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3 Schlüssel
ОглавлениеJens Brisinzki platzte in Kühnes Büro ohne anzuklopfen. Manieren waren nicht seine Stärke, weil er es gewohnt war, in einem offenen Großraumbüro zu arbeiten und Türen als Hindernisse betrachtete. Auch sonst war Brisinzki ein unkonventioneller Patron, der bisweilen chaotische Zustände anrichtete, wenn er Programme schrieb.
Durch einen unerwarteten Todesfall war der führende Informatiklehrer der Schule ausgefallen und da die Abiturprüfungen ins Haus standen, hatte Kühne mit Genehmigung der Bezirksregierung einen renommierten Praktiker aus der Wirtschaft geholt. Jens Brisinzki war 1,95 m groß, 56 Jahre alt und ein Meister seines Fachs. Kühnes schlimmste Befürchtung, der Neue würde keinen Draht zu den Schülern finden, hatte sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Brisinzki hatte von vorneherein reinen Tisch gemacht. Pardon gab’s nur für Fehler. Machte einer Scheiß, wurde er vor versammelter Mannschaft angeschissen, dass die Fetzen flogen. Noch hielten sich die Eltern zurück, und Kühne war froh um jeden Tag, den das Abitur näherrückte.
„Chef, ich brauch die Schlüssel fürs Lehrerzimmer und den Kopierraum. Die Elektriker haben sich angemeldet. Wir gehen gemeinsam den Verkabelungsplan für das neue EDV-System durch.“
Kühne murrte, nahm die entsprechenden Schlüssel vom Brett und reichte sie weiter an Brisinzki, der sie sofort in seine Hosentasche steckte.
„Sie wissen, dass ich Ihnen die Schlüssel nur im Vertrauen gebe. Sie sind erst neun Wochen bei uns, haben einen zeitlich befristeten Vertrag, laufen sozusagen noch auf Probe und haben nun Zugang zu allen relevanten Räumen und den dort befindlichen Daten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie sich im Rahmen der legalen Vorschriften zu bewegen haben. Überall im Lehrerzimmer finden Sie persönliche Daten von Schülern, die Sie nichts angehen. Also, ich gebe Ihnen die Schlüssel nur ausnahmsweise.“
Brisinzki vermied einen Kommentar und trat näher an Kühne heran, als wollte er ihm ein Geheimnis verraten.
„Sagen Sie, die Frau Beer gefällt mir gar nicht. Ich bin vorhin ins Lehrerzimmer gegangen und habe sie gegrüßt. Da kam nichts zurück, als wäre sie weggetreten. Ist ihre Art, oder?“
„Frau Beer hat Last mit den Knien. Ich bin froh um jede Fachkraft, so kurz vorm Abi. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie hat seit Jahren Probleme mit dem Laufen. Das wird schon wieder.“
„Im Grunde geht mich das nichts an. Ist eher Sache des Betriebsrats, aber meinen Sie nicht, dass sie ziemlich isoliert ist? An ihrem Tisch legen die Kollegen ihre Mäntel und Jacken ab, aber niemand setzt sich. Tut mir irgendwie leid, die Frau.“
Kühne winkte ab und wandte sich der Kaffeemaschine zu. „Zäh wie Leder, unsere Frau Beer“, sagte er im Brustton der Überzeugung. „Ein Stückweit hat sie sich selbst ins Abseits buchsiert. Aber sie ist kein Opfer einer bewussten Ausgrenzung. Im Kollegium gibt es viele Anknüpfungspunkte. Frau Beer müsste lediglich einen Schritt auf die anderen zugehen.“
„Ich könnte mit ihr reden.“
„Das bleibt Ihnen überlassen.“