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2.2.3 Bewertung und Ertrag

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Zunächst fallen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden dargestellten Theorieansätzen ins Auge: Beide verweisen auf eine multiperspektivische und ebenenübergreifende Betrachtungsweise, denn beide betonen die Notwendigkeit, persönliches Verhalten im Kontext von beeinflussenden Verhältnissen zu sehen. In Konsequenz bedeutet dies, dass zum methodischen Repertoire Sozialer Arbeit immer auch sozialraumorientiertes und vernetzendes Agieren gehören muss. Gemeinsam ist beiden Ansätzen auch die Orientierung an Ressourcen sowohl der Person als auch der Umwelt zur Bewältigung von Herausforderungen, die sich in der Lebenswelt ergeben. Schließlich ist die politische Agenda zu nennen, die darin besteht, belastende Bedingungen der Verhältnisse zu verändern. Unstrittig ist zudem das von Klient*innen formulierte Hilfe-Mandat, das zu formulieren und zu definieren alleiniges Recht der*des Klient*in ist. Im Rahmen einer solchen »Hilfeleistung« – also wenn es weder um Fürsorge (im Sinne eines stellvertretenden Handelns wegen Unmündigkeit) noch um interventionistisches Handeln (im Sinnen des gesellschaftlich vorgegebenen Handlungsauftrages z. B. im Kinderschutz) geht – stellt gemeinsames Aushandeln von Zielen die adäquate Vorgehensweise dar (Germain & Gitterman 1999, 45).

Bei aller Gemeinsamkeit sind jedoch auch die Unterschiede deutlich zu markieren. Sie liegen dort, wo es um das Akzeptieren oder Nichtakzeptieren des Zwangskontextes geht, in dem sich Justizsozialarbeit abspielt. Für Germain & Gitterman ist klar:

»Wenn Dienste durch ein Gericht […] angeordnet werden, muß der/die SozialarbeiterIn das Mandat anerkennen und offen mit seinen Implikationen umgehen. Sowohl die Natur des Mandates als auch das Ausmaß der möglichen Sanktionen auf Zuwiderhandlungen müssen erörtert werden« (Germain & Gitterman 1999, 71).

Ein gesellschaftlich gegebener Arbeitsauftrag und die damit verbundene Vorgehensweise sind nicht daran geknüpft, dass Klient*innen dieses Mandat willkommen heißen, Germain und Gitterman (1999, 117) betonen aber die Zielperspektive, trotz des Zwangskontextes alles zu tun, damit der*die Klient*in dem*der Sozialarbeiter*in doch noch das ›Mandat‹ zur Hilfeleistung gibt. Für Germain & Gitterman selbstverständlich sind eine berufsethisch fundierte, anwaltschaftliche Praxis und ein politisches Verständnis für Macht und Ohnmacht der Klientel.

Der ökosoziale Sozialarbeitsansatz akzeptiert also grundsätzlich den Zwangskontext und setzt sich methodisch mit diesen Grundgegebenheiten auseinander (vgl. auch: Wendt 1997). Dies lässt sich in gleicher Weise nicht vom Lebensweltorientierten Ansatz sagen. Insbesondere von den Vertreter*innen, die postulieren, das »fachlich Eigene« im Bereich der Straffälligenhilfe, also das einzig sozialarbeiterisch Vertretbare, sei »ein sinnverstehendes, hermeneutisches Paradigma« (Cornel et al. 2019, 86), wird nicht nur die Grenze zwischen Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik verwischt, es werden mit der Ineinssetzung von Justizsozialarbeit und hermeneutischem Verstehen viele andere Tätigkeiten, die Soziale Arbeit leisten muss (z. B. Schuldenregulierung, Risikoeinschätzung zur Rückfallvermeidung, Opferschutz) nicht als sozialarbeiterisch statthaft erklärt. Dies erscheint auch angesichts der eben dargelegten alternativen Sozialarbeitstheorie eine nicht zulässige (und nicht begründbare) Engführung.

Wenn zudem aus dem Lebensweltansatz gefolgert wird, dass das »dialogische Aushandeln« von Hilfebedarfen zwischen Klient*in und Sozialpädagog*in sich durchgesetzt habe (Galuske 2018, 1001; vgl. auch: Ghanem & Graebsch 2020, 69) und damit der Verhandlungsmodus zur methodischen Haupthandlungsmaxime erklärt wird, mag das für die Hilfeplankonferenz in der Jugendhilfe noch möglich sein, im Kinderschutz des Jugendamtes ist ›Aushandeln‹ allenfalls ein Teil des Repertoires, ein anderer Teil wird im Zwangskontext nicht an Interventionen vorbeikommen, die auch gegen den Willen von Klient*innen gerichtet sein können.

Mit Blick auf die Zwangskontexte schreibt Maja Heiner:

»Die Grenzen von Aushandlung, Verständigung und hoffendem Abwarten, die den rekonstruktiven Ansatz kennzeichnen, wurden ebenso deutlich wie der Bedarf an Kriterien, um Risiken einschätzen zu können – trotz verbleibender Unwägbarkeiten« (Heiner 2013,19).

Auch wer aus dem Lebensweltansatz heraus argumentierend grundsätzlich das »doppelte Mandat« (vgl. ausführliche Beschreibung des »doppelten Mandats« Kap. 3.2) ablehnt, wird im Arbeitsfeld der Justiz enorme Probleme mit dem Auftraggeber zu erwarten haben. Das »doppelte Mandat« von Hilfe und Kontrolle ist eben gerade in der Justiz, deren Hauptaufgabe die Rückfallvermeidung ist, was man eben nicht immer als diesbezüglichen Wunsch des*der Straftäter*in voraussetzen kann, alles andere als ein »praxisferner akademischer Diskurs« (Lutz 2011,16). Das »doppelte Mandat« ist in seiner Konsequenz nicht praxisfern, sondern beeinflusst die Praxis bis in die Methodik hinein. Vielmehr gilt mit Schilling und Zeller festzuhalten: »Solange Soziale Arbeit im öffentlichen Auftrag handelt und sich in öffentlichen Organisationen vollzieht, ist das doppelte Mandat strukturell unvermeidbar und geradezu konstitutiv für die Berufsrolle« (Schilling & Zeller 2007,168). Wer das »doppelte Mandat« nicht akzeptieren kann, weil nur ein einziges Mandat – nämlich das der Klient*innen – für vereinbar mit dem Lebensweltansatz gehalten wird, muss sich der Folgen bewusst sein, die damit für das Arbeitsfeld verbunden sind. So haben Geiger & Steinert konsequenterweise vor mehr als zwanzig Jahren festgestellt,

»daß der Zuständigkeitsbereich der Justiz nun einmal keinen angemessenen Rahmen für eine intensivere Bearbeitung psychosozialer Probleme bietet, weil Hilfe und Kontrolle in einem allzu engen Zusammenhang stehen. […] Das Motto lautet vielmehr: ›Raus aus der Justiz!‹ » (Geiger & Steinert 1993, 119).

Auch in neueren Publikationen wird die Kompatibilität justiznaher Sozialarbeit mit wesentlichen Maximen sozialarbeiterischen (besser: sozialpädagogischen) Selbstverständnisses in Frage gestellt (so z. B. Ghanem & Graebsch 2020, 70).

In letzter Konsequenz heißt also ein stringentes Festhalten an einem so verstandenen Lebensweltansatz, das Feld öffentlicher Justizsozialarbeit (und vermutlich einige andere Arbeitsfelder auch) aufzugeben.

Auf einer Metaebene zeigen sich in der Betrachtung der beiden Sozialarbeitstheorien und insbesondere ihrer gegensätzlichen Positionen ein nicht unerhebliches Problem in der paradigmatischen Grundlegung Sozialer Arbeit, das wir u. a. in der vorschnellen Gleichsetzung von Sozialer Arbeit mit Sozialpädagogik vermuten. Für unser Verständnis der Notwendigkeit eines »sozialarbeiterischen Blickes« auf die Aufgaben Sozialer Arbeit in der Justiz scheint der ökosoziale Sozialarbeitsansatz vollständig kompatibel, während der Lebensweltansatz zwar wichtige Anregungen für die fachliche Weiterentwicklung bietet, insbesondere aber durch sein ambivalentes Verhältnis zum »doppelten Mandat« Aporien entstehen lässt, die zu schwerwiegenden theoretischen und praktischen Problemen führen könnten. Dies möchten wir an einem Beispiel deutlich machen:

a. Da ist zum einen ein überaus klarer Auftrag der Justiz an die Soziale Arbeit zu konstatieren. Dieser Auftrag besteht in dem Doppelmandat, neben den notwendigen Hilfeleistungen im Auftrag des*der Klient*in zur Verbesserung seiner*ihrer Lebenslage, die Soziale Arbeit in den Dienst der Rückfallprävention zu stellen. Genannt seien hier nur die Grundsätze der »European Probation Rules«, die Morgenstern mit den Worten zusammenfasst: »Als Hauptziel der Europäischen Bewährungshilfegrundsätze und Hauptaufgabe für die Bewährungshilfeeinrichtungen wird die Vermeidung von Rückfällen festgeschrieben, indem positive Beziehungen zu den Straffälligen aufgebaut werden« (Morgenstern 2012, 224; Herv. d. Verf.).

b. Auf der anderen Seite – und im Gegensatz zu dem eben formulierten Auftrag – steht das Verdikt des sozialpädagogischen Sozialarbeitsverständnisses, etwa ausgedrückt in der Feststellung: »Resozialisierung im engen Sinne von Kriminalitätsvermeidung ist nicht das primäre Ziel Sozialer Arbeit« (Kawamura-Reindl & Schneider 2015, 69).

Es erscheint daher klärungsbedürftig, wie ein solcher diametraler Gegensatz zwischen professionellem Auftrag (a.) und disziplinärer Grundlegung (b.) theoretisch und praktisch aufgelöst werden kann. In der Frage der Weiterentwicklung der Praxis führt diese Aporie dazu, dass es beispielsweise in der Bewährungshilfe inkompatible Vorstellungen gibt (z. B. in der Frage der Notwendigkeit oder Ablehnung der Diagnostik, der Risikoeinschätzung, der Manualisierung etc.).

Wie oben dargestellt führt eine konsequente Ablehnung des »doppelten Mandats« (im Sinne des Auftraggebers Justiz) zum Ausstieg aus der öffentlichen Justizsozialarbeit. Dies kann man durchaus so vertreten, allerdings müsste man es dann auch so benennen. Das Unterfangen, diese offenkundigen Disparitäten zu lösen, kann hier nicht geleistet werden, es ist an den entsprechenden Vertreter*innen selbst, zu einer Klärung beizutragen. An dieser Stelle können wir die genannte Problematik nur pragmatisch im Sinne einer Vorentscheidung umgehen und unseren weiteren Überlegungen im Wesentlichen den ökosozialen Sozialarbeitsansatz zugrunde legen.

An vielen weiteren Stellen in diesem Buch werden die Unterschiede zwischen den beiden Betrachtungsweisen noch einmal auftauchen, insbesondere, wo es um methodische Entscheidungen (z. B. Risikodiagnostik) geht. Diese werden sehr häufig nur auf einer oberflächlichen, methodisch-praktischen Ebene diskutiert, ohne den zugrundeliegenden paradigmatischen Dissens zu verstehen. Im schlimmsten Fall münden Methodendebatten in einer ideologisch aufgeladenen Feststellung, die eine oder die andere Methode sei nicht mehr mit Ethik, Programmatik, Professionsverständnis etc. vereinbar. Auf einer praktischen Ebene sind die methodischen Fragen und insbesondere die Wahl der Methoden ohne eine disziplinäre Verortung der jeweiligen Positionen kaum zu klären, sie können nur unter Zugrunde- und Offenlegen der hinter einer Methodenentscheidung liegenden sozialarbeiterischen (oder sozialpädagogischen) Theorien gelöst werden. Wir werden im nächsten Kapitel noch einmal ausführlich auf dieses Problem zu sprechen kommen. Deshalb erscheint es uns besonders wichtig, die beiden grundlegenden Sozialarbeitstheorien – auch in ihrer Unterschiedlichkeit – entsprechend darzulegen. Zudem soll damit die Entscheidung begründet werden, uns in den folgenden Ausführungen primär auf ein Sozialarbeitsverständnis im Sinne des ökosozialen Ansatzes zu berufen.

Soziale Arbeit in der Justiz

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