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Einleitung von Wolfgang Schönig und Christina Schmidtlein-Mauderer

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Für den Menschen ist der Raum ein Medium des Lebens. Als Subjekt ist er in räumliche Strukturen und Ordnungen involviert und geht mit ihnen Beziehungen ein. Somit ist er untrennbar mit dem ihn umgebenden Raum verbunden (vgl. Rehle, 1998). Der Tübinger geisteswissenschaftliche Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »erlebten Raumes«: »Nicht gemeint ist damit der nur vorgestellte, imaginäre Raum, der eine vom Menschen losgelöste Wirklichkeit bezeichnet, sondern der Raum, wie er für den Menschen da ist, und in eins damit […] das menschliche Verhältnis zu diesem Raum; denn beides ist voneinander gar nicht trennbar« (Bollnow, 2004, 18). Graf Dürckheim (1896–1988) geht einen Schritt weiter und macht auf die Ambivalenz des gelebten Raumes aufmerksam: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit« (Graf Dürckheim, 1932, 389).

Demnach kann man die Mensch-Raum-Beziehung als eine anthropologische Konstante verstehen, die gleichwohl intersubjektiv unterschiedlich zur Geltung kommt, je nachdem, welche Raumkonzepte Menschen entwickeln. Raumdimensionen werden nämlich auf verschiedene Weise wahrgenommen, sodass sie unterschiedliche Qualität erhalten. In der wahrgenommenen Differenzierung der Raumdimensionen teilen sich je eigene Bedeutungsinhalte des Raumes mit. Die Begegnung mit dem Raum ist ein weitgehend unbewusster Erlebnisvorgang, mit dem das Subjekt eine innere Raumordnung bzw. einen ›phänomenalen Raum‹ bildet. Die kognitionspsychologische und neuropsychologische Forschung macht darauf aufmerksam, dass der erfahrene Raum im Gehirn nicht als ›objektiver Raum‹ bzw. nicht mathematisch exakt repräsentiert wird, sondern in einer neuen Qualität erscheint. Raumerfahrung ist unlösbar mit der Erfahrung des eigenen Leibes und mit einer Vielfalt affektiver Tönungen verknüpft. Der Körper fungiert dabei als ein räumliches Referenzsystem, das die Eindrücke der verschiedenen Sinne zu einem eigenen ›subjektiven Raum‹ verdichtet. Die Eindrücke unserer verschiedenen Sinne vom Raum werden nicht etwa separat kodiert im Sinne eines Hörraums, Tastraums oder Sehraums, sondern werden sie vom Hirn ›intermodal‹ gespeichert. Ontogenetisch gesehen, kommt der taktil-kinästhetischen Sinneserfahrung dabei eine besondere Bedeutung zu. Für das kleine Kind ist das Tasten und Sichbewegen im Hör- und Sehraum die wesentliche Basis für die Entwicklung von Raumgefühl und einem sicheren Raumkonzept. In der taktil-kinästhetischen Aktivität des jungen Menschen eröffnet sich ihm ein sensomotorischer Raum. Die Wahrnehmungen von Zeit-Raum-Relationen, von Bewegungsunterschieden und Ereignisfolgen werden zu einem inneren Vorstellungsbild vom Raum verdichtet. Die Körpererfahrungen verschaffen ihm einen Zugang zur Welt (vgl. Liechti, 2000, 226ff.).

Bereits diese wenigen Hinweise deuten an, dass das Lernen unauflöslich an die Erfahrung des Raumes gebunden ist. Durch die Körperwahrnehmungen bildet sich ein Verständnis für die Phänomene und ihre Eigenschaften. Die leibhaftigen Eindrücke werden mental zu Vorstellungen verarbeitet, denen die Bildung von Symbolen wie Sprache oder Zahlen folgt. Vereinfachend gesagt, gelangt der Mensch von der Bewegung (des Greifens) zum Begreifen und zum Begriff. Der Begriff erscheint somit als eine Abstraktion der vielfältigen leibhaften Veränderungen, die das Subjekt in seinen räum­lichen Bezügen erfahren hat. Die Räume, in denen wir leben, erziehen und beeinflussen uns weit über die bewussten Wirkungsmechanismen hinaus, Räume bilden und werden gebildet (vgl. Becker/Bilstein/Liebau, 1997).

Diese Überlegungen werfen nicht nur Fragen an ein einseitiges symbolisch-abstraktes Lernen auf, das die Lernroutine unserer Schulen immer noch prägt, sondern sie weisen darauf hin, dass die Bedeutung der räumlichen Gestaltung sowie die Art der Nutzung unserer Schulräume für das Gelingen schulischer Bildung noch oft unterschätzt wird. Wie müssen schulische Lern-Räume beschaffen sein, damit sich Lernen und Bildung ereignen können, die Schule für die Heranwachsenden subjektiv bedeutsam sein und als ein Ort des Lebens eine Bereicherung anstatt eines hingenommenen Zwangs sein kann?

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs werden diese Fragen seit einigen Jahren aufgegriffen. Konnte Jeanette Böhme festhalten, dass »der Raum« bislang keine zentrale Kategorie der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung war und im Diskurs eher »implizit mitgeführt« wurde (Böhme, 2009a, 13), so hat das Raumthema vor allem in der Schulpädagogik neuen Auftrieb bekommen. Es wird von einem »spatial turn«, von einer Wende zum Raumthema gesprochen (Böhme, 2009b). Die Raumvergessenheit insbesondere der Pädagogik scheint ein Ende gefunden zu haben. Inzwischen wird deutlich gesehen, dass der Schulraum kein Behältnis für Schülermassen – ein Container – ist, sondern ein sozial, kulturell, soziologisch und psychologisch hochsensibles Phänomen, das von den Akteuren in der Schule selbst hervorgebracht wird. Georg Breidenstein (2004) hat im Anschluss an die Raumsoziologie von Martina Löw (2001) für dieses Raumverständnis den Begriff des relationalen Raums eingeführt und stellt drei gleichzeitig vorhandene Dimensionen der Strukturierung des Klassenzimmers vor. Diese Dimensionen sind der visuelle, der akustische und der haptische Raum. Umgekehrt gilt aber auch, dass die materiale Raumordnung die sozialen Handlungen der Akteure bestimmt. Räumliche Verhältnisse sind nicht allein das Produkt, sondern auch die Bedingung des Handelns. Dies ist insbesondere dort zu bedenken, wo es um das Gelingen der schulischen Bildung im Sinne neuer didaktisch-pädagogischer Prämissen sowie um die Analyse der Machteinflüsse des Raums auf die Heranwachsenden geht (Rieger-Ladich/Ricken, 2009; Kajetzke, 2010; Böhme/Herrmann, 2011).

Das Interesse am Schulraum ist inzwischen durch zahlreiche Buchpublikationen dokumentiert, und kaum eine pädagogische Fachzeitschrift lässt das Raumthema aus (beispielhaft: PÄD Forum, Heft 6/2009; Engagement, Heft 4/2011; Erziehung & Unterricht, Heft 5, 6/2011), jedoch ist bei Weitem noch nicht geklärt, wie Räume bilden, in welcher Vielfalt und Varianz, mit welcher Intensität und mit welcher Dauer sie das tun. Es ist wohl nicht zu prognostizieren, ob es sich um einen durchschlagenden Trend oder eher um eine vorübergehende Konjunktur handelt, wie Daniel Blömer (2011) sie für die Raumkonzepte der bildungspolitisch angefachten Gesamtschulentwicklung in den 1960er- und 1970er-Jahren vorgestellt hat.

Das (wieder-)erwachte Interesse am Schulraum ist heute allerdings von anderen Kontextbedingungen markiert als vor etwa fünfzig Jahren. Zwar ist das Koordinatensystem des Interesses unübersichtlich, erkennbar ist allerdings, dass die Schulen zunehmend unter Druck geraten sind, ihre ›Gestalt‹ zu verändern. Noch nie in der Geschichte des staatlichen Schulwesens sind die Veränderungen der Schule so rasch und tief greifend bis in die Systemstrukturen erfolgt wie in der Gegenwart. Die entscheidenden Antriebskräfte liegen allerdings weniger in der Pädagogik – auch wenn sie sich das seit der Reformpädagogik gerne so gewünscht hat – als vielmehr in durchgreifenden gesellschaftlichen, bildungspolitischen und vor allem ökonomischen Veränderungen. Mit PISA ist ein internationaler Bildungswettbewerb entfacht worden, der den Schulen im Zuge einer neuen Steuerungsphilosophie des Staates ein permanentes ›Qualitätsmanagement‹ abverlangt. Schulen sollen rundum besser werden! Bildungsstandards, Kerncurricula, Fremd- und Selbstevaluation – um nur einige Stichworte zu nennen – sollen dafür sorgen, dass Europa als Wirtschaftsraum den Anschluss an den globalen Wettbewerb nicht verpasst (kritisch dazu: Schönig/Baltruschat/Klenk, 2010). Der Ausbau des Ganztagsschulbetriebs soll die Erwerbstätigkeit der Frau fördern und die Familie entlasten. Und: Es soll in den Schulen anders gelernt werden – schneller, effektiver, flexibler. Begriffe wie Handlungs- und Kompetenzorientierung sowie selbstverantwortetes Lernen bestimmen die Programmatik der neuen Lern- und Lehrkultur. Innerhalb dieses Szenarios kommt auch dem Schulraum eine neue Bedeutung zu. Die Schulräume sollen den neuen Anforderungen besser als bisher genügen; die Ganztagsschule benötigt nicht mehr nur Räume für das Lernen, sondern auch für Aufenthalt, Mittagessen und Freizeitbeschäftigung. Und dies in einer ungewohnten Qualität. Denn wenn sich der Schule vermehrt die Aufgabe stellt, Schüler und Schülerinnen zu beheimaten, dann muss sich das auch in ihrem Raumprogramm niederschlagen. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hatte insbesondere zur Unterstützung des Ausbaus von Ganztagsschulen ein vier Milliarden Euro teures Förderungsprogramm mit der Bezeichnung »Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung« (IZBB) aufgelegt. Das Programm lief von 2003 bis 2009 und hat mehr als 8200 Schulen finanziell unterstützt. Ein erheblicher Teil der Mittel floss bzw. fließt noch in die Sanierung von Schulbauten.1 In der Praxis ist zu beobachten, dass manche Schule vor der Frage steht, ob die anstehende Sanierung der Schulgebäude wirtschaftlich zu rechtfertigen ist oder ob ein Neubau entstehen soll. In solchen Situationen muss zumeist über die bauliche und damit auch die pädagogische Zukunft der jeweiligen Schule rasch entschieden werden. Jedoch sollte vor aller Planung überlegt werden, welches pädagogische Konzept, welche unterrichtlichen Lehr- und Lernformen gefragt sind und was mit den Heranwachsenden gemeinsam angestrebt wird. Dazu benötigen alle Beteiligten – Architekten, Schulträger, Lehrerkollegium, Eltern und Schüler – einen gemeinsamen Lernprozess, der Zeit verlangt. Auch eine professionelle pädagogische Baubegleitung kann diesen Lernprozess nicht ersetzen, wohl aber optimieren.

Bemerkenswert ist, dass seit wenigen Jahren zahlreiche Beispiele gelungener Schularchitektur in der Bundesrepublik Deutschland und im benachbarten Ausland in der Fachliteratur vorgestellt werden (vgl. Watschinger/Kühebacher, 2007; Walden/Borrelbach, 2002; Böhme, 2009b; Dreier u.a., 1999). An ihnen lässt sich manches über das gelungene Zusammenspiel von Architektur und Pädagogik ablesen. Aber sie werfen auch Fragen nach den Gelingensbedingungen auf, Fragen nach den Kosten, der zeitlichen ­Planung, dem Einbezug von Schülern und Eltern in den Planungsprozess oder nach der Festlegung der Pädagogik durch Schulbaurichtlinien in den Bundesländern der BRD.

In der Praxis sind die Irritationen über die Bindung durch konventionelle Bauverordnungen bzw. Schulbaurichtlinien groß. Dies liegt wohl daran, dass die Verordnungen von den Bauverwaltungen der Schulträger in recht unterschiedlicher Weise für die Bauplanung und Schulbausanierung herangezogen werden. Tatsächlich schreiben sie nur wenige Parameter fest, so etwa die Mindest­fläche oder das Luftvolumen pro Schüler im Klassenzimmer. Das bedeutet, dass darüber hinausgehende Planungsoptionen offen sind und eine groß­zügigere, pädagogisch angemessene Raumplanung Verhandlungssache der Baureferenten der Schulträger, der Architekten und Ingenieure sowie der direkt Betroffenen ist. Die entscheidende Rolle spielen sicherlich die Finanzkraft der jeweiligen Gemeinde, die pädagogische Einsicht des Schulträgers und die Entschlossenheit der Pädagogen, ihre Vorstellungen von einer Schule mit anderem Gesicht zu realisieren. Baurichtlinien können aber auch rigide ausgelegt werden und dadurch einem ›heimlichen Lehrplan des Raums‹ (z.B. Festigung von Macht durch Kontrolle und Disziplinierung, Stilllegung des Schülerkörpers, methodische Engführung des Lernens) Vorschub leisten. Josef Watschinger hat am Beispiel von Südtirol gezeigt, wie wichtig es deshalb für eine pädagogisch legitimierte Schulraumnutzung ist, dass die Bauricht­linien eine flexible Aufteilung von Verkehrs- und Nutzflächen je nach dem pädagogischen Konzept der jeweiligen Schule verlangen (Watschinger, 2011). Aber auch die pädagogische Öffnung von Schulbauricht­linien ist nur dann wirksam, wenn die beteiligten Interessengruppen den Willen aufbringen, gemeinsam ein pädagogisches Raumkonzept zu entwerfen. Dies setzt wiederum voraus, dass die Schule bereits ein pädagogisches Profil hat, zumindest aber anstrebt. Auf eine Formel gebracht: Raumkonzept folgt Schulkonzept!

Es ist allerdings festzuhalten, dass der Dialog zwischen Bauträgern, Architekten, Pädagogen und den direkt Betroffenen anspruchsvoll ist und nur selten gelingt – vielleicht ein Grund dafür, dass wir bislang noch zu wenig gelungene Schularchitektur vorfinden. Offenbar sind die einzelnen Interessengruppen noch weit davon entfernt, sich wechselseitig zu respektieren, geschweige denn eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Selbst in der Frage, inwieweit man die Meinungen und Wünsche der Schülerinnen und Schüler bei der baulichen Gestaltung berücksichtigen sollte, besteht Uneinigkeit insbesondere zwischen Pädagogen und Architekten. Exemplarisch für den Graben, der zwischen den Zünften verläuft, ist die Kontroverse zwischen dem Pädagogen Rittelmeyer und dem Architekten Hahn. Rittelmeyer ist die emotionale Qualität von Schulhäusern wichtig, weil sich ihr Einfluss auf Lernen und Wohlbefinden nachweisen lässt. Für Hahn hingegen ist dies von untergeordneter Bedeutung. Für ihn steht im Vordergrund, dass »dauerhafte Architektur-Standards« mit Blick auf »Volumina, Materialität und Propor­tionalität« festgeschrieben werden.2 Wie viele Mitspracherechte sollten wem im Blick auf welche Entscheidungssubstanz gegeben werden?

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung mit dem Thema »Der Schulraum im interdisziplinären Dialog: Neue Kulturen des Lernens und Lebens im Raum der Schule« zurück, die am 7. und 8. Oktober 2011 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattgefunden hat. Die Beiträge der Referentinnen und Referenten sind durch weitere ergänzt worden, um das Fragenspektrum zu vervollständigen. Es ist unser Ziel, den in der Fachliteratur sich abbildenden Dialog zwischen den Disziplinen, aber auch zwischen Theorie und Praxis fortzusetzen und vorhandene Ansätze weiterzuent­wickeln.

Der Band gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil nehmen die Verfasser vorwiegend eine historische Perspektive ein. Michael Göhlich legt, ausgehend von der frühen Neuzeit, in einigen Schritten dar, wie sich der Schulraum von einer ständisch geprägten Nutzungsweise allmählich funktional ausdifferenziert hat. Es wird beschrieben, wie sich das Lernen sowohl in der Lateinschule als auch in der Rechenmeisterschule des 16./ 17. Jahrhunderts für die Schüler unterschiedlicher Standeszugehörigkeit in ein und demselben Raum vollzieht. Ein Frontalunterricht ist der Schule noch fremd. An Beispielen zeigt Göhlich auf, wie in der Epoche der Aufklärung ein neues Verhältnis zu Natur und Körperlichkeit dazu führt, dass Schulen den Lebensbezug stärken und den Unterricht ›erfahrungsorientiert‹ und auf Realien bezogen auszurichten versuchen. Erst mit der Industrialisierung und Militarisierung des preußischen Staates im 19. Jahrhundert werden diese Bemühungen durch einen gegenläufigen Trend zunichte gemacht. Der ›kasernenförmig‹ organisierte wilhelminische Schulbau fordert ein Lernen im Gleichschritt sowie Zentralisierung und Kontrolle der Schülermassen. Das Abrücken von diesem Schulraumtypus ist erst mit der beginnenden Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts zu erkennen, die auf die Förderung der Lebensgemeinschaft und die Selbsttätigkeit des Individuums setzt – eine Idee, die ein halbes Jahrhundert später erneut aufgegriffen wird und zu den Konzepten des offenen Unterrichts, der Öffnung der Schule und der Reggio-Pädagogik führt. Einen neuen Typus der Öffnung des Lernraums sieht Göhlich in der Virtualisierung des Lernens: Das Lernen mithilfe von Computertechnologien und in digitalen Netzen bringt unerschöpfliche Lernmöglichkeiten wie auch Gefahren mit sich.

Die Überlegungen von Daniel Blömer setzen in der Nachkriegszeit an, die auf die Rehumanisierung der Erziehung setzt. Das Ideal der multifunk­tionalen Schulräume, der erzieherischen Tätigkeit im aufgelockerten Klassenzimmer und der flächigen Schulbauten in der 50er-Jahren wird freilich dort konterkariert, wo das Argument der steigenden Geburtenquoten und die Urbanisierung für mehrgeschossige Rasterbauten zu sprechen scheint. Am Beispiel der Gesamtschule zeichnet Blömer nach, wie die veränderte gesellschaftspolitische Lage der 60er­- und 70er-Jahre eine stärkere Ausrichtung der Erziehung an Chancengleichheit, Demokratie und sozialem Lernen den Schulbau beeinflusst. Ebenso sollen neue didaktische Orientierungen zu einer Rationalisierung und zugleich Individualisierung des Lernens führen. In den kompakten Schulgebäuden für bis zu 1500 Schüler sollen Sprach­labore, Fachräume, Mediatheken, Tonstudios usw. dem Zeitgeist entsprechen. Gesellschaftsreform und Bildungsreform sollen auch schularchitek­tonisch in eins gehen. Blömer zeigt, wie die Reformen des Bildungswesens sowohl Architekten als auch Pädagogen veranlassen, gemeinsam über geeignete Schulräume nachzudenken. Gleichwohl macht er auf Diskrepanzen zwischen geplanten und tatsächlichen Schulraumnutzungen von Gesamtschulbauten aufmerksam und zeichnet nach, wie sich eine pragmatische Schulraumnutzung im schulischen Alltag der Gesamtschule durchgesetzt hat.

Christian Rittelmeyer variiert den Blickwinkel, indem er die Qualität heutiger Schulgebäude analysiert. Sein Beitrag bildet eine Klammer zwischen den historisch akzentuierten Texten und denen der folgenden Teile des Buches. Rittelmeyer verdeutlicht an Beispielen, dass die Qualität von Schulräumen von Architekten und anderen Baufachleuten einerseits und den Nutzern der Schulräume andererseits recht kontrovers beurteilt werden kann. Er leitet daraus fünf Forderungen ab, die auf die enge Kooperation der am Schulbau beteiligten Interessengruppen und auf den Widerstand gegen die der Pädagogik ferne stehenden Eigeninteressen von Gruppen und Netzwerken zielen: Sensibilisierung für die Bedürfnisse der Nutzer, Initiativen gegen nutzerfeindliche Interessen, Evaluation der Raumqualität, Verständigung der Lehrerkollegien auf ein umfassendes Bildungsverständnis unter Berücksichtigung der Lebenswelten Heranwachsender, Berücksichtigung der Ergebnisse der Schulbauforschung. Zum letzten Gesichtspunkt zieht Rittelmeyer eigene Forschungsergebnisse heran und referiert drei aus der Schülersicht gewonnene Qualitätskriterien.

Der zweite Teil des Buches schließt an die Qualitätsdiskussion Rittelmeyers an, fokussiert aber die akustische Qualität der Schule. Gerhart Tiesler befasst sich mit der akustischen Sanierung von Klassenzimmern. Es wird anhand von empirischen Studien gezeigt, wie sich Räume mit schlechter Akustik auf das Interaktionsgeschehen im Klassenzimmer auswirken, ins­besondere vor dem Hintergrund der ›Öffnung‹ des Lernens. Die physiolo­gischen Vorgänge, hervorgerufen durch akustischen Stress, werden erklärt. Demgegenüber wird an Beispielen erörtert, wie sich die akustische Sanierung von Klassenzimmern auswirkt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Beanspruchung der Lehrkräfte gewidmet. Zusammenfassend legt Tiesler dem Leser einige Konsequenzen aus den empirischen Studien nahe. An diese Überlegungen schließt der Text von Christian Nocke unmittelbar an mit der Absicht, Leitlinien für die akustische Gestaltung des Schulraums vorzustellen. Der Autor erklärt in einem knappen Aufriss die Grundlagen und die Bedeutung der raumakustischen Planung und Gestaltung von Räumen. Besonderes Augenmerk wird auf die Nachhallzeit entsprechend der DIN 18041 gelenkt. Anhand unterschiedlicher Raumgrößen und Nutzungsweisen werden Konsequenzen für die raumakustische Planung in Schulen gezogen. Eine empirische Studie an einer Grundschule verdeutlicht die unterschiedlichen raumakustischen Verhältnisse vor und nach der Sanierung von Klassenzimmern.

Um das Klassenzimmer geht es auch im dritten Teil des Buches. Allerdings sind die Beiträge von Wolfgang Schönig und Christina Schmidtlein-Mauderer sowie von Michael Kirch und Kai Nitsche ausschließlich auf die Nutzung des Mobiliars im Kontext von Lehren und Lernen konzentriert. Der Text von Schönig und Schmidtlein-Mauderer referiert eine empirische Studie zum Gebrauch des »flexiblen Klassenzimmers« in verschiedenen Schularten. Dazu werden der gegenwärtige Reformkontext gekennzeichnet und die Bestandteile des flexiblen Klassenzimmers vorgestellt. Anschließend wird anhand von Bildmaterial und exemplarischen Originalzitaten von Lernenden und Lehrenden aufgezeigt, wie das flexible Klassenzimmer tatsächlich verwendet und von beiden Gruppen (teils unterschiedlich) beurteilt wird. Abschließend werden die Ergebnisse kommentiert und Vorschläge für eine Integration des flexiblen Klassenzimmers in den Schulalltag und die Kultur der jeweiligen Schule unterbreitet. Michael Kirch und Kai Nitsche plädieren dafür, den Integrationsproblemen früh zu begegnen, nämlich bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung. Sie stellen flexible Grundschulklassenzimmer vor, die zudem mit einer Anlage für den Video-Mitschnitt ausgestattet sind. Dieses Ensemble wird für die Schulpraktika der Lehramtsstudierenden der Ludwig-Maximilians-Universität München genutzt. Es erlaubt, die Unterrichtsversuche einzelner Studierender zeitgleich in einen benachbarten Seminarraum der Studierendengruppe zu übertragen. Die Studierenden erfahren auf diese Weise, dass das Klassenzimmer keine zu vernachlässigende Größe ist, sondern die räumlichen Verhältnisse bereits bei der Unterrichtsplanung hinsichtlich der Passung mit den anderen Strukturmomenten des Unterrichts wie z.B. mit Zielen, Methoden und Medien sorgfältig bedacht werden müssen.

Dass Schule und Unterricht immer auch mit Machtkonstellationen verbunden sind, wird im vierten Teil des Bandes erörtert. Laura Kajetzke und Jessica Wilde ist wichtig zu verdeutlichen, dass trotz der Bestrebungen der Öffnung von Unterricht auch für das flexible Klassenzimmer die Frage nach Macht und Kontrolle zu stellen ist. Dazu bedienen sich die Autorinnen soziologischer Konzepte, insbesondere der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour. Macht wird mit Foucault und Latour als ein Phänomen gesehen, das nicht allein in der Begegnung von Subjekten erzeugt wird, sondern das auch durch scheinbar periphere Elemente wie die Materialität des Raumes entsteht – der Raum wird zum Akteur. Mit der ANT zeigen Kajetzke und Wilde, wie die Materialität bzw. die Artefaktwelt von »klassischen« und »flexiblen« Klassenzimmern neu vermessen werden kann. Dabei ist auch von Interesse, welche Machtwirkungen – positive wie bedenkliche – durch das flexible Klassenzimmer entstehen können. In einem weiteren Schritt wird der Zusammenhang von Bewegungen und Macht sowie von ermöglichenden und einschränkenden Bedingungen im Klassenzimmer erhellt. Ina Herrmann öffnet den Fokus der machttheoretischen Betrachtung des Klassenzimmers und betrachtet die Schule-Umwelt-Relation unter dem Gesichtspunkt von Öffnung und Schließung. Ihr Text geht von dem Widerspruch aus, dass sich die räumlich-institutionellen Grenzen des Pädagogischen zwar auflösen, aber der Schulraum noch weitgehend auf die Schließung räumlicher Grenzen hin angelegt ist. Mithilfe des poststrukturalistischen Ansatzes von Michel Foucault wird zunächst am Beispiel einer Realschule die Schule-Umwelt-Abgrenzung erklärt. Der Bautypus dieser Schule wird sodann mit der Foucault’schen Figur des »Panopticons« konfrontiert. Danach wird die Mikroperspektive eingenommen und die »zellenförmige« Architektur am konkreten Beispiel gekennzeichnet. Abschließend wird auf die baulichen Hindernisse einer »Entgrenzung des Pädagogischen« durch die Schularchitektur hingewiesen.

Der fünfte und letzte Teil des Buches ist perspektivisch ausgerichtet. Er schließt an die in den anderen Kapiteln referierten Qualitätsstandards und Leitlinien für eine pädagogisch ausgerichtete Schularchitektur an und markiert die Eckpunkte für eine Schulentwicklung, die eine anspruchsvolle Lernkultur, das Anliegen der Lebensraumorientierung und die Schulraumgestaltung zusammenzubringen versucht. Am Anfang steht der Beitrag von Karin Doberer und Michael Brückner, dem die Erfahrung der pädagogischen Bau­begleitung in Korrespondenz mit Architekten zugrunde liegt. Zunächst werden die Versäumnisse im Schulbau vor dem Hintergrund moderner Lern­anforderungen aufgezeigt und die räumlichen Voraussetzungen für Kooperation im Kollegium als unzulänglich charakterisiert. Vorgestellt wird das Konzept »Raumfunktionsbuch« als Basis des gemeinsamen Planungsprozesses aller Beteiligten. Doberer und Brückner greifen einen Bezugspunkt des Planungsprozesses, das Klassenzimmer, heraus und zeigen dessen Veränderung zur »LernLandSchaft«. Am Beispiel der Sanierung der Beruflichen Schulen Witzenhausen werden die vorgestellten Planungsprämissen buchstäblich ins Bild gesetzt. Jutta Schöler greift das Thema der Inklusion auf und zeigt, auf welche bau­lichen Merkmale der Schule eine Pädagogik trifft, die mit den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention des Jahres 2009 Ernst machen soll. Eine inklusive Schule, die sich auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen einlässt, ist, so Schöler, ein Lernort, an dem sowohl die Einstellungen von Pädagoginnen und Pädagogen proaktiv sind als auch die räumlichen Gegebenheiten für die Aufnahme und Annahme behinderter Menschen umgestellt werden. Schöler erläutert dies an verschiedenen Beispielen: den Wegen im Schulhaus für die Rollstuhlfahrerin, dem Klassenraum für im Sehen oder im Hören eingeschränkte Schüler, der gemeinsamen Toilette für behinderte und nichtbehinderte junge Menschen und der gemeinsamen Nutzung der Schulküche im Rahmen eines lebenspraktischen Unterrichts. Der Beitrag von Florence Verspay und Frank Hausmann kann als ein Beispiel für eine veränderte Sicht der Architektur auf den Schulraum und somit als Quintessenz der im Buch referierten Reformvorschläge gelesen werden. Der Titel des Beitrags »Wie sich Schulen verändern müssen …« kündigt paradig­matisch an, dass der Wandel der Lehr- und Lernkonzepte eine Entsprechung in der schulischen Architektur finden muss. Damit diese Forderung erfüllt werden kann, ist eine enge Zusammenarbeit von Nutzern und für den Bauprozess Verantwortlichen Voraussetzung. Der erste Schritt einer Kooperation besteht aus einer Analyse des Ist-Zustandes der räumlichen Gegebenheiten im Schulalltag. Anhand verschiedener Praxisbeispiele wird sichtbar, wie päda­gogische Konzepte in der räumlichen Umsetzung abgebildet werden können. Damit der Entwicklungsprozess optimiert werden kann, plädiert das Verfasserteam für eine »Phase null«, eine Integration aller Beteiligten in die Planung von Anfang an. Gemeinsam erstellte Nutzungsszenarien sollen helfen, räumliche Abhängigkeiten rechtzeitig zu erkennen. Anschließend legen Hausmann und Verspay wesentliche Aspekte dar, die exemplarisch als Prozessgrundlage für eine auf pädagogische Anforderungen ausgerichtete Architektur dienen können. Der Beitrag von Josef Watschinger setzt diese gedankliche Linie fort und verdeutlicht exemplarisch das Ergebnis eines gelungenen Planungsprozesses. Watschinger spricht an, welchen Weg das Land Südtirol beschreitet, um die Lehr- und Lernräume in Einklang zu bringen mit der sich entwickelnden erweiterten Lernkultur, und geht kurz auf die neuen Schulbaurichtlinien ein. Am Beispiel der neuen Grundschule Welsberg wird ein Mut machender Ansatz präsentiert. Abschließend wird der Versuch unternommen, einige Merkmale pädagogisch gelungener Architektur zu formulieren.

1 www.ganztagsschulen.org/1108php; aufgerufen am 23.03.2012.

2 BDA-Düsseldorf (Hg.): Schulbauten. Bunte Vielfalt oder klare Ordnung. Eine Kontroverse. www.bda-duesseldorf.de/fileadmin/mediaFiles/NRW-Duesseldorf/Bilder/BDA_Duesseldorf/Meldungen/BDA_Schule-Hahn-Rittelm.pdf, aufgerufen am 06.02.2013.

Gestalten des Schulraums

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