Читать книгу Gänseblut - Wolfgang Santjer - Страница 19

Tag 2, nachmittags,
am Dollartweg in der Nähe des Fundortes der Leiche

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Jan Broning und Stefan Gastmann hatten den Zivilwagen vor dem Deich geparkt, hinter dem in den Salzwiesen das Skelett gefunden worden war. Eine lange Reihe von Häusern, der Dollartweg, lief parallel zum Deich bis zu einer Kreuzung. Rechts ging es über den Deich zur Bohrinsel Dyksterhusen. Links verlief die hoch gelegte schmale Straße über ein historisches Sieltor weiter in Richtung Ditzumerhammrich.

Die beiden hatten sich die Arbeit aufgeteilt und trafen sich zwischendurch immer wieder an dieser einzigen Straße, nur um festzustellen, dass der andere auch niemanden angetroffen hatte. Die Ausstrahlung der Häuser lag irgendwo zwischen einsam und trist. Der verhangene Himmel, der Nieselregen und die heruntergelassenen Rollos versetzten Jan Broning in düstere Stimmung. Die Nähe zum Dollart brachte wieder mal Erinnerungen, die er sonst verdrängte.

Er ging gerade an einem eingefallenen alten Arbeiterhaus vorbei. Die Büsche und Sträucher wuchsen ungehindert zwischen den Mauern. Man konnte noch erkennen, dass es sich einmal um ein kleines Wohnhaus mit einem angesetzten Stall gehandelt hatte. Die Ruine sah verwunschen aus, Kinder würden es als Hexenhaus bezeichnen.

Daneben stand ein noch bewohntes Haus. Keine herunter­gelassenen Rollos, und das davor geparkte Auto mit dem Leeraner Kennzeichen ließ hoffen.

Als er klingelte, öffnete eine Frau misstrauisch die Tür einen Spalt breit. Die Kette war vorgelegt. Früher hatte hier keiner sein Haus abgeschlossen, aber die zunehmende Kriminalität hatte auch die Menschen in dieser einsamen Gegend vorsichtiger gemacht.

»Moin, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Er zeigte ihr die Dienstmarke. »Mein Name ist Jan Broning von der Kriminalpolizei Leer. Nichts passiert, es handelt sich nur um eine Befragung.«

»Sicher wegen dem Ötzi.« Sie entfernte die Kette und öffnete die Tür. »Hab schon davon gelesen.«

»Genau, Frau …?«

»Gretchen Driever.« Sie wurde rot. »Oh, wie unhöflich von mir, kommen Sie doch bitte herein.«

Sie ging voraus, Broning schätzte ihr Alter auf fünfundsechzig bis siebzig Jahre, sie war etwas übergewichtig. Ihre Haare trug sie in einem dicken Knoten. Ständig wischte sie sich ihre abgearbeiteten Hände an der altmodischen Schürze ab. Sie erinnerte ihn an die Bronzefigur der alten Fischerin vor dem Ditzumer Sieltor. Im Flur roch es nach Tabak – Pfeifentabak, da war er sich sicher, sein Vater hatte auch immer diese Marke geraucht. Irgendetwas mit einem Grafen hatte auf der Packung gestanden. »Ist Ihr Mann auch zu Hause, Frau Driever?«

Er erhielt keine Antwort. Frau Driever stand vor dem Elektroherd und schaute auf den glimmenden Ascherest auf einer Herdplatte. »Herr Kommissar, mein Mann ist schon vor Jahren gestorben.« Sie lief schon wieder rot an. »Ich hab immer geschimpft, wenn er im Haus geraucht hatte. Wegen der Gardinen und so.« In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen. »Ist doch verrückt … jetzt streue ich seinen Lieblingstabak auf die heiße Herdplatte. Ich schließe die Augen, rieche den Tabak und denke, er sitzt neben mir.« Sie räusperte sich. »Nehmen Sie doch Platz.« Frau Driever zeigte auf das Sofa, das zusammen mit einem großen Rattanstuhl vor dem Küchentisch stand. »Ich wollte mir gerade einen Tee machen, sie trinken doch sicher auch gerne eine Tasse.«

Jan Broning glaubte die Einsamkeit in diesem Haus mit den Händen greifen zu können. Deshalb nahm er das Angebot an. Als Frau Driever Tassen auf den Tisch stellte, klingelte sein Handy. Er drückte auf die grüne Taste. »Stefan, was gibt’s?«

»Jan, hier scheint alles ausgestorben zu sein. Entweder stehen die Häuser leer, oder die Leute wollen nicht mit mir sprechen. Jedenfalls geht hier keiner an die Tür.«

»Du, ich bin hier gerade bei Frau Driever in der Küche.«

»Ihr Kollege möchte doch sicher auch einen Tee«, unterbrach sie ihn. »Er soll ruhig zu uns kommen.«

Broning nickte. »Danke, Frau Driever. Stefan, du bist zum Tee eingeladen. Das Haus neben der Ruine.«

Kurz darauf saßen die Polizisten auf dem Ostfriesensofa und Frau Driever neben ihnen auf dem Stuhl. Auf der Wachstuchtischdecke standen drei dampfende Tassen. Als Stefan den Tee mit dem Löffel umrührte, traf ihn ein strafender Blick von Frau Driever.

Sie erklärte, dass es sich bei den meisten anderen Häusern in der Straße um Ferienhäuser handelte. Deshalb hätten sie niemanden angetroffen. »Ja, meine Herren, verdammt einsam hier und kein Ort zum Altwerden. Früher hatten wir hier eine gute Nachbarschaft, jeder kannte jeden und heute …« Frau Driever sah verzweifelt aus. »Ich glaube, ich werde auch verkaufen und wegziehen. Keine Verwandtschaft mehr und wenn ich erst nicht mehr mit dem Auto fahren kann …«

Broning befragte sie zu dem aufgefundenen Toten. Sie hob bedauernd die Hände. »Da weiß ich gar nichts von, ich hab mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen.« Sie bemerkte die Enttäuschung in den Gesichtern der Polizisten. »Aber …« Jetzt lächelte sie zum ersten Mal. »Mein verstorbener Opa war ein berüchtigter Ahnenforscher und hat sich auch für das Kriegsende interessiert. Moment bitte!«

Sie verließ die Küche und kam kurz darauf mit einem altmodischen Schulheft zurück. »Opas Kriegserinnerungen als Volkssturmmann!« Sie wedelte mit dem Heft. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir die noch einmal in die Hand nehmen.« Eine Weile blätterte sie konzentriert darin herum. »Haben Sie bei dem Toten eine Erkennungsmarke gefunden?« Sie sah die Polizisten fragend an. Jan Broning verneinte. »Das hätte Ihnen sicher weitergeholfen, oder?« Frau Driever lächelte wieder, gab jeweils einen Kluntje in die leeren Tassen und schenkte nach.

»Allerdings, Frau Driever.« Broning lächelte respektvoll. »Sie scheinen sich ja auch schon Ihre Gedanken gemacht zu haben.«

»Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit ich habe … – Bei Kriegsende war hier richtig was los. Der Volkssturm, das letzte Aufgebot, war eilig organisiert worden. Es fehlte an allem, Waffen, Uniformen und Soldbüchern. Mein Opa gehörte auch zum Volkssturm und hatte große Angst, als Partisan behandelt zu werden, weil er weder ein Soldbuch noch eine Erkennungsmarke hatte.« Gretchen Driever suchte eine bestimmte Stelle in dem Heft. »Hier, Kanadier im südlichen, deutsche Marinestellungen im nördlichen Rheiderland. Im Rheiderland dauerten die Rückzugsgefechte mit versprengten deutschen Einheiten noch bis Ende April 1945.«

»Hier herrschte also bei Kriegsende Chaos«, stellte Broning fest.

»Ich glaube, bei dem armen Schwein, das sie in den Salzwiesen gefunden haben, handelte es sich auch um einen Volkssturmmann.« Gretchen Drievers Stimme klang traurig. »Alte Männer und halbe Kinder, schlecht bewaffnet, gegen Panzer und Tiefflieger.«

Für einen Moment schwiegen alle.

»Frau Driever«, Broning unterbrach die gedrückte Stille, »das Heft von Ihrem Opa, können wir uns das ausleihen?«

»Sicher, Herr Kommissar. Können Sie Sütterlinschrift lesen?« Frau Driever drehte das Heft so, dass die Polizisten das Schriftbild sehen konnten. Jan und Stefan wechselten einen skeptischen Blick.

»Jedenfalls, wenn Sie gar nicht klarkommen«, Frau Driever lächelte beide an, »hier gibt es immer eine Tasse Tee und eine Übersetzung.«

Sie beantwortete noch einige Fragen zu den Nachbarn. Ihr wurde dabei selbst deutlich, wie wenig sie von diesen Leuten wusste. Schließlich wollte sie die Polizisten gar nicht mehr gehen lassen, so sehr freute sie sich über etwas Gesellschaft. Inzwischen kannten die zwei ihren gesamten Lebenslauf.

»So, Frau Driever, wir müssen weiter, danke für den Tee und Ihre Zeit.« Broning legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Sollte Ihnen oder Ihren Nachbarn noch etwas einfallen zu unserem unbekannten Toten, dann rufen Sie uns bitte an! Ihre Idee mit dem Umzug finde ich übrigens gut. Ich weiß, wie die Nachkriegsgeneration an ihren Häusern hängt, aber letztlich ist es doch nur ein Steinhaufen und manchmal sogar ein Riesenklotz, der einen behindert. Tabak kann man auch auf andere Herde streuen.«

Die Polizisten verabschiedeten sich und gingen zurück zum Dienstwagen.

»Also doch ein Kriegsteilnehmer«, sagte Stefan im Auto. »Das letzte Aufgebot, ein Volkssturmmann.«

Broning nickte. »Das würde erklären, warum wir kein Soldbuch und keine Erkennungsmarke gefunden haben. Die Ausrüstung war auch dürftig, passt alles schön zusammen. Vielleicht finden wir noch etwas im Notizheft, das uns weiterhilft.«

Bronings Handy klingelte. Die Verbindung war schlecht. Die nette Dame von der Gerichtsmedizin Oldenburg stellte das Gespräch zu Dr. Knoche durch.

»Moin, Herr Broning, ich sollte mich doch noch einmal bei Ihnen melden, es handelt sich um Ihren Ötzi. Der Termin für die Obduktion wurde jetzt noch weiter nach hinten verlegt. Tut mir leid, wir haben hier sehr viel zu tun und vermutlich handelt es sich bei dem aufgefundenen Skelett, sagen wir es einmal salopp, um eine Altlast. Die aktuellen Fälle haben Vorrang.«

»Okay, Dr. Knoche.« Broning wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Gerichtsmediziner zu verhandeln. »Was meinen Sie, wie lange wird es dauern bis zur Obduktion?«

»Frühestens in einer Woche, ich kann es nicht ändern, Herr Broning!« Dr. Knoche legte auf.

Während der Fahrt zur Dienststelle dachte Broning ständig an Frau Driever. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine gedrückte Stimmung. Im Gegensatz zu ihr konnte er noch seinen liebsten Menschen in den Arm nehmen. Eine Idee bildete sich langsam, und als er den Dienstwagen in der Polizeigarage parkte, lächelte er vergnügt. »Stefan, ich hab ein Attentat auf dich vor. Ich möchte Maike in Spanien besuchen. Die Sachlage bei unserem Ötzi scheint klar zu sein. Die restlichen Ermittlungen, könntest du die für eine Woche übernehmen?«

»Ich komme eine Woche auch ohne dich aus!« Stefan klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Fahr zu deiner Maike.«

Kurz darauf befand sich Broning im Büro seines Chefs und erstattete Bericht.

»Wie ich schon sagte, Jan: klarer Fall!« Dirksen lehnte sich gut gelaunt zurück.

Broning eierte nicht lange herum. »Renko, ich möchte eine Woche raus aus der Mühle!«

Dirksen grinste. »Maike besuchen?«

»Du hast es erfasst. Stefan kommt klar und die Gerichtsmedizin meldet sich auch vorerst nicht. Morgen früh steht eigentlich nur die Leichenschau beim Bestatter Erdmann auf dem Programm, danach könnte ich dann …«

»Fahr zu deiner Maike«, Dirksen lachte, »und grüß sie schön von mir.«

Als Nächstes bestellte sich Broning telefonisch ein Wohnmobil für eine Woche. Seine Laune wurde immer besser. Morgen Nachmittag konnte er das Fahrzeug abholen.

Gänseblut

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