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Geodynamische Konzepte vor Wegeners Kontinentverschiebungstheorie – die „Antike“ der Geodynamik
ОглавлениеAls einer der Ersten befasste sich der französische Philosoph und Naturforscher René Descartes (1596 – 1650) mit dem Aufbau des Erdinneren und schlug in seinen „Principia philosophiae“ 1644 vor, dass die Erde einen Kern mit sonnenähnlicher Flüssigkeit enthalte, den Schalen von Gestein, Metall, Wasser und Luft umhüllten [Bonatti 1994]. Wenig später erkannte der dänische Naturforscher Niels Stensen alias Nicolaus Steno (1638 – 1686), dass Gesteine verformbar sind und die Ausgangslage deformierter Gesteine rekonstruiert werden kann [Steno 1669]. Peter Simon Pallas [1777], James Hutton [1795] und Leopold von Buch [1824], der als der Begründer der Tektonik als eines eigenständigen Wissenschaftszweigs gelten kann, sahen die Kräfte von aufsteigenden magmatischen Gesteinen als Hauptursache von Gebirgshebungen an. Diese Theorie fand im 19. Jh. viele Anhänger, was darauf beruhte, dass man vielfach granitische Gesteine entlang der Zentralachse von Gebirgen fand. Dem stand jene Lehre entgegen, der zufolge horizontale Kräfte zur Stauchung der Kruste führten und Auffaltungen verursachten [de Saussure 1796, Hall 1815]. Die Existenz starker horizontaler Einengung wurde später durch die Entdeckung großer Deckenüberschiebungen in den Alpen belegt.
Die Horizontalkräfte wurden im Allgemeinen als Folge der Kontraktion der Erde gesehen, die ein Zusammenstauchen der Erdkruste bewirkte [Élie de Beaumont 1852]. Die Kontraktionshypothese beruhte auf der Annahme einer ursprünglich glutflüssigen Erde, die einer stetigen Abkühlung und Schrumpfung unterlag. Nach heutiger Kenntnis wurde die durch kalte Zusammenballung kosmischer Materie entstandene Erde in ihrer Frühzeit vor allem durch Meteoriteneinschläge, aber auch durch den Zerfall kurzlebiger radioaktiver Isotope und freiwerdende kinetische Energie bei der Bildung des schweren Erdkerns aufgeheizt. Dennoch herrschten schon wenige hundert Millionen Jahre nach der Entstehung der Erde Temperaturen an ihrer Oberfläche, die die Existenz von flüssigem Wasser erlaubte. Eine Schrumpfung der Erde ist daher nicht wahrscheinlich, vielmehr geht man heute von einer allmählichen Vergrößerung des Durchmessers der Erde aus, weil sich aufgrund der Gezeitenreibung ihre Rotationsgeschwindigkeit verlangsamt – derzeit um 16 Millionstel Sekunden im Jahr. Zu Beginn des Kambriums vor gut einer halben Milliarde Jahre war der Tag um etwa zweieinviertel Stunden kürzer, das Jahr hatte 400 Tage.
Die Kontraktionstheorie, die bis weit in das 20. Jh. ihre Anhänger hatte, gilt heute als widerlegt. Der wissenschaftliche Disput, ob primär vertikale oder horizontale Kräfte zur Gebirgsbildung führen, ist eindeutig zugunsten der horizontalen Kräfte entschieden, die aber in der plattentektonischen Dynamik zu suchen sind, nicht in einem Schrumpfungsprozess. Der Aufstieg zum Gebirge ist ein sekundärer Prozess, der durch die Horizontalbewegung von Krustenschollen ausgelöst wird.
Zwei weitere Konzepte des 19. Jh. dominierten die Vorstellungen von Gebirgsbildung, bis sie von der Synthese der Plattentektonik verdrängt wurden. Die Geosynklinaltheorie von James Dwight Dana geht davon aus, dass die in einem Gebirge aufgefalteten Sedimentgesteine in großen, lang gestreckten, sich absenkenden marinen Trögen, den Geosynklinalen, abgelagert wurden, weil man beobachtete, dass die Sedimentstapel primär oft viele Kilometer dick waren [Dana 1873]. Die Einsenkung der Tröge so wie die spätere Auffaltung der Gesteine sah Dana ebenfalls als Folge einer Schrumpfung der Erde. Die Geosynklinaltheorie wurde später vor allem von Hans Stille [z. B. 1913] stark ausgebaut, es wurde eine Vielzahl verschiedener Arten von Geosynklinalen definiert. Es wird hier nicht näher darauf eingegangen, weil alle diese Vorstellungen als historisch zu gelten haben.
Das zweite Konzept ist jenes der weltweit gleichzeitig erfolgenden Gebirgsbildungsphasen, wie es schon existierte, bevor es Jean-Baptiste Élie de Beaumont [1852] formulierte, denn bereits Charles Lyell [1833] nahm entschieden dagegen Stellung. Diese Theorie geht davon aus, dass tektonische Ereignisse, die Gesteine deformieren und zu Auffaltungen in Gebirgen führen, in zeitlich eng begrenzten Phasen weltweit auftreten. Sie wurde von Stille in zahlreichen Arbeiten nachdrücklich verfochten und verfeinert, so wie Stille überhaupt stark dazu neigte, alle geotektonischen Prozesse zu kategorisieren und in feste Schemata einzubauen. Das Konzept der tektonischen Phasen wird heute in dieser starren Form nicht mehr angewandt. Es hat aber auch einen gewissen reellen Hintergrund, weil Kollisionen großer Kontinente eine Neuorientierung des globalen Plattendriftmusters auslösen und dadurch tektonische Fernwirkungen entstehen können.
Ein bedeutender Fortschritt in der Geschichte der Erforschung von Gebirgen war die Erkenntnis, dass große Gesteinsmassen bei Gebirgsbildungen über viele Kilometer und Zehnerkilometer übereinander geschoben werden. Diese überschobenen Einheiten werden als Decken bezeichnet und sind ein Charakteristikum aller Gebirge. Die Deckenlehre wurde in ihrer Allgemeingültigkeit aufgrund der Lagerungsverhältnisse in den Alpen zu Beginn des 20. Jh. begründet [Lugeon 1902, Termier 1904], nachdem schon zuvor die Existenz von Decken erkannt worden war [Bertrand 1884]. Damit war bewiesen, dass Gebirge Zonen extremer Einengung und Krustenverkürzung sind. Dies korrelierte mit Befunden aus der Geophysik, denen zufolge die kontinentale Kruste unter Gebirgen wesentlich verdickt ist. Da dieser verdickte kontinentale Krustenstapel spezifisch leichter ist als das verdrängte Mantelgestein darunter, entsteht nach dem Prinzip des Schwimmgleichgewichts oder der Isostasie ein Auftrieb, der zur topographischen Erhebung führt. Wir werden später sehen, dass die Zusammenhänge zwischen Krustenstapelung und Gebirgsaufstieg nicht unmittelbar, sondern komplex sind, aber ein wichtiges Prinzip bei der Gebirgswerdung darstellen.