Читать книгу Erleben, Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen - Wolfgang Lenhard - Страница 10
1.1 Das Jugendalter – ein gefährlicher Entwicklungsabschnitt?
ОглавлениеBetrachtet man beispielhaft für Sekundarschulen in Deutschland die Gymnasien, so hat ein durchschnittliches Gymnasium aktuell etwa 720 Schülerinnen und Schüler (Statistisches Bundesamt, 2018a, S. 38) und bei einem Schnitt von ungefähr 15 Jugendlichen pro Lehrkraft ca. 48 Lehrkräfte. Wendet man die Ergebnisse der epidemiologischen Forschung auf diese Zahlen an, so ergeben sich die folgenden Belastungszahlen:
• 162 haben Lernprobleme (22,5 %; Fischbach et al., 2013).
• 88 verletzen sich regelmäßig selbst (12,25 %, Brunner et al., 2015).
• 29 haben eine dauerhaft andauernde depressive Störung (ca.4 %; Klasen et al., 2015).
• 72 haben klinisch bedeutsame Ängste (10 %; Ravens-Sieberer et al., 2007).
• 32 sind von ADHS betroffen (4,5 %; Akmatov et al., 2018).
• 72 beteiligen sich regelmäßig an Gewalthandlungen (10 %; Schäfer & Letsch, 2018).
• 29 sind stabil in einer Opferrolle (4 %; Schäfer & Letsch, 2018).
• 158 haben Probleme mit dem Essverhalten (21,9 %; Hölling & Schlack, 2007).
Summiert man diese Zahlen, dann kommt man auf einen Anteil von 88,2 %. Es drängt sich der Eindruck auf, dass fast jede Person von einem psychischen Problem betroffen sei. Glücklicherweise ist das in diesem extremen Ausmaß nicht der Fall und die Mehrheit der Jugendlichen wächst unbeschwert auf. Unglücklicherweise kumulieren sich die Probleme aber bei einzelnen Schülerinnen und Schülern, sodass beispielsweise eine Lernstörung gleichzeitig mit Angststörungen und Depressionen einhergehen kann. Dieses Phänomen des gleichzeitigen Auftretens verschiedener Störungen oder Krankheiten nennt man Komorbidität oder komorbide Störungen. Die verschiedenen Störungen können miteinander interagieren und einander bedingen oder sie können in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Im Einzelfall zeigen sich allerdings häufig unterschiedliche Problemfelder bei einer Person, ohne dass eine Aussage getroffen werden kann, welche Störung für die Entstehung welcher anderen Störung verantwortlich ist.
Doch auch aufseiten der Lehrkräfte sieht es nicht zwangsläufig viel besser aus, denn von den durchschnittlich 48 Lehrkräften überfordern sich 15 permanent selbst (31 %; Schaarschmidt & Kieschke, 2013), 14 sind Burn-Out-gefährdet und ca. 36 Personen (75 %) werden vor Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze aus dem Dienst ausscheiden (Statistisches Bundesamt, 2018b).
Es drängt sich die Frage auf, wieso das Schulsystem so stark von psychischen Störungen belastet ist, aber die Antwort ist letztendlich einfach: Es ist gar nicht besonders massiv betroffen, sondern psychische Probleme sind ein ganz normales Phänomen des menschlichen Lebens. In der Schule fallen die Probleme jedoch häufig erstmals auf und es besteht die berechtigte Hoffnung, in diesem jungen Alter Veränderungen herbeiführen zu können. Aufgrund der Schulpflicht besuchen zudem alle Kinder und Jugendlichen das Schulsystem und sie bringen auch alle Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, mit in die Schule. Gleichzeitig sind Probleme zum Teil ein Entwicklungsphänomen, denn die Entwicklung verläuft in diesem Lebensabschnitt rasant und sie geht mit Aufgaben einher, die gelöst werden müssen. Entwicklung ist somit nicht nur faszinierend, komplex und spannend, sondern Probleme können sich auch sehr schnell verschärfen. Doch auch das Schulsystem steht mit seiner begrenzten Differenzierungsfähigkeit vor der Herausforderung, diesen unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden, und durch die Schulpflicht entfällt die Möglichkeit, den Anforderungen und schulischen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Hintergrundwissen über die Komplexität der Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche gegenüberstehen, ist deshalb für im Bildungsbereich tätige Personen enorm wichtig.
Abb. 1.1: Todesfälle pro 100 000 Personen des gleichen Alters und Geschlechts (Statistisches Bundesamt, 2019)
Betrachtet man die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes ( Abb. 1.1; Statistisches Bundesamt, 2019), so fällt auf, dass das Alter zwischen 2 und 13 Jahren ein relativ behüteter Lebensabschnitt ist. In diesem Altersbereich versterben nur wenige Kinder, auch wenn jeder einzelne Fall ein individuelles, tragisches Schicksal darstellt. Ab dem Alter von 14 Jahren kommt es zu einer generellen Zunahme der Mortalität und vor allem bei den Jungen zeigt sich eine steile Zunahme. Hierfür gibt es viele Gründe. Zum einen tritt im Jugendalter oft eine höhere Risikobereitschaft auf, die beispielsweise zu riskantem Substanzgebrauch und gefährlichem Verhalten im Straßenverkehr führt. Auch Suizidalität spielt eine bedeutsame Rolle: Bis zum Alter von 35 Jahren sind Unfälle und Selbsttötungen die häufigsten Todesursachen und somit Faktoren, die einen starken Bezug zum Verhalten der betreffenden Personen haben. Doch auch jenseits dieser extremen Ereignisse gibt es zahlreiche Belastungsfaktoren im Kindes- und Jugendalter, mit denen umgegangen werden muss, wie z. B. Konflikte mit Gleichaltrigen oder den Eltern, Trennungen, finanzielle Probleme, schulische Leistungsanforderungen, Ausgrenzung und Bullying bzw. generell in diesem Lebensalter auftretende Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse, und es entstehen Belastungen, die sich in Form psychischer Störungen manifestieren können. Viele dieser Störungen treten im Kindes- und Jugendalter erstmalig auf, wie z. B.
• Lernstörungen: Diese ergeben sich aus den schulischen Anforderungen ab der Einschulung und sie zeigen sich anhand der zunehmenden Probleme, mit der steigenden Komplexität und Geschwindigkeit der Wissensvermittlung in den folgenden Schuljahren Schritt zu halten.
• Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration: Eine Diagnose erfolgt i. d. R. frühestens ab dem 6. Lebensjahr, mit einem Schwerpunkt in der Grundschule. Auch hier sind die Gründe mit denen der Lernstörungen vergleichbar und es kommen häufig weitere Konflikte im sozialen Verhalten hinzu.
• Angststörungen: Während bereits im Vorschulalter verschiedene Phänomene, wie die Angst, allein gelassen zu werden, oder die Angst vor Fremden, zu beobachten sind, werden zu Schulbeginn Trennungsängste und schließlich im Laufe der Schule Prüfungsangst und soziale Angst relevant.
• Anorexia nervosa, selbstverletzendes und suizidales Verhalten etc.: Viele Phänomene sind vor dem Eintritt in die Pubertät kaum zu beobachten und stehen somit stark mit den physischen, hormonellen und psychischen Änderungen des Jugendalters im Zusammenhang.
Lehrkräfte äußern häufig die Vermutung, dass Verhalten und Leistung in Kindheit und Jugend sich zunehmend verschlechtern würden. Blickt man in historische Texte zu pädagogischen Themen, dann lässt sich dieser Konflikt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen weit zurückverfolgen, wie die zahllosen frustrierten Aussagen verschiedenster Epochen der Menschheitsgeschichte zeigen (Bertet & Keller, 2011, S. 9 ff.):
• »Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul.« (Mesopotamien)
• »Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Äußeres, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.« (Altes Ägypten)
• »Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.« (Aristoteles)
Auch heute finden sich häufig vergleichbare Aussagen, die sich neben dem Verhalten auf akademische Leistungen (Orthografie, Handschrift …) beziehen. Diskussionsforen unter Onlineartikeln zum Bildungsbereich füllen sich stets mit Nutzerkommentaren, deren Quintessenz ist, dass alles immer schlimmer würde. Auch viele Lehrkräfte neigen zu solchen Aussagen und im Laufe der Zeit variieren die hierfür gegebenen Begründungen. Während am Ende des letzten Jahrhunderts noch die Sorge vor schlechtem Einfluss durch überhöhten Fernsehkonsum diskutiert wurde, sind es heute das Internet mit seinen vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten wie Onlinespiele und soziale Medien: »Die Handschrift der Schülerinnen und Schüler habe sich verschlechtert, finden Lehrkräfte bundesweit … Die weitaus meisten Lehrerinnen und Lehrer (89 Prozent im Primarbereich und 86 Prozent im Sekundarbereich) gaben an, dass es Schülern seit einigen Jahren schwerer falle als früher, eine leserliche Handschrift zu entwickeln… Die Ursachen liegen laut den Lehrkräften in mangelnder Routine, schlechter Motorik und Koordination sowie in Konzentrationsproblemen. Auch empfindet mindestens jeder zweite Lehrer den starken Medienkonsum seiner Schüler als problematisch.« (Spiegel Online, 2019)
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass es womöglich nicht per se eine Verschlimmerung der Situation gibt, sondern vermutlich eher einen permanenten Wandel. Das Gefühl fortlaufender Verschlimmerung der Situation könnte folglich Ausdruck einer zunehmenden Diskrepanz und Entfremdung Erwachsener von der jeweils aktuellen Situation Jugendlicher sein. Nur zu leicht werden dabei positive Entwicklungen oder neuartige Kompetenzen übersehen, die statt althergebrachter Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erworben werden. Anders ausgedrückt: »Nichts ist so beständig wie der Wandel« (Heraklit von Ephesus, 535–475 v. Chr.).
Die gleiche Problematik betrifft auch viele der in den folgenden Kapiteln beschriebenen Phänomene. Zur Gewinnung eines objektiven Bildes ist es deshalb notwendig, zum einen fundierte epidemiologische Studien durchzuführen, die Aufschluss über die Entwicklung der Situation erlauben. Die Epidemiologie ist jene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem Verbreitungsgrad von Krankheiten oder Störungen in einer Bevölkerung beschäftigt. Bestimmt wird der Verbreitungsgrad mittels der Kennwerte Inzidenz und Prävalenz. Die Inzidenz beschreibt dabei die Anzahl an Fällen, die innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls neu auftritt. Unter Prävalenz versteht man den Anteil an betroffenen Personen in einer Stichprobe. Die Lebenszeitprävalenz beschreibt dementsprechend denjenigen Anteil an Menschen, die im Laufe ihres Lebens an einer bestimmten Erkrankung oder Störung leiden.
Zum anderen sind präzise Beschreibungen notwendig, die ein Phänomen klar von anderen Phänomenen abgrenzen, da nur eine klare Definition eine eindeutige Erfassung ermöglicht. Hierfür gibt es Klassifikationsmanuale.