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1. Juli 1990, als Pressekorrespondent für die »Volkszeitung« auf dem Flug nach Moskau
ОглавлениеAn diesem Sonntagmorgen auf der Fahrt nach Schönefeld zum Flug nach Moskau vorbei an den Schlangen der vor Schulhäusern und Polizeiwachen um DM anstehenden DDR-Bürger. Denn heute wird der Übergang zur Westwährung vollzogen. Die Waren drängten sich bereits an die Straßenränder: dicke Bündel gelbleuchtender Mohrrüben, rote Kirschen, Beeren, Blumen. Viele Geschäfte hatten an diesem Sonntagmorgen geöffnet.
In der DDR waltete eine veraltete Gerechtigkeit, die Käthe-Kollwitz-Visionen hungernder Kinder entsprungen zu sein schien. Das Elementare war drastisch verbilligt, das Anspruchsvollere entsprechend verteuert. Im Effekt wurden dadurch gerade die leistungsfähigeren Schichten der Arbeiterklasse beeinträchtigt, was dazu beitrug, den gesamten Gang der Wirtschaft zu verlangsamen.
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Heinz Jungs Umschwung vom Anhänger zum Gegner Gorbatschows – in weniger als einem Jahr – hilft, die Stimmung auf dem russischen Parteitag zu verstehen. Sein Sinneswandel ist die Antwort auf die zwölf hinter uns liegenden Monate der gesellschaftlichen Desintegration, ja Demoralisierung der bisher autoritär-sozialistischen Länder. Die Zusammenbrüche in Mitteleuropa und der weitergehende Staatszerfall in der Sowjetunion sind für ihn schlimmer als der frühere Zustand. Anscheinend war er nicht durch die Diagnose der unheilbaren Krankheit des alten Regimes gewonnen worden, sondern durch die Hoffnung auf einen relativ kurzfristig erneuerten Sozialismus. Als er diese Hoffnungen aufgeben musste, wandte er sich gegen Gorbatschow. Er rechnet ihm nicht die Neuöffnung zugute. Vermutlich ist es die kapitalistische Expansion, die den Umschwung bewirkt hat.
Der »konservativen« Mehrheit des russischen Parteitags mögen ähnliche Umschwünge vorhergegangen sein. Wie wohl Tatjana Saslawskajas Tableau der sozialen Gruppen nach Graden der Trägerschaft bzw. Gegnerschaft im Verhältnis zur Perestrojka von 1987 heute aussehen würde?
Der APN-Kommentator Dmitri Gaimakow sah im russischen Parteitag die Revanche für »die erzwungene Delegierung der Macht von den Parteikomitees an die Sowjets«. »Delegierung« eine sonderbare Kategorie für den Machtransfer in die Parlamente.
Dass es bislang keine russische Parteiorganisation gab und ihre Schaffung eine Schwächung der KPdSU bedeutet, deutet auf das imaginäre Moment der Sowjetunion. 60 Prozent der Mitglieder der KPdSU leben in Russland, wo es allerdings 120 Nationalitäten bzw. Ethnien gibt. Die russische Hegemonialmacht konnte eben deshalb, weil Hegemonialmacht, keine eigne Organisation brauchen. Die jetzige Bewegung zweideutig, denn der Zerfall geht mit Emanzipation schwanger (falls es sich nicht umgekehrt herausstellt und die Emanzipation den allseitigen Zerfall bringt).
Gegenwärtig fährt Russland in Gegensätze auseinander: Die Partei, vor allem das Funktionärskorps, zieht sich in diffuser Besitzstandswahrung nach der einen Seite zusammen, das Parlament, näher am Elektorat, in die entgegengesetzte Seite. Bisher hatte Gorbatschow diesem Gegensatz die Macht seines Zentrismus abgewonnen. Nun fahren ihm die Gegensätze davon, und sein Zentrismus hängt in der Luft. Zentrifugalität wird zum Generalnenner. Das kostet zugleich den Generalsekretär und den Präsidenten ein Gutteil der jeweiligen Amtsmacht. Lew Woronin, 1. Stellvertreter des sowjetischen Ministerpräsidenten, erwartet ausgerechnet vom Markt, dieser werde »die zentrifugalen Bestrebungen verhüten«.
Wjatscheslaw Schostakowski, der Rektor der Parteihochschule, einer der führenden Vertreter der demokratischen Plattform, schätzt, dass 65 Prozent der Delegierten des 28. Parteikongresses zur Nomenklatura gehören (Hauptamtliche, Leiter, Offiziere). Seiner Richtung schwebt die Gründung einer »Partei des sozialen Fortschritts und der Demokratie« vor, die eine »linkszentristische Orientierung« haben soll (linke Mitte?). Die Konsolidierung der Konservativen bestimme die Situation, während die Linken wie üblich träge verharrten, bzw. vor lauter Selbstentzweiung die rechte Gefahr übersähen.