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2.2 Das »Wait-to-fail«-Problem

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Das Thema Lernstörungen spielt in allen Schulformen und allen Altersbereichen eine Rolle. Diese basieren einerseits auf individuellen Faktoren ( Kap. 4 und Kap. 5). Andererseits trägt aber auch die Organisation des Schulsystems in gewisser Weise dazu bei. In der Grundschule sind sie vielleicht am deutlichsten sichtbar, da diese Schülerschaft noch nicht stark selektiert ist und eine große Heterogenität aufweist. Je nach Organisation des Schulsystems (ein- versus dreigliedrig) reduziert sich diese Heterogenität ab der Sekundarstufe zum Teil, jedoch bleibt trotzdem eine große Leistungsvariabilität innerhalb der betreffenden Gruppen bestehen, selbst wenn man so stark ausgewählte Stichproben wie z. B. Hochbegabtenklassen betrachtet. Zudem ist die Regelschule immer auch durch inklusive Beschulung mit dem Themengebiet Lernstörungen konfrontiert. In einer großen epidemiologischen Untersuchung stellten Fischbach et al. (2013) beispielsweise fest, dass in Regelschulen 23,3 % der Schülerschaft von Lernproblemen im Bereich Lesen, Schreiben, Rechnen oder einer Kombination betroffen ist. Unter Einbezug von Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz steigt dieser Anteil auf 32,8 %. Selbst wenn man eine Diskrepanz zur Intelligenz und ein mindestens durchschnittliches Intelligenzniveau voraussetzt, so beträgt dieser Anteil immer noch 13,3 % der Kinder. In Regelschulen ist somit in einer Klasse von 25 Kindern oder Jugendlichen davon auszugehen, dass zwischen 3 und 8 Schülerinnen und Schüler massive Lernprobleme aufweisen.

Wie kommt es zu so hohen Werten bereits bei so basalen Fähigkeiten wie den Kulturtechniken? In der angloamerikanischen »Response to Intervention«-(RTI)-Tradition wird dieses Phänomen als Wait-to-Fail-Problem bezeichnet (Reynolds & Shaywitz, 2009): Werden Kinder von der schulischen Leistungsentwicklung langsam abgehängt, so entwickelt sich ein Problem, das bei frühzeitiger Erkennung und Intervention möglicherweise gar nicht entstanden wäre. Das Problem muss aber erst eine gewisse Intensität aufweisen, bevor es bemerkt wird. Erst dann setzt i. d. R. eine Diagnostik ein, die zu einer Gutachtenerstellung und Etikettierung des Kindes und zur Gewährung von Unterstützungsmaßnahmen führt. Mit etwas Glück und hohem Aufwand lässt sich das Lernproblem wieder auf ein erträgliches Maß reduzieren, aber unter Umständen ist viel Zeit verstrichen und Lernrückstände können nicht mehr aufgeholt werden. Psychologisch-pädagogische Maßnahmen werden meist erst dann gewährt, wenn Kinder gescheitert sind. Man wartet also bei zumindest zum Teil vermeidbaren Problemen, bis die Kinder scheitern, um dann spezifisch tätig zu werden. Wünschenswert wäre stattdessen, wenn die sich entwickelnde Problemlage frühzeitig erkannt und präventiv eingeschritten würde, da den Kindern problematische Entwicklungen und Misserfolgserlebnisse erspart bleiben und eine Etikettierung sich damit erübrigen würde. Das Scheitern von Kindern ist also in gewisser Weise systemimmanent. Eine wichtige Aufgabe für Lehrkräfte besteht demnach darin, aufmerksam zu sein, Probleme nicht zu ignorieren, die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler zu vergleichen, Auffälligkeiten anzugehen und im Kollegium und mit den Eltern zu kommunizieren.

Erleben, Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen

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