Читать книгу Soziale Arbeit in der Justiz - Wolfgang Klug - Страница 33
2.2.1 Ökosozialer Ansatz
ОглавлениеDie Amerikaner*innen Germain und Gitterman begannen in den 1970er Jahren damit, Problemlagen verschiedener Klient*innengruppen der Sozialen Arbeit neu zu überdenken. Sie nannten ihr Konzept das Life Model der Sozialen Arbeit und mit ihrem 1980 erschienenen Buch »The Life Model of Social Work Practice« markierten sie einen der ersten im Nachkriegsdeutschland rezipierten Versuche, einen eigenen der Sozialen Arbeit typischen Theorieentwurf vorzulegen. Der zweiten Auflage des »Life Model« im Jahre 1988 folgte 1999 eine erweiterte und vertiefte Neubearbeitung, die unter dem deutschen Titel »Praktische Sozialarbeit. Das Life Model der Sozialen Arbeit, Fortschritte in Theorie und Praxis« mit einem Vorwort von Wendt erschien (1999).
Die Arbeit von Germain und Gitterman beruht auf der ökologischen Theorie. Dies bedeutet, Menschen nicht als isolierte Wesen zu betrachten, sondern immer in ihrem Habitat, also in ihrer Lebensumgebung. So wird die Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt zum zentralen Erklärungs- und Handlungsansatz. Germain und Gitterman unterscheiden dabei zwischen materieller und sozialer Umwelt. Zur materiellen Umwelt zählen »die von Menschen errichteten Strukturen, der Raum, der diese Strukturen ermöglicht, aufnimmt oder bereitstellt, und die Rhythmen der Umwelt und der menschlichen Biologie« (Germain & Gitterman 1999, 5).
Unter sozialer Umwelt werden die Freundschaften und andere Beziehungen wie z. B. die Familie, Kolleg*innen oder Freund*innen verstanden (ebd., 6). Sowohl materielle als auch soziale Umwelt beeinflussen den Menschen, und umgekehrt beeinflusst das Individuum seine materielle und soziale Umwelt.
Unter dem ökosozialen Paradigma wird die Abgestimmtheit des Menschen zu seiner Umwelt zum zentralen Bezugspunkt der sozialarbeiterischen Betrachtung. Menschen und ihre Umwelt können
»nur im Gesamtkontext aller Wechselbeziehungen zwischen ihnen voll verstanden werden, wobei Individuen, Familien und Gruppen sowie materielle/soziale Umweltbedingungen ununterbrochen die Wirkungen aller jeweils anderen beeinflussen« (ebd.).
Das ökologische Paradigma betont die Notwendigkeit eines transaktionalen Verständnisses von Menschen in ihrem Lebenszusammenhang und grenzt sich von Ansätzen anderer Professionen – z. B. der klassischen Psychologie – ab, deren zentrales Bestreben es ist, »psychische Tatbestände von den sie produzierenden nicht psychischen Voraussetzungen und Bedingungen« abzusondern (Maikowski & Rott 1978, 148). Damit unterscheidet sich das psychologische Erklärungsmodell in deutlicher Weise von einer Sozialen Arbeit nach ökologischem Verständnis: Dieses sieht sowohl einzelne Menschen und Familien als auch Gruppen und Gemeinwesen durch komplexe Bewältigungsanforderungen ihrer Umwelt herausgefordert (Germain & Gitterman 1999, 22).
Werden diese stetigen Wechselwirkungen von Individuum und Umwelt zum zentralen Gegenstand, stellt sich also immer die Frage, wie die jeweiligen Umweltgegebenheiten und die Möglichkeiten des Individuums zusammenpassen oder zusammenfinden. Germain und Gitterman benutzen hierfür den Terminus »Abstimmung von Person und Umwelt«. Ist die Abstimmung von Person und Umwelt gut, wird die Entwicklung des Individuums nicht behindert und die Umwelt nicht geschädigt. Sind die Bedürfnisse und Wünsche des Individuums und seine Umwelt schlecht aufeinander abgestimmt, können soziale Probleme entstehen.
Soziale Probleme entstehen demnach dann, wenn die Bedürfnisse der Person durch die Umwelt nicht befriedigend erfüllt sind und die Person mit den ihr zur Verfügung stehenden individuellen Ressourcen nicht in der Lage ist, sich die entsprechenden Umweltressourcen zu verschaffen. Ein ungünstiges Anpassungsverhältnis zwischen Bedürfnissen und Bewältigungsweisen (Coping) der Menschen und den Charakteristika der Umwelt erzeugt Stress. Interner Stress ist nach Germain und Gitterman ein Symptom für negative Beziehungen zwischen der Person und der Umwelt. Germain & Gitterman (1999, 156) betonen:
»Wie gut Menschen Streß bewältigen können, hängt weitgehend von dem zwischen externen und internen Ressourcen bestehenden Anpassungsgleichgewicht ab.«
Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es nun, die Bewältigung sozialer Probleme dadurch zu unterstützen, indem einerseits dem Individuum die Anpassung an die Umwelt ermöglicht wird und deren Ressourcen erschlossen werden können, andererseits aber auch die Empfänglichkeit der Umwelt für das Individuum gefördert wird. Diese theoretische Perspektive ist gleichzeitig auf der Handlungsebene der Ansatzpunkt für Case Management, das zum Ziel hat, soziale Probleme durch optimale Allokation, Einbeziehung und Koordination von Umweltressourcen zu lösen.
Wendt (1990) führt in seiner Adaption des ökosozialen Ansatzes bewusst den aus ökonomischen Zusammenhängen stammenden Begriff des »Management« ein, der wie folgt verstanden werden kann:
»Analog ›managt‹ ein einzelner Mensch seine Alltagsangelegenheiten, wenn er sie in großen Zügen auf Ziele und Zwecke hin besieht und auslegt, um dann Vorrangiges von Nachrangigem zu unterscheiden und den Zeit- und Mitteleinsatz entsprechend einzurichten« (ebd., 122).
Für dieses persönliche (Selbst-)Management stehen jedem Menschen innere und äußere Ressourcen zur Verfügung, die er in seiner je eigenen Lebenswelt gebrauchen kann, um die Anforderungen zu bewältigen, die sich stellen. In Anlehnung an Rice und Tucker (zit. in Wendt 1990, 61) können dies sein:
• »personal characteristics,
• environmental qualities,
• natural resources,
• community facilities,
• resources include all possessions,
• human capabilities and environmental characteristics that are on hand or in reserve and available for use and development.«
Gelingt es, die inneren und äußeren Ressourcen so zu nutzen, dass die Anpassungsleistung zu für den*die Einzelne*n befriedigenden Ergebnissen führt, folgt daraus persönliches Wachstum und Zufriedenheit. Gelingt dies nicht, kommt es zu mangelhaftem Ressourcenmanagement. Dies kann bei gefährdeten Menschen zu chronischen psychosomatischen Erkrankungen, zu destruktiven Anpassungsversuchen (z. B. Sucht) oder anderen akuten Problemen führen. Auch Kriminalität ist aus ökosozialer Perspektive ein Zeichen mangelnder Abgestimmtheit zwischen Person und Umwelt. Entscheidend dabei ist zu sehen, dass die akute Krise ihre Ursachen in der mangelnden Alltagsführungskompetenz in Verbindung mit fehlenden oder nicht zugänglichen Ressourcen des Umfeldes hat. Zu vermeiden sind allerdings einseitige ›Schuldzuweisungen‹: Weder der Einzelne ist (alleine) schuld an seiner Situation, noch die Umwelt ist (alleine) verantwortlich zu machen, vielmehr rückt die entsprechende Wechselwirkung von Person und Umwelt in den Fokus.
Aus diesen grundlegenden Annahmen ergibt sich folgende (ökosoziale) Hilfestrategie: Es muss gelingen, in einem für Klient*innen überschaubaren Hilfeprozess diese in die Lage zu versetzen, das eigene Lebensmanagement mit den verschiedenen Facetten (ökonomische Komponente, Beziehungen, Freizeitbeschäftigung, Arbeit, Wohnen) in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus gilt es, sie zu befähigen, die sich zukünftig stellenden Herausforderungen strategisch, d. h. langfristig planend, anzugehen. Dabei darf nie die Einbettung der Klient*innen in ihre Umwelt vergessen werden. Soziale Arbeit in einem ökosozialen Verständnis findet deshalb auf drei Systemebenen statt (Mühlum 1994; Wendt 1990, 19).
• Auf der Mikrosystem-Ebene:
Diese Ebene betrifft die Person des*der Klient*in und sein*ihr unmittelbares Umfeld.
• Auf der Mesosystem-Ebene:
Diese Ebene zielt auf die soziale Nahumwelt, Freund*innen, Bekannte, Gruppen und Kreise, sowie die soziale Infrastruktur.
• Auf der Makrosystem-Ebene:
Diese Ebene betrifft die überregionalen Systeme wie das Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialsystem.
Erst in der dritten Auflage haben Germain & Gitterman (1999) Meso- und Makrosystem sowie Überlegungen zum Einfluss der Organisationen auf die Hilfegestaltung aufgenommen. Neben der Arbeit mit dem Mikrosystem, also der Verhaltens- und Einstellungsänderung von Klient*innen, sind es die »Verhältnisse«, die zunächst auf der Mesoebene einer Veränderung unterzogen werden müssen. Damit wird die Gemeinde (Community) zum Ort sozialarbeiterischer und folglich politischer Arbeit. Germain & Gitterman begründen dies wie folgt:
»Der Mangel an Ressourcen in einer Gemeinde (community), Probleme bei der Koordination der Gemeinde-Ressourcen oder Schwierigkeiten beim Zugang zu vorhandenen Ressourcen können Lebensstressoren darstellen oder verschärfen. Um die Lebensqualität von Gemeinden und Nachbarschaft zu verbessern, ist es erforderlich, dass SozialarbeiterInnen, die ihre Praxis nach dem Life Model ausrichten, ein bestimmtes Wissen und methodisches Können für die Gemeinwesenarbeit (community work) erwerben« (Germain & Gitterman 1999, 502).
Für die sozialarbeiterische Arbeit auf der Makroebene bedeutet dies, dass Kenntnisse im Bereich der Entstehung von Gesetzen sowie vorhandener Gesetze erforderlich sind. Hinzu kommt das Wissen, das benötigt wird, um die politische Entwicklung zu beeinflussen. Wie kommen Gesetze und Verordnungen zustande? Welche Methoden und Fertigkeiten benötigen Sozialarbeiter*innen, um auf dieser Ebene Veränderungen herbeiführen zu können?
Eine professionelle Aufgabe und Funktion der Sozialen Arbeit auf der Makroebene muss nach dem Life Model eine Art Anwaltschaftlichkeit gegenüber Gemeinden, Organisationen und dem Staat sein. Wenn Sozialarbeiter*innen als Fürsprecher*innen für ihre Klient*innen auftreten, müssen sie die professionellen und persönlichen Ressourcen, die sie zur Verfügung haben, abschätzen. Um politisch tätig werden zu können, müssen sie sich im Klaren darüber sein, welche Unterstützung sie seitens der eigenen Organisation und des eigenen Verbandes erhalten, um mit den möglichen Konsequenzen umgehen zu können. Diese Haltung wird in der US-amerikanischen Fachliteratur Advocacy genannt.