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Vorweg: Im Rückblick
ОглавлениеI.
Der weltgeschichtliche Umbruch, dem die Öffnung der Berliner Mauer im November 1989 das Gesicht gegeben hat, begann früher und dauerte länger als dieses emblematische Ereignis. Manche Beobachter lassen das »kurze 20. Jahrhundert« mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und mit dem Zusammenbruch des – der russischen Oktoberrevolution und dem Zweiten Weltkrieg entsprungenen – europäischen Staatssozialismus enden. Meine Aufzeichnungen aus den 1990er Jahren wirken, als wäre ich dieser Idee gefolgt. Die kalendarische Jahrhundertwende, von der als »Jahrtausendwende« so viel Aufhebens gemacht worden ist, wird hier mit keiner Silbe erwähnt. Es ist die Folge der Ereignisse sowie die Art, wie diese mit der Gegenwart 25 bis 15 Jahre später zusammentreten, die mir im Nachhinein vor Augen führt, dass sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als eine Zäsur begreifen lässt, in der die noch unabsehbar weiterwirkende krisenhafte Konfiguration des 21. Jahrhunderts auftaucht.
Vom als passive Revolution einsetzenden Projekt einer sozialistischen Demokratisierung der SU hatte ich mich hinreißen lassen zu einer Studie über die von Michail Gorbatschow, dem Generalsekretär der KPdSU, vorgelegten Zustandsanalysen und Umgestaltungskonzepte dessen, was als »Perestrojka« in die Sprachen der Welt und damit in die Geschichte eingegangen ist.1 Meine 1989 erschienene und im Grundtenor optimistische Studie wurde alsbald von der Krisendynamik dieses Umgestaltungsversuchs eingeholt, was mich in deren atemlosen Chronisten verwandelte, der in dieser immer zugleich selbstkritischen Arbeit seine Ideengläubigkeit abbüßte. Ich warf mich in die »Sisyphos-Arbeit, aus dem Strom der Ereignisse und dem Gewirr der Diskurse, wovon Einzelnen nur winzige Ausschnitte wahrnehmbar werden, Material an Land zu ziehen; wissend, dass man vieles verpasst, von Tag zu Tag Reflexionen an Einzelnes zu knüpfen und immer wieder neu dazu anzusetzen, dem Schwarm von Einzelheiten ein Gesicht abzugewinnen«. So kündigte ich mein Perestrojka-Journal2 an, und so ähnlich lässt sich auch das hier vorgelegte Werkstatt-Journal beschreiben.
Nach den »zwölf Monaten, die die Welt veränderten«, die im Perestrojka-Journal von Juni 1989 bis Mai 1990 Revue passieren, geht es im Folgenden um die zehneinhalb Jahre von Juni 1990 bis Ende 2000. Beim Wiederlesen war ich betroffen vom Zeitlupentempo und der unheimlichen Gründlichkeit, mit der die Lawine der Veränderungen zu Tale ging, nationale Entwicklungsregime und soziale Einrichtungen in vielen Teilen der Welt vernichtete und einen Rattenschwanz bestialischer Bürgerkriege und imperialistischer Interventionen nach sich zog. Wie von Sonja Margolina im Dezember 1991 vorausgesagt, erwies sich der Zusammenbruch der Sowjetunion als »historischer Supergau«, ein schlimmeres politisches Tschernobyl, denn hier gab es »kein Mittel, die verschiedenen Kettenreaktionen, die die Völker der SU erschüttern, zu unterbinden«.
Im Spiegel der Ereignisse türmen sich Trümmer auf Trümmer, entbrennen Kriege und setzt sich die politisch-ökonomische und ideologische Vernichtung verbleibender sozialistischer Elemente weit über den Untergang des europäischen Staatssozialismus hinaus fort. Dennoch kann unser Blick nicht der des mythischen Engels der Geschichte sein. Der Wind, der uns ins Gesicht bläst, kommt nicht vom Paradiese, sondern vom Urknall des Universums her, und wir haben auch keine Flügel, in der dieser sich und damit uns fangen kann. Nichts hindert uns daran, den Bann des Rückblicks zu brechen und uns mittels der dem Geschichtsmaterialismus von Benjamin empfohlenen Stützen »der Erfahrung, des gesunden Menschenverstands, der Geistesgegenwart und der Dialektik« in die geschichtliche Prozessrichtung umzuwenden. Wo jener Engel »eine einzige Katastrophe« sieht, »erscheint vor uns eine Kette von Begebenheiten«. Kriege und Verfolgungen verschwinden zwar nicht aus unserem Blick, aber von Mal zu Mal treten die tektonischen Verschiebungen, die das große Erdbeben ausgelöst und die vielen Nachbeben verursacht haben und weiter verursachen, deutlicher hervor: die Entwicklung der informatisch potenzierten Produktiv- und Destruktivkräfte, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts rasant erfolgende Auskristallisierung des Internet und die dadurch angebahnten Veränderungen der Vergesellschaftungsweise. Die vermeintlichen Sieger der Geschichte erfahren sich ihrerseits in den krisengetriebenen Strudel der Veränderungen hineingerissen. Die schöpferische Seite der großen Zerstörung meldet sich im vielförmigen Auftauchen, an allen Ecken und Enden, von Elementen des transnationalen Hightech-Kapitalismus, dies nun aber im Horizont der planetarischen Umweltkrise, die der auf fossiler Energie basierenden Produktionsweise ihre Grenze zeigt.
II.
Im Rückblick war ich erstaunt, wie wenig Erzählung, etwa von der Gründung des Instituts für kritische Theorie, das Journal enthält, ja wie es kaum die »Werk-Tage« im Sinne der Erarbeitung meiner in diese Jahre fallenden Schriften schildert, sondern sich im interstitiellen Gewebe der Lebens- und Arbeitszeit, einem nebenherlaufenden Kontinuum aktiver Geistesgegenwart aufhält, gelegentlich unterbrochen von Selbstreflexionen. Das Hauptamtliche ist weitgehend abwesend, zum Beispiel meine akademische Lehre. Als Sparringspartner dienen mir die bürgerlichen Medienintellektuellen, von denen, wie man sehen wird, nicht wenige beharrlich die intellektuelle Kompetenz verabschieden, als wollten sie ihren eigenen Partialverzicht in dieser Form projektiv abarbeiten.
Vermutlich ist es genau jener zum Habitus gewordene Dauerversuch, ›auf dem Tag‹ zu bleiben, in dem sich niederschlägt, wie mich nicht nur das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus, sondern auch die kritische Ausgabe von Antonio Gramscis Gefängnisheften in Atem hielten. Auf Stil und Materialverständnis dieses Werkstatt-Journals scheint nicht zuletzt von Gramscis Arbeitsweise ein Ansteckungseffekt ausgegangen zu sein. Sie ist zugleich eine Lebensweise und hält dazu an, sich in die Diskurse der Zeit hineinzubegeben, ihnen ihr Moment der Wirklichkeitserkenntnis abzugewinnen und es der Ideologie zu entwinden. Sie scheint mir unentbehrlich für die ständige Weiterentwicklung theoretischer Denk- und praktisch-politischer Handlungsfähigkeit im Augenblick des geschichtlichen Prozesses.
Die Diskurse, in die ich mich dabei ständig einmische, stammen aus unterschiedlichsten Richtungen. Doch die mit Abstand häufigste Quelle für die ›herrschende Meinung als Meinung der Herrschenden‹ ist die Frankfurter Allgemeine. Hier ist Kritik gefragt. Von vielen wird sie als einfache Zurückweisung verstanden. Nicht so von Marx. Dieser Kritiker par excellence grenzt sie ab »von einer Verneinung, die mit der kapitalistischen Produktionsweise deren Früchte wegwirft«.3 Diesem Verständnis steht die vulgärmarxistische These vom »notwendig falschen Bewusstsein […], wenn man zu den Herrschenden zählt«, im Wege.4 Die Klasseninteressen blockieren die Rationalität, indem sie diese kanalisieren; aber sie löschen sie nicht aus. Man darf sich also nicht seitenverkehrt antagonistisch kanalisieren lassen. Der Karl Marx, der die Holzbank im British Museum drückte, tat dies im Dom der unter bürgerlicher Hegemonie gesammelten Rationalität aller Zeiten. Selbst noch für seine Kritik der politischen Ökonomie fand er unentbehrliche Vorarbeiten seitens bürgerlicher Ökonomen, namentlich bei Ricardo, den er dafür rühmt, geradezu eine »Kritik der bisherigen politischen Ökonomie« geleistet zu haben (MEW 26.2, 166). Eine entsprechende Erfahrung lässt sich im Spiegel meiner Werkstattnotizen machen. Auf den Höhepunkten des Korruptionsskandals der CDU, der fast zu einer Staatskrise führte, oder des irreführend so genannten »Kosovo-Krieges«, der ein Krieg gegen Jugoslawien war, wird man sehen, dass bestimmte Redakteure der FAZ in kaum überbietbarer Schärfe als Kritiker hervortraten. Sie ihrerseits gleichzeitig zu beerben und zu kritisieren, bezeugt auch eine Form von Respekt. Ihnen etwas abzugewinnen, macht diese Kritik zur immanenten und charakterisiert sie als bestimmte Negation. Als solche enthält sie ein Moment der Zustimmung, aber eines, über dessen Status, ob rechtens Zwischenakt oder Haupthandlung, gestritten wird.
Es kommt mir nicht vor allem darauf an, Recht zu behalten. Erkannte Fehler wiegen mehr als sedimentierte Überzeugungen. Richtig scheint es mir auf jeden Fall, wenn ich von Tag zu Tag daran arbeite, die chaotische Mannigfaltigkeit der Geschehnisse zu entwirren, zu entziffern und ihre inneren Zusammenhänge aufzuspüren, und dabei versuche, »im Untergegangenen auch das Uneingelöste zu sehen, im Defekten und Defizienten auch den Funken eines Unaufgebbaren«5 am Glühen zu halten.
III.
Von sich selbst als Wesen aus Fleisch und Blut, den eigenen Träumen, Verletzlichkeiten, Schwächen und Zweifeln zu schweigen, empfiehlt die Vorsicht. In der Werkstatt aber regiert das experimentelle Denken. Ohne Risiko ist es nicht zu haben. Nicht nur das Material, auch sein Bearbeiter wird bearbeitet. Das Experimentieren, was das Material hergibt und mit sich machen lässt, ist Sache eines Subjekts, freilich eines, das eingetaucht ist in den geschichtlichen Prozess, dem es auf die Schliche zu kommen versucht. Die Unschärferelation, die dadurch hereinkommt, gehört ins Bild, muss sichtbar gemacht werden. Sie auszublenden, würde sie unbearbeitbar machen. Sie im Bild zu belassen, mag erfahrungsoffenen und experimentierfreudigen Geistern den Zugang erleichtern. Und dies ist bitter nötig angesichts des »Zerberstens der Bindeglieder zwischen den Generationen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart«, das Eric Hobsbawm im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts registrierte.
Vielleicht tragen die folgenden Aufzeichnungen in ihrer an Einzelheiten sich festmachenden Streuung dazu bei, eine Brücke zwischen den Zeiten und Generationen zu schlagen, auch wenn manches den später Geborenen wie böhmische Dörfer vorkommen mag. Die Möglichkeit, im Internet zu suchen, macht Anmerkungen in solchen Fällen zumeist entbehrlich. Auf ein Namensregister verzichte ich, weil es zur personalisierenden Neugier einlädt. Was nicht interessiert, mag bedenkenlos überblättert werden. Wer Lesen als Herauslesen praktiziert, wird entdecken, dass unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder Anderes zu einem spricht.
Danksagung
Wer wären wir ohne Weggefährten! Else Laudans spontane Reaktion auf einen ersten Einblick ins Manuskript half mir über die Schwelle der Bedenken, das Material zu veröffentlichen. Bei der Bearbeitung, Kürzung und Korrektur der Notizen standen mir Klaus Bochmann, Jan Rehmann, Jörg Tuguntke, Thomas Weber und immer wieder Frigga Haug zur Seite, ganz besonders aber Ilse Schütte und Jan Loheit. Martin Grundmann gestaltete den Umschlag und gab trotz einer Erkrankung dem Buch mit bewährter Sorgfalt seine typographische Gestalt, zuletzt unterstützt von Iris Konopik. Ihnen allen gilt mein herzlichster Dank.