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Tag 2, vormittags,
Truppenübungsplatz in Süddeutschland

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Sven Richter war ein letztes Mal zur Baracke des Übungsplatzes gegangen, um sich von seinem Nachfolger zu verabschieden. Er trug Zivil. Seine Uniform hatte er zusammen mit der anderen Dienstausrüstung bereits bei der Auskleidung abgegeben.

Sein Nachfolger musste kurz raus auf den Platz und nun saß Sven wieder alleine in der alten Baracke. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er das erste Mal hier alleine gewesen war. Ausgestoßen, abgeschoben und entsorgt wie menschlicher Abfall. Wie Robinson Crusoe war er hier langsam aber sicher vereinsamt.

Die Entlassungsuntersuchung vor vier Wochen hatte seine Dienstuntauglichkeit amtlich bestätigt. Befund: Diabetes und posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS. Die Zuckerkrankheit hatte er sich vermutlich bei diesen Pflichtimpfungen vor dem Afghanistaneinsatz zugezogen. Auch als Reservist kam er nun nicht mehr in Frage.

Sven Richter war ausgebildeter Feuerwerker beim Heer, deshalb hatte man ihn hierher abgeschoben. Er hatte bis zum Ende seiner Dienstzeit auf dem Gelände nach Blindgängern suchen und sie möglichst entschärfen sollen. Sven vermisste die Kameradschaft mit den anderen Soldaten schmerzlich. Heute war offiziell sein letzter Tag bei der Bundeswehr. Am Nachmittag war Schluss und er hatte sich von seinem Nachfolger auf dem Übungsplatz persönlich verabschieden wollen. Der teilte sein Schicksal, weil er ebenfalls unter PTBS litt. Diesen Übungsplatz verglich Sven verbittert mit dem Papierkorbsymbol auf dem Computer.

Sein Nachfolger war immer noch unterwegs. Sven schaltete aus Langeweile sein Smartphone ein und koppelte es mit seinem Tablet-Computer. Nun konnte er – wenn auch langsam – im Internet surfen. Auf seiner Lieblingsseite las er die neuesten Nachrichten. Heute sogar mit einer Schlagzeile aus seiner alten Heimat, dem Rheiderland: Sensation! Rheiderländer Ötzi gefunden.

Er vergaß fast zu atmen, als er sich die Bilder der Leiche ansah. Ein großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als er die Detailaufnahmen der Ausrüstung betrachtete, das verrostete Gewehr, die Uniformknöpfe und das Koppelschloss. Konnte es sein …? Er vergrößerte die Aufnahme des Koppelschlosses und war wie elektrisiert.

Vor seinem geistigen Auge erschien sein Opa Trinus in dem alten Wehrmachtsmantel, unter dem er bei seinen speziellen Jagden den Karabiner versteckt hatte. Der Gürtel in Opas Hose hatte sich damals in Svens Augenhöhe befunden, wenn er vor ihm gestanden hatte. Der Schriftzug Gott mit uns und der Adler hatten ihn fasziniert. Sein kleiner Finger hatte oft über eine raue Stelle im Metall unter dem Adler gestrichen und Opa Trinus hatte das Interesse seines Enkels bemerkt. »Dieses Symbol unter dem Adler, das so vielen Menschen unendliches Leid gebracht hat, das habe ich abgefeilt. Damit wollte ich nicht mehr rumlaufen.«

Später hatte Sven verstanden, was er damit gemeint hatte. Aber sein Opa war damals spurlos verschwunden. Was hatte sein Vater mit bitterer Stimme gesagt? »Entweder ist er beim Wildern im Dollart ersoffen, oder die Jäger haben ihn erwischt.«

Danach war alles schnell gegangen. Sein Vater hatte sich den goldenen Schuss gesetzt, eine Überdosis. Svens Mutter hatte zu dieser Zeit schon in Süddeutschland bei ihrem neuen Freund gelebt. Sie war ins Rheiderland zurückgefahren, hatte sich um die Beerdigung gekümmert und ihren Sohn Sven mit nach Süddeutschland genommen.

Sven wusste sofort, wen man dort in den Salzwiesen vergraben hatte. Sein heiß geliebter Opa war verscharrt worden wie ein totes Tier. Svens Tränen tropften auf das Display des Tablets. Seit diesem Schicksalstag in Afghanistan hatte er nicht mehr geweint. Seine Schultern zuckten und er vergrub sein Gesicht in den Handflächen.

Wut verdrängte langsam seine Trauer. Svens Gesicht verhärtete sich. Der Wut folgte etwas Neues: der Wunsch nach Rache.

Sven war es gewohnt, seine Gefühle zu kontrollieren. Angst lässt die Hände zittern und lähmt den Verstand, das hatte er bei den Entschärfungsaktionen sehr schnell lernen müssen. Kälte breitete sich in ihm aus.

Er betrachtete noch einmal die Bilder. Schaute sich an, wie sein Opa mit dem Mantel über dem Gesicht abgedeckt worden war. Wer seinen Opa vergraben hatte, hatte dabei nicht ins Gesicht des Toten sehen wollen. Opa Trinus war entweder ertrunken oder ein Jäger hatte ihn erwischt. Sven wusste sofort, dass die zweite Möglichkeit die Zutreffende war.

Es konnte kein Zufall sein, dass er diesen Artikel gelesen hatte, und das ausgerechnet an seinem letzten Tag bei der Bundeswehr. Das Schicksal hatte seine Weichen gestellt.

Nun gut, es war sowieso Zeit für einen Tapetenwechsel. Zeit für einen Besuch bei den Jägern im Rheiderland. Es gab sogar einen Kontakt. Sein Kamerad Kuno Hortema war ihm noch einen großen Gefallen schuldig. Kunos Vater war Jäger im Rheiderland und hatte einen großen Bauernhof. Dort gab es bestimmt genug Arbeit für Sven. Bei diesem Gedanken presste er die Lippen fest zusammen. Arbeit für ihn … eine doppelsinnige Formulierung aus dem Unterbewusstsein.

»Opa«, flüsterte er, »ich erwisch das Schwein, kannst dich drauf verlassen.«

Gänseblut

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