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Einführende Überlegungen
ОглавлениеDie historische Entwicklung des Schulraums impliziert und indiziert den Wandel der Auffassungen von Unterricht, Schule und Menschen. Den Raum pädagogisch zu nutzen und als nonpersonalen Erzieher oder Lehrer, präziser: als Lernunterstützer zu verstehen, ist eine zentrale Forderung heutiger pädagogischer Ansätze, beispielsweise der Montessori-Pädagogik, des offenen Unterrichts und insbesondere der Reggio-Pädagogik (vgl. Göhlich, 1998 und 2009a, 67ff.). Die bewusste pädagogische Nutzung des Raumes ist jedoch viel älter. So fordert Erasmus schon im frühen 16. Jahrhundert, Wandinschriften als stumme Lehrer einzusetzen (vgl. Michael, 1963, 30). Von Melanchthon ist der Einsatz eines die Tugend der Mäßigung versinnbildlichenden Holzschnitts hinter seinem Katheder bekannt (vgl. Greschat, 2010). Und in der mittelalterlichen Bezeichnung der Unterlehrer als Lokaten klingt die regelmäßige Verortung verschiedener Schüler»haufen« an verschiedenen Stellen (»loci«) des damals noch einen Schulraums an.
Die Geschichte des Schulraums und des Verhältnisses zwischen dem Schulraum und den Auffassungen von Schule, Unterricht, Lehrern und Schülern lässt sich grob in die Zeit des Ancien Régime und die Zeit der Moderne unterteilen. In Ersterer zeugt der Schulraum von ständischer, in Letzterer von funktionaler Differenzierung. Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein wird das Schulhaus als Haus des Lehrers konzipiert, in dessen einem großen Unterrichtsraum Schüler verschiedenen Alters und verschiedener Leistungsstufen gemeinsam, wenngleich gegebenenfalls auf verschiedenen Bänken nach Ständen und/oder Leistungsstufen sitzend und zuweilen von mehreren Lehrkräften unterrichtet werden. Der Übergang zur modernen Gesellschaft und zu der ihr eigenen funktionalen Differenzierung wird schulräumlich durch die Ausgliederung der Wohnräume des Lehrers bzw. Schulleiters aus dem Schulhaus sowie durch die bauliche Abtrennung und Reihung mehrerer, jahrgangsdifferenzierend genutzter Klassenzimmer angezeigt.
Diese grobe Unterscheidung lässt sich weiter ausdifferenzieren, insbesondere im Hinblick auf Konzeption und Realität des Schulraums und die pädagogische Praxis in der Moderne. Die folgende Skizze, in die frühere Arbeiten des Autors eingegangen sind (vgl. Göhlich, 1990, 1993, 1997, 1999, 2009b), geht in sechs Schritten vor: Frühe Neuzeit (16./ 17. Jh.) – Aufklärung (18. Jh.) – Industrialisierung/Militarisierung (19. Jh.) – Reformpädagogik (frühes 20. Jh.) – neue Reformpädagogik (spätes 20. Jh.) – Virtualisierung (frühes 21. Jh.).