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I. Einleitung

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Antike Texte als historische Quellen

Das zentrale Problem jeder Darstellung der Geschichte Israels ist die Beurteilung des historischen Quellenwerts sowohl der Bücher der Hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments, als auch der jüdischen und frühchristlichen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. In gewisser Weise steht der Historiker bei jedem Text und bei jedem archäologischen Fund vor dieser Frage, doch im Falle der biblischen Texte ist der Sachverhalt ungleich schwieriger. Denn hierbei handelt es sich nicht um in situ gefundene Monumentalinschriften oder um leicht datierbare Annalen, und auch nicht um Werke von namentlich bekannten Historikern, sondern um mehrheitlich anonyme Texte, die sich zum Teil keiner bekannten Gattung zuordnen lassen und die – wie etwa das Alte Testament – in einem Jahrhunderte langen Prozess abgefasst und fortgeschrieben wurden. Selbst die ältesten, meist nur fragmentarisch erhaltenen Handschriften dieser Texte sind viele Jahrzehnte, meist sogar Jahrhunderte jünger als ihre mutmaßliche Abfassungszeit. Eine einfache Antwort, die für alle Bibeltexte zutrifft, kann es nicht geben, denn dazu sind sie zu unterschiedlich. Wer die antiken jüdischen und christlichen Schriften im Hinblick auf historische Fragen auswerten will, muss zuerst exegetisch an ihnen arbeiten und ihre jeweiligen Intentionen verstehen.

Samuel- und Königebücher

Unter den erzählenden Büchern des Alten Testaments wird man den Königebüchern am ehesten einen historischen Informationswert zubilligen können, zumal diese ab 1 Kön 14 immer wieder auf die Annalen der Könige von Israel und auf die der Könige von Juda Bezug nehmen. Doch sind auch die Königebücher nicht geschrieben worden, um die Geschichte der beiden Königreiche zu erzählen; vielmehr zielen sie darauf ab, den Herrschaftsanspruch des davidischen Herrscherhauses auf Juda und Israel zu begründen. Dieselbe Intention lässt sich für die Erzählungen der Samuelbücher namhaft machen, die den Herrschaftsanspruch Davids und seiner Nachfolger gegenüber den benjaminitischen Nachbarn verteidigen. Gleichwohl gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die Grundkonstellation der Erzählungen, der Aufstieg des Judäers David zum König, historisch ist.

Pentateuch und Josua

Das ist in den Erzählungen des Pentateuch und des Josuabuches anders. Bei diesen handelt es sich nicht, wie man früher gelegentlich annahm, um legendarisch ausgeschmückte Ereignisberichte, deren historischer Kern durch die Subtraktion jener Ausschmückungen wieder freigelegt werden könnte. Vielmehr handelt es sich überwiegend um Erzählungen, die von vornherein darauf abzielten, drei für die Adressaten aktuell wichtige Fragen zu beantworten: „Was ist Israel? Wie ist Israel organisiert? Wer gehört zu Israel?“ Diese Texte sind daher keine Quellen für die Zeit der Erzählung, sehr wohl aber für die Zeit ihrer Abfassung. Sie bieten reiche Informationen über politische Strukturen und Prozesse in Juda bzw. Israel im assyrischen, babylonischen und persischen Zeitalter und werden daher im Folgenden zur Rekonstruktion dieser Epochen herangezogen.

Esra-Nehemia und Chronik

Das soeben Gesagte gilt für auch die Chronikbücher, die historisch ausschließlich als Quelle für die Zeit ihrer Abfassung im 3. Jahrhundert in Frage kommen. Differenziert müssen hingegen die Teilkompositionen des Esra-Nehemia-Buches behandelt werden. Einige von ihnen geben nicht nur über ihre Abfassungszeit Aufschluss, sondern auch über ihre Erzählungszeit.

Prophetenbücher und Psalmen

Die Prophetenbücher nehmen immer wieder Bezug auf soziale Konstellationen und politische Ereignisse ihrer Zeit. Wo solche ermittelt und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit datiert werden können, sind diese Texte gute historische Quellen, oft sogar bessere als die erzählenden Bücher. Die weiteren Bücher des Alten Testaments, etwa die Psalmen oder die Proverbien, geben einen Einblick in die Kultur einer bestimmten Epoche und sind für kulturgeschichtliche Fragen gute Quellen, nur ganz selten aber für einzelne Ereignisse.

Die alttestamentliche Wissenschaft, aber auch die Altorientalistik, haben sich auf Grund ihrer primär historischen Ausrichtung lange schwer getan, den weitgehend nicht-historischen Charakter der Texte des Alten Testaments zu akzeptieren. Die Akzeptanz dieser exegetischen Erkenntnis bedeutet jedoch nicht die Unmöglichkeit, eine Geschichte Israels zu schreiben. Sie bedeutet lediglich, nur solche Textabschnitte auszuwerten, die nach Maßgabe exegetischer Analyse und historischer Wahrscheinlichkeitsabwägung historische Informationen enthalten.

Primär- und Sekundärquellen

Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärquellen. Primärquellen stammen aus der Zeit, über die sie informieren, Sekundärquellen sind spätere Berichte über frühere Ereignisse. Die Texte des Alten Testaments sind ab dem 9. Jahrhundert entstanden und haben für die Zeiten davor, wenn überhaupt, als Sekundärquellen zu gelten. Die Königschroniken beginnen an der Wende vom 10. zum 9. Jahrhundert und stellen für die folgenden Jahrhunderte der Monarchien in Israel und Juda das historische Grundgerüst bereit, das durch zahlreich vorhandenes inschriftliches Material ergänzt wird. Für die Zeiten davor sind jedoch die archäologischen Funde sowie die epigraphischen Quellen aus der Levante und aus Ägypten die einzigen Primärquellen. Für die Epochen nach dem Ende der Monarchien stehen zwar keine annalistischen Quellen zur Verfügung; die Tatsache jedoch, dass die meisten Texte des Alten Testaments aus dieser Zeit stammen, macht sie neben den archäologischen Funden, die natürlich für den gesamten hier behandelten Zeitraum vorliegen, zu Primärquellen und erlaubt ihre Auswertung für die Rekonstruktion der babylonischen, persischen und hellenistischen Zeit.

Chronologie

Eine Bemerkung ist notwendig zu den im Hauptteil A angegeben Jahreszahlen. Die vorhellenistische Chronologie der Könige Israels und Judas ist im Großen und Ganzen recht gut gesichert, auch wenn für viele Ereignisse Details noch diskutiert werden. Die folgende Darstellung orientiert sich für die Könige von Israel und Juda bei gelegentlichen Vereinfachungen und Abweichungen von maximal einem Jahr an den Datierungen, die Herbert Donner in der ersten Auflage seiner Geschichte Israels verwendet hat. Auf Detaildiskussionen wird nicht eingegangen, auch auf das allfällige „etwa“ wurde verzichtet, denn der damit ausgedrückte Vorbehalt gilt generell.

Der Name des Gottes Israels

In den zitierten Passagen aus dem Alten Testament kommt gelegentlich der Name des Gottes Israel vor, der in den üblichen Bibelübersetzungen mit „Herr“ wiedergegeben wird. Tatsächlich stehen im Originaltext jeweils die vier Buchstaben JHWH, die jedoch schon im Altertum nicht mehr ausgesprochen wurden. Man vermutet, dass der Name ursprünglich „Jahwe“ gelautet hat. In diesem Band steht immer „Jhwh“, so dass die Leser und Leserinnen selbst entscheiden können, ob sie „Jahwe“ oder „Herr“ oder etwas anderes hören wollen.

Die Übersetzungen der altorientalischen Quellen sind überwiegend der Sammlung „Historisches Textbuch zum Alten Testament“ (HTAT) sowie gelegentlich der Sammlung „Texte aus der Umwelt des Alten Testaments“ (TUAT) entnommen. Sie werden aber in der Regel nur auszugsweise und zudem in vereinfachter Darstellung wiedergegeben. Sie wollen die tiefer gehende Lektüre der Quellen nicht ersetzen, sondern dazu anregen.

Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit

Auch die Verfasser der jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit und des Neuen Testaments waren durchweg an aktuellen Fragestellungen ihrer Zeit interessiert. Der Bezugsrahmen ihrer jeweiligen Gegenwart und ihre kulturelle Enzyklopädie, aber nicht eine Ansammlung von realgeschichtlichen Daten und Fakten, prägten ihre erinnernde Wahrnehmung der Geschichte Israels. Auch die von ihnen beschriebene „Vergangenheit“ war stets das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion; sie wurde immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von dem Bezugsrahmen der spezifischen Lebenswirklichkeit der Autoren geformt.

Antike Texte als historische Quellen

Heutige Historiker befragen die antiken Quellen oftmals daraufhin, was sie zu unserem heutigen Verständnis der Geschichte Israels beitragen, blenden dabei viele Dinge aus, die sie nicht interessieren, und gehen anderen intensiv nach, weil sie diese als besonders aktuell und spannend erachten. Ebenso haben bereits die antiken jüdischen und christlichen Verfasser die sie umgebende Wirklichkeit und ihre Erinnerungen an die Vergangenheit nicht photographisch abgebildet, sondern grundsätzlich mit ihren ganz persönlichen Sichtweisen, Hoffnungen und Erwartungen vermischt. Die antiken Quellentexte sind also ihrerseits oft auswählend, deutend, verzerrend oder pointierend. Sie bilden die historischen Gegenstände ihrer Darstellung nicht selten so ab, wie sie ihrer Auffassung nach sein sollten, und nicht so, wie sie wirklich sind.

Fiktionale Dichtungen

Dieser methodische Vorbehalt betrifft zunächst sämtliche relevanten jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Unbeschadet ihres hohen historischen und religionsgeschichtlichen Quellenwerts als Zeugnisse sowohl der umfassenden Inkulturation der älteren Überlieferungen Israels in die pagane Welt als auch der unterschiedlichen Glaubensvorstellungen und kulturellen Prägungen im antiken Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit sind sie zunächst keine Mitteilungstexte, sondern fiktionale Dichtungen. Ihre Wahrnehmung als „geschichtliche“ Dokumente, denen innerhalb eines bestimmten historischen Kontexts bestimmte textpragmatische Funktionen zukommen, bedingt deshalb die konsequente historisch-kritische Interpretation ihres eigentlichen Erzählinhalts.

Neues Testament

Auch die Schriften des Neuen Testaments sind zunächst als literarischer Ausdruck der historisch, situativ und kommunikativ bedingten Glaubensvorstellungen, religiösen Weltdeutungen und Praktiken innerhalb des Christentums in seiner formativen Phase zu betrachten. Auch sie waren nicht als Historiographie im neuzeitlichen Sinne gedacht, sondern wurden aufgeschrieben, um Orientierungspunkte für die lebendige Predigt und Lehre in den christlichen Gemeinden zu schaffen.

Flavius Josephus

Die umfangreichen Geschichtswerke des jüdischen Schriftstellers Flavius Josephus (37/38–nach 100) enthalten indes genaue Beobachtungen vieler Vorgänge und Ereignisse und zahlreiche authentische Dokumente und Quellen. Insbesondere gibt Josephus als vornehmer Priestersohn viele „Insiderinformationen“ aus dem Umkreis des Jerusalemer Tempels wieder und beweist zugleich eindrücklich, wie tiefgehend die Verflechtung des antiken Judentums mit der hellenistisch-römischen Kultur tatsächlich war. Für die Erhellung der jüngeren Geschichte Israels ist er zwar einer der wichtigsten Gewährsleute; er lässt aber bei seiner Darstellung der historischen Ereignisse und Zusammenhänge durchweg auch ein deutliches Bestreben erkennen, die erzählten Inhalte dem Geschmack und dem Wertekanon seiner römischen Leser anzupassen, was deren Quellenwert zuweilen schmälert.

Rabbinische Traditionsliteratur

Was schließlich die seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. entstandene rabbinische Traditionsliteratur anbelangt, so liegt das wesentliche historiographische Problem darin, dass sich zu der Zeit, als diese Texte in ihrer heute greifbaren Form aufgeschrieben wurden, die äußeren Verhältnisse und die innere Struktur der jüdischen Gesellschaft bereits einschneidend verändert hatten. Weder gab es nach dem Jahr 70 unserer Zeitrechnung noch einen Tempel in Jerusalem noch einen regelmäßigen Opferkult gemäß den Geboten der Tora. Zudem wollten auch die jüdischen Gelehrten weniger die Vergangenheit dokumentieren oder die sie umgebende Gegenwart beschreiben, als vielmehr aus ihren zahlreichen Erinnerungen und Beobachtungen, Überlieferungen und Lehren eine umfassende und geordnete Quelle der Halacha (= jüdischer Lebensregeln) schaffen, die zuweilen sogar utopische Züge trägt.

Geschichte Israels

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