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Der nächste Tag, im Dollart

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Der Dollart: circa 121 Quadratkilometer in der Fläche (elf Kilometer Nord/Süd, elf Kilometer Ost/West). Bei Niedrigwasser fallen 70-80 % des Dollarts trocken. Die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft durch den Dollart. Die deutsche Seite beginnt bei Pogum und endet an der Grenze bei Nieuw Staatenzijl (Richtung Nord-Süd). Ungefähr drei Kilometer von der Landecke Pogum entfernt liegt die kleine Bohrinsel Dyksterhusen (siehe Karte Nr. 1). Auf dieser künstlichen Insel wurde früher nach Gas gebohrt. Genau genommen handelt es sich um eine Halbinsel, weil eine kurze Straße die Insel mit dem Festland verbindet. Im Norden, von der Bohrinsel aus gesehen, liegen der Geisedamm und die Ortschaft Pogum, im Süden die Wattflächen des Kanalpolders bis zur niederländischen Grenze.

Die beiden Jäger waren auf der Pirsch. Aber diesmal nicht nach Gänsen oder Enten, nein: nach diesem verfluchten Wilderer. Auf der Bohrinsel stellten sie den Wagen ab. Sie zogen ihre Gummistiefel an, überprüften ihre Waffen und überlegten, wie sie vorgehen wollten.

Gestern hatten sie wieder Schüsse gehört. Der Nebel war ideal für den Wilderer. In dieser weitsichtigen Landschaft hatte er sonst keine Chance, unentdeckt zu bleiben. Der Dollart war groß und jetzt mussten sie auf ihr Glück setzen, um den Mann zu erwischen. Sie waren sich einig, dass sie getrennte Wege gehen wollten. Ein Jäger lief in nördliche, der andere in südliche Richtung. Schon nach kurzer Zeit verloren sie sich im Nebel aus den Augen.

Im ehemaligen Kuhstall des alten Arbeiterhauses hatte der alte Mann seinen langen Mantel angezogen und darunter sein Gewehr versteckt. Auf dem Weg zum Deich war ihm sein Sohn nachgelaufen und es war zu einem heftigen Streit gekommen.

»Dann geh doch«, hatte sein Sohn ihm hinterhergeschrien, »eines Tages kommt du nicht zurück. Entweder der Jagdaufseher erwischt dich, oder du fällst in einen Priel und ersäufst!«

Sein Sohn hatte es nötig, ihn zu beschuldigen. Dieser Althippie. Es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zu wildern.

Nun stand er auf dem Deich und sah sich um. Links lag die Bohrinsel Dyksterhusen verborgen durch die Nebelfelder. Rechts der Geisedamm. Dieser lange Steindamm trennte die Ems vom Dollart. Von Pogum aus verlief der Damm in westliche Richtung. Am westlichen Ende liefen Dollart und Ems wieder zusammen.

Den Geisedamm konnte er ebenfalls im Nebel nicht sehen. Der Nebel war für ihn ideal. Er lief den Deich hinab­, kletterte über einen Weidezaun und überquerte die Salzwiesen. Als sie in das Watt des Dollarts übergingen, vermischten sich die Geräusche seiner Schritte mit den Nebelsignalen von Schiffen auf der Ems. Die Schreie der Vögel klangen seltsam gedämpft und die kalten weißen Schwaden berührten sein Gesicht so sanft und eisig wie Geisterhände. Auch bei diesem Wetter war der Dollart wunderschön. Es war, als sei er alleine auf der Welt, eingehüllt von Wolken in seinem eigenen Kosmos.

Aber die düsteren Gedanken holten ihn ein. Der Streit mit seinem Sohn ging ihm nicht aus dem Sinn. Das beklemmende Gefühl konnte er nicht abschütteln. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, die Stelle im Watt, wo er die Mauerreste mit den besonderen Steinen gefunden hatte. Sie lag in Richtung der Bohrinsel, im Süden, von seinem Standort aus gesehen. Mit etwas Glück konnte er ein paar Enten schießen, bevor er die Mauerreste erreichte. Den Spaten und den Karabiner hatte er über seine Schulter gelegt. Der Nebel dämpfte seine Schritte und alle Geräusche. Ideale Bedingungen.

Plötzlich hörte er das Schnattern von Enten. Lautlos steckte er den Spaten ins Watt, legte das Gewehr auf den Spatengriff und entsicherte die Waffe. Der Zeigefinger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Nebelvorhang riss für einen Moment auf und gab die Sicht auf mehrere Enten frei. Der Schuss traf die Ente am Boden. Kurz darauf­ hatte er wieder Glück, diesmal war es eine schöne fette Gans. Er hängte sich sein Gewehr um, denn für heute reichte es. Seine Jagdbeute in der linken, den Spaten in der rechten Hand marschierte er weiter durch das einsame Watt.

Endlich hatte er die Stelle mit den Steinen gefunden. Das Gewehr konnte er nirgends ablegen, also blieb es, wo es war. Die Jagdbeute legte er neben sich.

Der Spaten drang leicht in den Schlick ein.

Einer der Jäger hatte die Schüsse gehört und beschleunigte seine Schritte. Der Nebel hüllte ihn ein und er war froh, dass er den Kompass mitgenommen hatte. Ab und zu hörte er ein rhythmisch klatschendes Geräusch, waren das Schritte oder grub da jemand?

Dann war wieder alles still. Zwecklos, der Nebel war zu dicht und die Geräusche hatten aufgehört. So konnte er den Wilderer nicht finden.

Der alte Mann konnte kaum glauben, was er gerade ausgegraben hatte – eine kleine Glocke. Teufel auch, wenn die nicht aus Gold war! Ob sie noch funktionierte? Vorsichtig entfernte er den Schlick aus dem Gehäuse und bewegte die Glocke hin und her. Kling-Klong … Das schönste Geräusch, das er je gehört hatte.

Der Jäger hatte sich schon umgedreht und wollte die Suche aufgeben, als er plötzlich das Klingeln einer Glocke hörte. Da, schon wieder. Kling-Klong … Dieses Geräusch passte nun gar nicht in diese verlassene Gegend. Spukte es hier im Dollart, oder wollte ihn jemand verarschen? Er folgte dem Geräusch.

Die Welt um ihn herum hatte der Wilderer vergessen, deshalb sah er den Jäger zu spät. Der hatte das Gewehr auf ihn angelegt. Im nächsten Moment verschwand er wie eine Spukerscheinung in einer Nebelschwade. »Wirf dein Gewehr weg!«, klang es dumpf aus dem Nebel. Der Alte legte die Glocke ins Watt und griff nach seinem Gewehr, um es abzulegen.

In diesem Moment entstand wieder ein Loch in der dichten Nebelwand und die Kontrahenten hatten Blickkontakt. Der Jäger sah, dass der Wilderer sein Gewehr in der Hand hielt. Er fühlte sich bedroht und feuerte sofort. Der Schuss hallte dumpf nach und der Alte wurde nach hinten ins Watt geworfen. Der Jäger lief zu ihm und bückte sich. »Verflucht, warum hast du das Scheißgewehr nicht weggeworfen?«

Der Mann am Boden konnte keine Antwort mehr geben. Seine toten Augen waren weit aufgerissen.

Der Jäger konnte den Anblick kaum ertragen. Was sollte er tun? Würde man ihm glauben? Der Tote war ein armes Schwein, ein Hungerleider, und er selbst ein geachteter Mann. Das bedeutete jede Menge Ärger und Gerüchte, weil viele an der Notwehrsituation zweifeln würden. All seine Hoffnungen auf die angestrebten Ämter könnte er vergessen. Sein Blick fiel auf die Glocke im Watt. Als er sie aufhob, schlug der Klöppel an das Gehäuse. Kling-Klong.

Diese Glocke würde er niemals hergeben.

Nun wusste er, was er zu tun hatte. Der arme Sack hatte ja die Schaufel für sein eigenes Begräbnis gleich mitgebracht. Er durchsuchte den Toten. Das Einzige, was der bei sich trug, war eine alte Taschenuhr. Er nahm sie an sich und legte die Uhr zur Glocke. Dann zog er den Toten zurück in Richtung der Salzwiesen. Dort bedeckte er ihn und die Ausrüstung mit Treibsel aus abgestorbenen Schilfhalmen, das sich an der Flutkante angesammelt hatte. Danach ging er zurück zur Bohrinsel.

Sein Jagdkumpan wartete dort schon auf ihn. »Mann, wo bleibst du denn, ich steh hier schon eine Ewigkeit!«

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich hab mich wohl ein bisschen verlaufen, aber von dem Wilderer keine Spur … Hast du was gesehen?«

»Nein, aber mehrere Schüsse habe ich gehört.« Sein Freund sah ihn misstrauisch an.

»Ja, ich auch. Ich dachte, du hättest sie abgegeben. Ist ja auch egal, die Suche im Nebel war sowieso sinnlos – lass uns nach Hause fahren.«

Als sie sich ins Auto setzten, sah er noch einmal Richtung Norden zurück. Später würde er alleine wieder­kommen und den Toten in den Salzwiesen begraben.

Seine Hand streichelte unbewusst die Glocke in seiner Manteltasche.

Gänseblut

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