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4 Reformpädagogik (frühes 20. Jahrhundert)
ОглавлениеReformpädagogische Versuche fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicher verschiedentlich auch in wilhelminischen Schulkasernen statt, ohne dabei deren räumliche Grundstruktur zu ändern. So ist in Abbildung 7 zu erkennen, dass den Schülern Holzstäbchen zur Verfügung gestellt worden sind, mit denen sie – den Vorgaben auf der Tafel entsprechend – unterschiedliche (silbengetrennte) Wörter sowie auch nichtsprachliche Figuren gelegt haben. Im Schulraum existiert nun also jenseits der Bücher und Hefte auch konkretes Material, mit dem die Schüler selbsttätig agieren können. Die Grundstruktur der räumlichen Einrichtung bleibt im vorliegenden Fall jedoch trotz der erkennbaren unterrichtsreformerischen Bemühungen erhalten. Es handelt sich also um einen wilhelminischen Schulraum mit reformpädagogischen Anklängen; der Unterricht setzt zwar schon auf die Selbsttätigkeit der Schüler, aber ohne deren frontale Sitzordnung zu flexibilisieren.
Erheblich tiefer greifen die raumstrukturellen Neuerungen, die in als Einrichtung insgesamt reformpädagogisch ausgerichteten Schulen wie etwa den Daltonplanschulen oder den Lebensgemeinschaftsschulen (s. Abb. 8 und 9) zu beobachten sind. Im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Schule und Welt, von Schule und Leben, von Schule und Zuhause können diese reformpädagogischen Schulräume in gewisser Weise als Rückkehr zu Elementen des vormodernen Schulraums interpretiert werden. Dies betrifft zuvorderst die Wohnlichkeit des Schulraums, dessen Bestimmung als Zuhause. Zwar gibt es kein Zurück zum vormodernen Verständnis der Schule als Haus des Schulmeisters, aber im Unterschied zum nüchtern-militärischen Lehrraum der preußischen Moderne soll der Schulraum doch Lebensgemeinschaftsraum sein. Im Unterschied zum vormodernen Schulraum wird die Gemeinschaft allerdings nicht mehr patriarchalisch-familial, sondern kollektiv gedacht; der Schulraum wird als Raum des Kollektivs aus Lehrern und Schülern konzipiert. Programmatisch steht hierfür folgende Passage aus dem Schulprogramm der KPD von 1925 (zit. n. Michael/Schepp, 1993, 273): »Der Grundtypus der Schulanstalt ist das Schulheim, nicht die Unterrichtsanstalt. Das Schulheim gewährt jedem Schüler unentgeltliche Behausung, Ernährung, Kleidung, Lernmittel und ärztliche Pflege, auch während der Ferien; Schüler, Lehrer und Angestellte des Schulheimes bilden die Schulgemeinschaft. Die Schulgemeinschaft ordnet ihre inneren Angelegenheiten auf dem Wege der Selbstverwaltung.« Ein konkretes Beispiel für die Umgestaltung des Schulraums zu einem Lebensgemeinschaftsraum in den 1920er-Jahren ist Willy Steigers »S’blaue Nest« an der Volksschule Dresden-Hellerau. Johannes Bilstein (2003) macht an diesem Beispiel deutlich, dass der Schulraum dort zur von den Kindern selbst hergestellten Heimat werden und damit diese zugleich zu einer anderen Arbeits- bzw. Lernweise zwingen soll, weg vom Drill, hin zu Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Insofern ist der reformpädagogische Schulraum eben kein einfaches Zurück zum vormodernen Raum. Zwar wird die Wohnlichkeit des Schulraums wieder bejaht, aber auf eine neue Weise: Der Schulraum ist nicht mehr die Wohnung bzw. das Haus des Lehrers, sondern das Heim der Schulgemeinschaft.