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I. Einleitung

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Jede wissenschaftliche Behandlung historischer Ereignisse und Zusammenhänge ist auf die Verwendung von Konzepten und Begriffen angewiesen, die das Geschehen zum einen erschließen und analysieren helfen, zum anderen aber auch spezifische Deutungsmuster beinhalten. In Bezug auf den Ersten Weltkrieg haben seit Langem vor allem zwei Konzeptbegriffe Konjunktur: Der Krieg selbst wird zumeist als erster „totaler Krieg“ der neueren Geschichte begriffen. Ein zeitgenössisches, vor allem in der Nachkriegszeit ausformuliertes politisches Projekt, dass auf die Mobilisierung der gesamten Gesellschaft an der „Heimatfront“ für den industrialisierten Volkskrieg abzielte, ist dabei zu einem analytischen Konzept weiterentwickelt worden, dem es wesentlich darum geht, die alle Bereiche der Gesellschaft erfassenden und durchdringenden Wirkungen dieses Krieges in den Blick zu nehmen. Und für seine allgemeinere historische Einordnung ist es schon fast zu einem Allgemeinplatz geworden, den Ersten Weltkrieg mit George S. Kennan als „Urkatastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts“ zu deuten. Denn dieser Krieg hat in der Tat der weiteren Entwicklung des 20. Jahrhunderts seinen gewaltsamen Stempel aufgedrückt, so sehr, dass kaum ein Geschehen der folgenden Jahrzehnte, zumal in Europa, ohne Rückbezug darauf erklärbar erscheint.

Eine Zivilisationskrise der europäischen Moderne

Trotzdem wird der Erste Weltkrieg hier noch in einen etwas anders konturierten Zusammenhang gerückt: Er soll als Zivilisationskrise der europäischen Moderne gedeutet werden. Zuvor hatte das ‚lange‘ 19. Jahrhundert der europäischen Geschichte im Zeichen eines säkularen Modernisierungsprozesses gestanden, der – angetrieben von industrieller Revolution, politischer Demokratisierung und sozialer Emanzipation – eine neuartige, bürgerliche Gesellschaft hervorbrachte und mit einem umfassenden Fortschrittsoptimismus verbunden war. Wohlstand, Freiheit, Bildung und Zivilisation waren die Zielpunkte, auf die eine neuzeitlich bewegte Geschichte hinzulaufen schien. Doch am Ende stand schließlich ein Krieg, der alle produktiven gesellschaftlichen Kräfte für die Zwecke der Zerstörung und Vernichtung mobilisierte. Weit mehr als 10 Millionen Tote, eine noch weit größere Zahl von zerstörten Existenzen, zerrüttete Gesellschaften, zusammenbrechende politische Ordnungen und auch nach dem formellen Kriegsende nicht enden wollende gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Völker Europas: Das waren die Ergebnisse und Folgen des sogenannten Großen Krieges, die nicht einfach über das moderne Europa hineingebrochen, sondern die trotz allem Fortschrittspathos tief und ursächlich in ihm verwurzelt waren. Wie es hellsichtige und sensible Geister schon lange prognostiziert hatten, trug diese Moderne ganz offensichtlich Widersprüche, Abgründe und Zerstörungspotentiale in sich, die alle Fortschritte und davon ausgehenden Entwicklungsperspektiven nicht nur zunichte machen, sondern sie auch selbst für ihr Destruktionswerk nutzbar machen konnten.

Der Rekurs auf den Krisenbegriff beinhaltet trotzdem ein Weiteres. Denn Krisen haben ein Janusgesicht, das auch den Ersten Weltkrieg ausgezeichnet hat. Sie zerstören nicht nur die alte Ordnung, aus der sie erwachsen sind, sondern sie setzen zugleich neue, in die Zukunft weisende Kräfte frei, die aus dem Versuch hervorgehen, ihre zerstörerische Kraft zu beherrschen oder zu überwinden. Revolution, Demokratisierung und Selbstbestimmungsrecht der Völker, neuer Mensch, Massenkultur, Avantgarde oder Völkerbund lauteten die Stichworte, die das schöpferische Potential der Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch des großen Krieges anzeigen, aber auch totale Mobilmachung, Volksgemeinschaft, Gewaltkult und Führertum. Die hier vorgelegte Einführung in die Geschichte des Ersten Weltkrieges unternimmt deshalb den Versuch, die verschiedenen Ebenen des Kriegsgeschehens immer unter der doppelten Perspektive von umfassender Destruktion und schöpferischem Aufbruch zu betrachten; Erscheinungen des totalen Krieges allerdings, die – und darin liegt vielleicht das eigentliche historische Drama – oft in kaum auflösbarer Weise miteinander verbundenen waren.

Zur Forschungsentwicklung

Die Anlage einer einführenden Darstellung hängt ferner von den Fragestellungen und Themenschwerpunkten ab, die die wissenschaftliche Forschung und Diskussion geprägt haben. Die Forschungsentwicklung zum Ersten Weltkrieg ist strukturell in vieler Hinsicht von den allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Konjunkturen beeinflusst worden. Lange Zeit standen im engeren Sinne politische Fragestellungen im Mittelpunkt, wobei der Kriegsschuldfrage von Anfang an eine besondere, auch selbst wiederum politische Bedeutung zukam. Schnell trat auch die enge Verbindung von Außen- und Innenpolitik zutage, etwa in der Problematik der Kriegsziele, und auch die innenpolitische Systementwicklung im Spannungsverhältnis von Regierungen, Parlamenten, Parteien und Militärs rückte bald in den Fokus historischer Forschungen. Vor allem seit den ausgehenden 1960er Jahren begann sich dann die sozialhistorische Wende in der Geschichtswissenschaft auch in der Weltkriegsforschung abzuzeichnen, deutlich etwa in Arthur Marwicks stilbildender Untersuchung der mit dem Krieg einhergehenden, forcierten gesellschaftlichen Veränderungen in Großbritannien oder in Jürgen Kockas ähnlich einflussreicher Analyse der deutschen „Klassengesellschaft im Krieg“.

Während die Sozialgeschichtsschreibung dabei vor allem die allgemeinen Strukturen der Gesellschaftsentwicklung in den Blick genommen hat, traten in der Folgezeit alltagsgeschichtlich orientierte Studien hinzu, in denen die unmittelbaren Wirkungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen des Krieges thematisiert wurden. Wiederum parallel zur konzeptionellen Entwicklung der Geschichtswissenschaft insgesamt stehen die Studien der jüngsten Zeit nun vor allem im Zeichen kulturgeschichtlicher Fragestellungen und Schwerpunktsetzungen, eine Entwicklung, die sich deutlich in den zwei großen Tagungen und Sammelbänden des internationalen Dokumentations- und Forschungszentrum „Historial de la Grande Guerre“ in Peronne, auf den Schlachtfeldern an der Somme, abzeichnet. Hatte man sich hier in den 1980er Jahren noch mit der Gesellschaftsentwicklung im Ersten Weltkrieg beschäftigt, so lautete der Schwerpunkt der 1990er Jahre nun „Guerre et Cultures“. Eine Besonderheit der Ersten Weltkriegsforschung stellt schließlich die Militärgeschichte dar. Lange, und nicht zuletzt in Deutschland, vor allem getragen von militärnahen Institutionen und Forschungsinteressen, hat sie sich in der letzten Zeit zunehmend emanzipieren können und eine eigene Forschungstradition jenseits der Geschichte von Schlachten und Strategien zu entwickeln begonnen.

Gliederungsprinzipien

Die vorliegende Einführung greift die skizzierte Forschungsentwicklung auf und leitet daraus ein systematisches Gliederungsprinzip ab, das zwischen den Ebenen der Politik, der Gesellschaft, der Kultur und des Militärs unterscheidet. Die Perspektive ist europäisch, wobei vor allem Deutschland, England und Frankreich in den Blick genommen werden und ein Schwerpunkt auf den deutschen Entwicklungen lieg, insbesondere in den eingeschobenen Quellenauszügen. Dem historischen Entwicklungsprinzip wird dabei nicht nur innerhalb der systematischen Kapitel Rechnung getragen, sondern auch durch einleitende bzw. abschließende Kapitel über die Ursachen und den Beginn des Krieges sowie über sein Ende und seine Wirkungen. Zweifellos wäre auch eine Geschichte des Ersten Weltkriegs vorstellbar, die verschiedene systematische Ebenen in eine am Verlauf orientierte Gesamtdarstellung integriert. Doch für die orientierende Einführung in einen so vielfältigen und komplexen Gegenstand erscheint eine sachsystematische Gliederung besser geeignet, weil sie mehr Raum für möglichst umfassende Informationen über die verschiedenen Sachzusammenhänge bietet und zugleich auch die Eigenlogik der unterschiedlichen thematischen Forschungsfelder stärker berücksichtigen kann. Dabei gilt es jedoch immer in Rechnung zu stellen, dass jede Aufgliederung einen künstlichen Charakter hat und immer auch die vielfältigen Überschneidungen, Zusammenhänge und Wirkungsverhältnisse zwischen den systematisch unterschiedenen Themenfeldern im Blick zu behalten sind. Eine wesentliche, verbindende Klammer ist dabei zweifellos in der Periodisierung des Krieges, seiner Einteilung in verschiedene Entwicklungsphasen mit unterschiedlichen inhaltlichen Orientierungen und Schwerpunktsetzungen zu sehen.

Phasen und Zäsuren

Für den Ersten Weltkrieg erscheint es sinnvoll, nach der Vorgeschichte des Krieges von einer ersten Phase auszugehen, die geprägt war von der Erwartung oder zumindest der Hoffnung, es werde zu einer schnellen Kriegsentscheidung kommen. Militärisch stand der Bewegungskrieg im Vordergrund, innenpolitisch dominierten Improvisation und Vertagung wichtiger Probleme, die Gesellschaft selbst wurde noch kaum als Faktor des Krieges begriffen. Alles dies begann sich zu verändern, als sich im Herbst 1914 der deutsche Angriffsschwung im Westen festgelaufen hatte, die anfänglich in Ostpreußen eingedrungenen russischen Truppen wieder hinausgedrängt worden waren und sich die Fronten im Stellungskrieg verfestigten, insbesondere im Westen. Nun wurde in einer zweiten Phase immer deutlicher, dass der Krieg noch lange dauern und zu einem industriell fundierten Abnutzungskrieg werden würde, der grundlegende Veränderung in der militärischen Strategie, in der politischen Orientierung sowie in der Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft notwendig machte. Diese Entwicklung zum totalen Krieg mündete in eine dritte Phase ein, als nach den großen, verlustreichen Abnutzungsschlachten vor Verdun und an der Somme in Deutschland die 3. Oberste Heeresleitung unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff die totale Mobilmachung von Wirtschaft und Gesellschaft auf ihre Fahnen schrieb, während in England und Frankreich die charismatischen Führerpersönlichkeiten David Lloyd George (1863–1945) und Georges Clemenceau (1841–1929) ihre zivilen „Kriegsdiktaturen“ errichteten und ähnliche Programme verfolgten. Im Jahre 1917 gelangte der Krieg gewissermaßen an seine Peripetie, als die deutsche Führung sich endgültig zum unbegrenzten U-Boot-Krieg entschloss, die USA in den Krieg eintraten und die Revolutionen in Russland nicht nur die Kriegskonstellationen veränderten, sondern auch deutlich machten, welche Folgen der fortgesetzte Krieg auch für andere Länder haben konnte. Nach dem der Sowjetführung vom deutschen Militär aufgezwungenen Gewaltfrieden von Brest-Litowsk kam im Frühjahr 1918 auch die Front im Westen wieder in Bewegung. Doch als sich die deutschen Angriffe festgelaufen hatten, zeichnete sich nun in der Endphase des Krieges der militärische Zusammenbruch der Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Türkei immer deutlicher ab, die schließlich im Oktober/November 1918 unter dem Druck der Alliierten einerseits, revolutionärer Aufstandsbewegungen im Innern andererseits kapitulieren mussten.

Ein im Kern europäischer Konflikt

Zweifellos war der Erste Weltkrieg in seinen Dimensionen nicht allein ein europäischer, sondern ein globaler Konflikt, schon 1914 mit dem Kriegseintritt Japans, der Türkei und des britischen Empire sowie der anderen europäischen Kolonialreiche, endgültig dann seit 1917 mit dem Kriegseintritt der USA und in ihrem Gefolge auch der meisten mittel- und südamerikanischen sowie asiatischen Staaten. In größeren historischen Zusammenhängen betrachtet, stellen vor diesem Hintergrund nicht nur die allgemeinen weltgeschichtlichen Weichenstellungen mit dem Aufstieg der USA und der Bildung der Sowjetunion, sondern auch die Auswirkungen des Krieges auf den Prozess der Dekolonisation wichtige Themen dar. Trotzdem soll der Fokus hier vor allem auf die europäischen Zusammenhänge gerichtet werden. Denn nicht nur die Ursachen des Krieges lagen wesentlich in Europa. Auch das Kriegsgeschehen selbst konzentrierte sich – abgesehen von den erbitterten, ebenfalls erst 1918 entschiedenen Kämpfen zwischen der mit den Mittelmächten verbündeten Türkei und den von einheimischen Kräften unterstützten britisch-französischen Truppen in Arabien – auf den europäischen Kontinent. Hier lag das Zentrum eines Krieges, der in erster Linie um seine Vergangenheit und Zukunft geführt wurde.

Der Erste Weltkrieg

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