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Fallbeispiel: Der »Fußläufer«

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2011 kam es in der Teilbibliothek für Chemie und Pharmazie der Universität Würzburg zu einer Serie von Zwischenfällen, die die Universitätsleitung zu einer Warnung in Form einer Mitteilung veranlasste (und interessanterweise tauchte Mitte 2019 ein völlig identisches Problem erneut auf, wobei es sich um eine andere Person handelte). Ein ca. 30 bis 35 Jahre alter Mann, der vermutlich nicht der Universität zugehörig war, trat über mehrere Wochen hinweg freitagnachmittags und -abends wiederholt in der Bibliothek in Erscheinung. Er sprach ausschließlich weibliche Studierende an und bat sie, sich auf seinen Rücken zu stellen, um diesen wieder einzurenken. Zudem fragte er nach dem Weg zur nächsten Apotheke, wo er sich ein Schmerzmittel besorgen wolle. Nach einer Anzeige bei der Polizei (der Fall wurde unter dem Schlagwort »Fußläufer« geführt) und der Sensibilisierung durch ein Informationsschreiben trat die Person nicht mehr in der Bibliothek in Erscheinung.

Anhand der Verunsicherung, die dieser Fall auslöste, lassen sich die fünf zuvor aufgestellten Kriterien reflektieren. Der Hintergrund des bizarren Verhaltens ist unklar, jedoch handelt sich vermutlich nicht um ein orthopädisches Problem, sondern eher um eine Paraphilie, also eine deutlich von der Norm abweichende sexuelle Neigung. Die Annahme eines sexuellen Motivs für das Verhalten war es vermutlich auch, was die Reaktion der Universitätsleitung nach sich zog. Die Erfüllung des Kriteriums der statistischen Seltenheit liegt auf der Hand, da ein solches Verhalten von den meisten Menschen nicht gezeigt wird. Es verstößt zudem gegen soziale Normen. Zwar ist es legitim, in begründeten Fällen fremde Personen um Hilfe oder Auskunft zu bitten, jedoch würde dies in einer Bibliothek eher am Empfangsschalter passieren und zudem nicht mit dem geäußerten Anliegen. Persönliches Leid kann sowohl aufseiten des betroffenen Mannes vorliegen, der immerhin so weit geht, sich zu exponieren, als auch aufseiten der Studentinnen, deren Privatsphäre durch die ungewöhnliche Anfrage verletzt wird. Zudem ist es angstauslösend, in Lernkabinen angesprochen zu werden, aus denen man kaum entkommen könnte, und der ungewollte Kontakt erfolgte zu Zeiten, in denen nur wenige Personen in der Bibliothek waren – mithin eine Bedrohungssituation, die für das soziale Umfeld (= die anderen Besucher der Bibliothek) belastend ist. Auch das vierte Kriterium ist hinsichtlich der Maladaptivität des Verhaltens gegeben, da dieses weder zur Reduktion von Rückenschmerzen noch hinsichtlich der mutmaßlich vorliegenden sexuellen Motive zu einer Befriedigung führt. Und schlussendlich ist es auch erwartungswidrig, da im Kontext einer Bibliothek und angesichts der fehlenden Bekanntschaft zwischen den beteiligten Personen die Äußerung eines solchen Anliegens der Erwartung widerspricht.

Erleben, Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen

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