungut, Monsieur.“

Wie konnte es der Kerl wagen, ihrem Phile so dumm zu kommen! Wenn Jeanne einen an Bord nicht leiden konnte, dann diesen vollgefressenen Wichtigtuer, der im Laufe der Fahrt viel Unfrieden säen sollte. Dennoch nahm sie sich vor, immer sehr höflich zu ihm zu sein. Sie konnte sich keine Feinde leisten.

Phile antwortete mit gespielter Ruhe, hinter der sie aber aufbrausenden Zorn witterte. Sein Ton war unmissverständlich sarkastisch: „Bitte entschuldigen sie, Monsieur, aber ich muss Ihnen widersprechen. Nehmen wir zum Beispiel die Männer, die unfreiwillig angeheuert wurden, wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Nachdem diese Unglückseligen in die Fänge der Presspatrouillen geraten sind, werden sie auf ein Kasernierungsschiff im jeweiligen Hafen verfrachtet und unter Deck getrieben. Dort bleiben die Verschleppten bis zu achtundvierzig Stunden eingeschlossen, bevor man sie auf einzelne Schiffe verteilt. Der Laderaum ist oft so vollgestopft mit den Unglücklichen, dass sie nicht einmal sitzen können. Einen Abort gibt es nicht; die Männer stehen in ihren eigenen Fäkalien. Der Gestank ist so penetrant, dass es zu Ohnmachtsanfällen kommt. Aber das wissen Sie ja alles. So ein Schiffsgefängnis ist Brutstätte für todbringende Krankheiten, vor allem Gelbfieber und Typhus. Hier liegt die entscheidende Ursache für die immer wiederkehrenden Epidemien auf den Schiffen. Außerdem sind die Männer mit Läusen und Wanzen verseucht, die sie mit an Bord bringen und an die Stammmannschaft weitergeben.“

Jeanne starrte Phile erstaunt an, weil sie ihn noch nie so bestimmt und unbeugsam im Kreise anderer Männer erlebt hatte. Mit dem Finger auf den Zweiten Offizier weisend, hob er die Stimme wie ein strenger Schulmeister. „Das können wir nur verhindern, Monsieur Bonal, wenn die Landlubber entlaust und mit neuer Kleidung versorgt werden. Dazu gehört, dass man ihre Haare schert. Die Männer müssen sich auch sauber schrubben. Wenn wir diese Erkenntnis nicht berücksichtigen, wird die Sterberate so unakzeptabel hoch bleiben wie bisher. Ich habe dies dem Marineminister schriftlich mitgeteilt. Wie ich von unserem Kapitän gehört habe, wurden die Vorschläge in die Tat umgesetzt. Dafür möchte ich mich bedanken, Kapitän. Hoffen wir, dass die Maßnahmen den erwarteten Erfolg zeitigen. Nichts für ungut, Monsieur Bonal.“ Der Zweite verbarg seinen Ärger, indem er ein abschätziges Gesicht machte.

* * *

Vom Achterdeck schallten Alarmrufe und Kommandos. Die Schiffsglocke läutete, Pfeifen gellten, und die Stimme des Kapitäns war deutlich auszumachen. „Rufen Sie die Mannschaft an Deck! Machen Sie den Kerlen Beine, Monsieur Saussi!“ „Alle Mann an Deck!“, schrie der Maat und rannte zum Vorderschiff. „Raus, ihr lahmen Krücken! Los, los, ihr Trantüten. Ihr da, wollt ihr einen Tritt in den Arsch! Rauf, rauf!“

Die Stimme war auf dem ganzen Schiff zu hören. Jeanne ging die Stiege zum Achterdeck hinauf und sah die Matrosen zu ihren Positionen hasten. Auf den glitschigen Planken rutschten zwei, drei Männer aus und schlugen hin. Dunkle Wolkenfetzen zogen schnell über das Schiff; ein heftiger, sich immer mehr steigernder Wind pfiff durch die Takelage; dichter Regen prasselte herab, der sie sofort durchnässte. Auch Jeanne bibberte vor Kälte. Es war ja Februar; sie hätte ihren Mantel aus Öltuch überwerfen sollen.

Der Erste stand mit dem Zweiten hinter dem Rudergänger, der das Steuerrad umfasst hielt und gab Befehle. „Erste und zweite Wache aufentern.“ Die Maate Saussi und Pasti wiederholten: „Aufentern. Schneller, schneller!“ Wie die Affen hangelten die Vollmatrosen die Takelage empor und krochen seitlich an den Querbalken der drei Masten entlang. Jeanne wurde ganz schwindlig, als sie die Männer so hoch oben herumturnen sah. Wie die Kletten hingen sie an den Rahen, obwohl das Schiff schlingerte und sich immer heftiger nach Steuerbord und Backbord überlegte.

„Das muss schneller gehen“, raunzte Der Erste. „Ich will mir nicht die Segel zerfetzen lassen.“ „Refft Segel!“ Jeanne wollte das dramatische Schauspiel nicht verpassen und drückte sich an die Reling, konnte aber nur die Männer auf dem untersten Baum des Mastes vor ihr klar erkennen, weil Regenschwaden die Sicht nach oben behinderten. Die Matrosen schufteten, als ginge es um ihr Leben. Je vier Männer lehnten sich auf jeder Mastseite weit über die Rahen und zerrten die wild schlagenden, vom Regen durchtränkten Leinenberge Stück für Stück nach oben und zurrten sie an den Rahbalken fest. Zuletzt hingen nur noch Sturmsegel, und doch knatterte es im heulenden Wind, als wäre das Schiff voll getakelt.

Das Unwetter wurde immer heftiger, die See ging hoch wie ein Berg. Die Étoile tauchte tief in Wellentäler und arbeitete sich mühsam wieder hoch. Plötzlich fühlte Jeanne, wie trotz der Kälte Angstschweiß ausbrach. Die Étoile kam ihr ganz und gar nicht mehr groß und sicher vor. Das Schiff war ja nur ein Haufen zusammengenageltes Holz, auf das Wasser und Wind eindroschen. Gischtschwaden zischten über das Schiff, steile Wellen türmten sich vor dem Bug auf und stürzten krachend über das Deck. Das angstvolle Blöken und Quieken der Tiere ging durch Mark und Bein. Rinder, Schweine und Schafe waren in Verschlägen am vorderen Teil des Schiffes in Koben untergebracht. Der strenge Geruch der Exkremente war dem einstigen Bauernmädchen sehr vertraut. So musste es auf der Arche Noah ausgesehen haben, ging es Jeanne durch den Kopf. Aber im Gegensatz zu den Tieren auf der Arche, würden diese Viecher die Reise nicht überleben. Sie waren ja nur Verpflegung.

Alles ging so schnell. Hohe Wellen rauschten über die Reling, zerschlugen eine Reihe Drahtkäfige und rissen dutzende betäubter Hühner über Bord. Jeanne konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Sie hatte ja noch keine Seemannsbeine, um die schwankenden Bewegungen des Schiffes ausgleichen zu können. Von achtern klatschte ein eiskalter Wasserschwall übers Deck, riss sie um und schwemmte sie übers Deck, bis sie gegen die Reling prallte. Furcht packte sie, so panikartige Furcht, dass sie wimmernd auf allen Vieren übers Deck kroch, den Niedergang hinunterhangelte und Zuflucht in der Kajüte suchte.

Vierundzwanzig Stunden drosch der Sturm auf die Étoile ein, vierundzwanzig Stunden, in denen Phile und sie kein Auge zutaten, weil die Hängekojen die harten, gegenläufigen Schiffsbewegungen nicht ausgleichen konnten. In ihrer Furcht sah Jeanne das Schiff schon untergehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Meer die Étoile noch wilder beuteln könnte. „Das ist nur ein Stürmchen! Warten Sie, bis das Meer richtig auf uns einprügelt!“, hatte der Kapitän an Deck lachend gegen den heulenden Wind gebrüllt.

Phile stöhnte unter den Qualen der Seekrankheit und verfluchte die Reise. Jeanne hatte ihre Schiffstaufe schon kurze Zeit nach dem Auslaufen aus Rochefort durchlitten. Unerträglich lange Tage hatte sie Gift und Galle gespuckt, hatte sich die Seele aus dem Leib gekotzt, bis sie lieber sterben wollte, als diese Folter auch nur noch einen Augenblick länger ertragen zu müssen. „Ich kann nicht mehr. Ich sterbe.“

„An Seekrankheit ist noch keiner gestorben. Man spuckt höchstens drei Tage und Nächte, dann sind Sie wieder quietschvergnügt“, hatte Maat Pierre Saussi lachend gesagt und einen Segeltucheimer voller Seewasser an Bord gehievt, damit sie sich das verschmutzte Gesicht waschen konnte. „Sie sind nicht alleine, Sie haben jede Menge Leidensgenossen.“

Phile hatte sich rührend um seine Assistentin gekümmert. Sie verspürte keine Scham, wenn sie sich in seiner Gegenwart in einen Eimer entleerte und ihr Mann sie säuberte. Der Herr Doktor hatte keine Erfahrung mit der Seekrankheit und musste deshalb widerwillig den Ratschlägen des Schiffsarztes François Vivès folgen, dem er Jeannes Pflege selbstverständlich nicht überlassen konnte, wenn sie nicht entlarvt werden wollten. Phile wusch sie mit Essigwasser und gab ihr mit Wein gemischtes Meerwasser zu trinken. Ein Wundermittel war das nicht, denn es machte die ausgelaugte Frau eher kränker. Linderung brachte nur die Zeit. Wie prophezeit, war sie nach drei Tagen wieder oben auf und hatte Hunger wie ein ausgewachsener Matrose.

Phile hatte die erste Bekanntschaft mit dem Meer gut überstanden, nun aber beutelte ihn die See heftiger und länger als jeden anderen an Bord. Drei Wochen Elend zehrten so sehr an seinen Kräften, dass er immer magerer und hinfälliger wurde. Er war totenblass, die Haare hatten jegliche Façon verloren und hingen schweißfeucht und strähnig um den mächtigen Kopf. Der Mann konnte nicht mehr stehen, nur noch verschwommen sehen, und übergab sich unter so furchtbaren Krämpfen, dass Jeanne fürchtete, er würde ersticken. Der Kopf wurde rot, die Augen quollen über, der Hals schwoll an; Phile sah alt und abgezehrt aus. Sie versuchte die Qualen des Geplagten zu erleichtern, aber er machte es ihr nicht leicht. Ständig quengelte er, schimpfte, weil sie ihm nicht schnell genug den Mund von gallig riechendem Schleim säuberte, die schweißige Stirn abtupfte oder den Topf unterschob, wenn plötzlich wässriger, übel riechender Stuhl herausquoll. Wie konnte dieser starke, selbstbewusste Mann plötzlich so hilflos sein, so weinerlich, wunderte sich Jeanne.

Der Schiffsarzt Vivès sorgte sich um den Kranken, was Phile ihm mit wütenden Vorwürfen und Kränkungen heimzahlte. „Quacksalber! Menschenschinder!“ schimpfte der Undankbare: „Dieser Totengräber will mich umbringen!“ Aber Vivès hatte eine Engelsgeduld und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Als studierter Doktor der Medizin schaute Phile auf den einfachen Wundarzt herab. Vivès war ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, der mit seinen dreiundzwanzig Jahren auf Jeanne einen entschlossenen und kompetenten Eindruck machte. Die Mittel, die er verschrieb, zeigten allerdings keinerlei Wirkung. Seine Standardmedizin war Hartbrot, aber auch das würgte Phile stöhnend heraus. Bekam er Rum eingeflößt, löste das lang anhaltenden, schmerzhaften Schluckauf aus. Als es nach einer Woche Seekrankheit immer noch nicht besser wurde, wandte sich Vivès in ernstlicher Sorge an Jeanne. „Ich habe einen Fall erlebt, wo ein Mann daran zugrunde ging, Monsieur. Es war eine Mischung aus totaler Erschöpfung und Blutsturz.“

Zum Glück begann sich der Zustand des Seekranken ganz allmählich zu bessern, immer öfter behielt er kleine Mengen Brei bei sich. Das größere Übel hatte Phile das kleinere verdrängen lassen. Seine Beinwunde wollte sich nicht schließen, das Fleisch war entzündet und schwoll beängstigend an. Abwechselnd reinigten der Schiffsarzt und Jeanne die Wunde und legten neue Kompressen auf. Aber der Heilprozess begann erst, als die Étoile endlich in trockenere Zonen segelte.

„Monsieur Bonnefoy“, sprach der Kapitän Jeanne auf dem Achterdeck an und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter, „es ist erstaunlich und höchst ungewöhnlich, wie Sie sich um den kranken Doktor gekümmert haben. Es war sogar Gesprächsthema in der Messe. So eine aufopferungsvolle Betreuung wünsche ich mir auch, falls ich einmal darnieder liege. Monsieur de Commerson ist um seinen Assistenten zu beneiden.“ Ihre hingebungsvolle Pflege war zum allgemeinen Gesprächsstoff geworden, durchfuhr es sie heiß. Das konnte gefährlich werden. Sie war ja fast nie von Philes Seite gewichen, hatte ihn Tag und Nacht bemuttert, war kaum noch zu den Mahlzeiten in der Messe erschienen. Für einen Assistenten war so viel Fürsorge ungewöhnlich. In einer abgebrühten, auf die Malaisen eines Kranken kaum Rücksicht nehmenden Männergemeinschaft musste ihr Verhalten auffallen und Fragen nach dem wahren Verhältnis zwischen dem seltsamen Paar provozieren.

Die Befürchtung des Schiffsarztes, Phile könnte womöglich sterben, hatte Jeanne in größte Ängste versetzt. Ohne Partner würde ihre wahre Identität an Bord schnell auffliegen. Dann jedoch dachte sie eine Weile nach und versuchte sich die schreckliche Situation vorzustellen. Warum eigentlich sollte man sie nicht weiterhin als Mann ansehen. Sie würde die Aufgaben übernehmen, die Phile übertragen worden waren, und ihn als Botaniker ersetzen. Und solange sie eine Kabine für sich alleine hatte, könnte sie an Bord weitermachen wie bisher. Aber die aufkeimende Hoffnung war allzu kurzlebig. Die Vorstellung, ihre Maskerade über Jahre ohne jede Unterstützung aufrechterhalten zu müssen, einmal rund um die ganze Welt, ließ sie vor Furcht erschauern. Jeanne fasste die Reling fester. Sie musste sich beruhigen und das Problem so nüchtern wie möglich angehen. Was wäre, wenn sie im nächsten Hafen von Bord ginge? Ganz langsam lief sie an Deck hin und her, um nicht aufzufallen. Aber was würde sie dem Kapitän sagen? Was würde sie tun, nachdem man Jean Bonnefoy an Land gerudert hatte? Sie konnte sich doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts in Jeanne Baret verwandeln. Sie hatte kein Kleid mitgenommen und keine Papiere auf ihren wirklichen Namen. Jeanne fand keinen Ausweg und beruhigte sich schließlich damit, Phile werde schon nicht sterben. Seekrank wurde schließlich jeder Lubber. Doch kümmerte sie sich künftig noch intensiver um ihren kranken Mann.

Die erste Frau

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