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10 Der leere Stuhl

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Kühne saß vor seinem Espresso und mochte ihn nicht anrühren. Das Lehrerzimmer würde sich zur großen Mittagspause gefüllt haben und ihm stand der schwere Gang zu seinen Kollegen bevor. Sollte er von Schuld sprechen? Es würde nachdenklich machen. Aber wäre das gut? Auch er würde Federn lassen müssen. Nachher war man immer schlauer, aber wer hätte das vorhersehen können? Beer war immer eine starke Persönlichkeit gewesen. Den Vorfall ein tragisches Schicksal zu nennen, würde den Nerv des Kollegiums am besten treffen. Es war ohnehin vorbei. Inge Beer war tot. Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Aber wie wandte er die Aufmerksamkeit weg von der Schule? Er durfte nicht den geringsten Zweifel an der Integrität des Kollegiums aufkommen lassen. ‚Inge Beer, eine kompetente Pädagogin, mit dem Herz am rechten Fleck, wurde aus der Mitte des Kollegiums gerissen.‘ So oder so ähnlich müsste er es darstellen. Er kannte niemanden, der Inge wirklich eine Träne nachweinen würde, aber das war eine Wahrheit, die nicht zu einer Trauerfeier passte. Schüler wie Eltern würden hören wollen, dass die Kollegin Beer eine echte Bereicherung für die Schule und die Kollegen war und ihre fachspezifischen Akzente die tadellose Außenwirkung der Schule nachhaltig mitgestaltet hatten.

Kühne erhob sich. Offensichtlich wusste er plötzlich, wie er die Situation zum Guten wenden würde. Erstens musste er Kontakt mit der Kommissarin Amber aufnehmen. Zweitens gab der Todesfall ihm die fantastische Gelegenheit, die Albert-Schweitzer-Gesamtschule in ein vorbildliches Licht zu rücken. Es war alles eine Frage der Rhetorik. Den Abiturienten würde er Möglichkeiten einräumen, damit sie ihre Gefühle und ihre Betroffenheit kanalisieren konnten und kein Lernstau aufkam.

Er trank seinen Espresso und rief Fey Amber an. Sie war nach Münster zurückgekehrt und befand sich gerade auf dem Weg in die Pathologie. Degenhardt würde nicht lange brauchen, um zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen und das hätte sie gerne gewusst. Sie vertröstete Kühne für eine oder zwei Stunden.

Im Lehrerzimmer herrschte aufgeregte Geschwätzigkeit. Jemand hatte den Abtransport der Bahre mit dem Aluminiumdeckel gesehen und nun suchte man nach Erklärungen. Zwei Personen waren allerdings in ein Zwiegespräch vertieft, das nichts mit dem allgemeinen Rätselraten zu tun hatte. Paul Winter war ebenfalls wie Jens Brisinzki aus der Wirtschaft abgeworben worden, um an der Schule Physik und Mathe in den Jahrgängen bis zur 10. Klasse zu unterrichten. Ralf Lesche war sein Mentor und bekannt für seine gute Didaktik. Paul Winter war erst 27 Jahre alt und Ingenieur von Beruf. Fachlich traute man ihm die Aufgabe zu, doch seine ersten Versuche, allein vor der Klasse zu unterrichten, waren kläglich gescheitert. Die Schüler hatten sehr schnell ihre Neugier befriedigt und schon in der ersten Stunde hatte der 10e-Mathe-EK zum Ende hin jegliche Anweisung ignoriert. Winter konnte sich nicht durchsetzen und Lesche hatte keine Lust, wegen der Misswirtschaft des Bildungsministeriums die heißen Kastanien aus dem Feuer zu holen. Der Lehrermangel ging auf dösige, dafür hochbezahlte Ministerialdirigenten der Landesregierung zurück. Die hatten gepennt, ausbaden mussten es die Schüler.

Lesche machte gerade seinem anvertrauten Laienkollegen klar, dass er ihn nicht länger an die Hand nehmen konnte. Winter stand mit dem Rücken zur Wand, denn nach seinem Studium hatte er zwei Jahre versucht bei Thyssen-Krupp Fuß zu fassen, war aber wegen schwacher Teamfähigkeit und mangels Input ins Abseits geraten.

Lesche war 55 Jahre alt und seit 25 Jahren an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule, kurz ASGS genannt, tätig. Er hatte Inge Beers Einstand mitgefeiert und war seitdem immer loyal zu ihr gewesen. Zwar hatte er ihren Niedergang bemerkt, aber Inge für so stark gehalten, dass sie mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig würde. Paul Winter hielt er für eine ausgemachte Niete. Verglichen mit Inge war Winter ein didaktischer Bruchpilot. Er hatte bisher jede Stunde in den Sand gesetzt, sodass dem EK 10e der Anschluss zu verlieren drohte. Er musste unbedingt mit Kühne reden. So ging das nicht weiter.

Wenn man vom Teufel sprach, dachte Lesche, als Kühne das Lehrerzimmer betrat und händeklatschend um Aufmerksamkeit bat.

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte setzen Sie sich einen Moment. Wir haben einen schweren Verlust zu beklagen. Wie Sie bemerkt haben, ist der Platz von Frau Beer heute Mittag nicht besetzt. Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere verehrte Kollegin unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Kriminalpolizei war im Hause, um den Fall zu untersuchen. Augenscheinlich handelt es sich um einen Selbstmord, aber man denkt bei der Kripo auch über einen Mord nach. In Kürze wird man mich über die neusten Ergebnisse der Ermittlungen informieren. Ich werde Sie umgehend davon in Kenntnis setzen. In dieser schweren Stunde möchte ich Sie bitten, den Schülern gegenüber zunächst Stillschweigen zu bewahren. Warten wir erst die polizeiliche Untersuchung ab. In der Zwischenzeit denken Sie bitte darüber nach, wie Sie in Ihren Klassen die Schüler mit der tragischen Nachricht vertraut machen wollen.“

Tot am Ring

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