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Mord fanden die meisten Kollegen unvorstellbar. Wer sollte Inge Beer umbringen und warum? Sie war eher eine tragische Figur, die sich aus Verzweiflung oder Depression das Leben genommen hatte. Man war sich an den Lehrertischen schnell einig, dass es erkennbare Gründe gab, warum Inge mit dem Leben Schluss gemacht hatte. Chronische Schmerzen in den Knien, ständig Schmerzmittel nehmen und erst die Nebenwirkungen. Der Rollator war in den Augen vieler eine unerträgliche Demütigung gewesen, die sich die meisten nicht angetan hätten, lieber wären sie früher dienstunfähig in den Ruhestand getreten. Inge hatte es nicht leicht, darüber waren sich alle einig. Wahrscheinlich hatte sie auch Herzprobleme bei dem Übergewicht und dem Stress, und dass sie Wasser in den Beinen hatte, konnte man sehen. Jemand öffnete die Tür zu Inges Spint und warf einen Blick hinein. Ein Kollege rief, nichts anzurühren, bis die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hatte. Plötzlich stand doch das Thema Mord im Raum. Außer Brisinzki wiegelten alle diese Möglichkeit mit skeptischen Gesichtern ab.

Jeder der Kollegen hatte Brisinzki näher kennengelernt, denn er verantwortete die Installation der neuen EDV-Anlage. Die Albert-Schweitzer-Gesamtschule war Teil eines Pilotprojektes des Bildungsministeriums. Auf lange Sicht sollte jeder Lehrer in NRW Zugang zu einem internen Programm haben, auf dem alle schulrelevanten Daten erfasst und verschickt werden konnten. Brisinzki war an der Entwicklung der Anlage beteiligt, die seit Tagen an der ASGS in Haltern erprobt wurde. Dazu wurde jeder Kollege von ihm persönlich in die Materie eingeführt. Er hatte aus diesem Grund gestern Nachmittag kurz mit Inge gesprochen. Brisinzki kannte keine Berührungsängste, duzte alle gern und war unter den Kollegen geschätzt, weil er ein starkes Charisma hatte, das auch bei den Schülern Respekt einforderte. Er bat um Gehör.

„Ihr solltet wissen, dass ich gestern mit Inge gesprochen habe. Sie wirkte die letzten Tage depressiv auf mich, war aber gestern guter Dinge. Erzählte mir von den Tagen, als es kaum Computer und Handys in der Schule gab. Ein Kopiergerät für alle Lehrer wäre damals als besondere Errungenschaft vorgestellt worden. Sie lächelte, als sie ihren Frust über die neuen Medien zum Ausdruck brachte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass sie es zwar ernst meinte, aber in ihrem Ton eine unbekümmerte Gleichgültigkeit mitschwang. Wenn Inge mit ihrem Wägelchen über den Flur dackelte, habe ich sie bewundert. Eine Walküre auf dem Weg in die Schlacht. Jetzt denke ich anders über unser Gespräch von gestern. Sie war bereits entschlossen, sich das Leben zu nehmen und hatte einen konkreten Plan. Für mich bleibt die Frage, ob wir alle es hätten früher sehen und verhindern können.“

Betretenes Schweigen. Zum Glück betrat Kühne den Raum und brach die Totenstille.

„Die Kripo ist auf dem Weg zu uns. Es gab bei der pathologischen Untersuchung einen Befund, der darauf hinweist, dass es sich tatsächlich um einen Mord handeln könnte. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir warten ab, bis ich mit den Kommissaren Amber und Mörris gesprochen habe. In Kürze wissen Sie, was offiziell als Todesursache verlautbar gemacht werden darf.“

Kühne verzog sich in sein Büro und die Kollegen im Lehrerzimmer atmeten kurz auf, denn Mord würde sie moralisch entlasten. Niemand wollte sich schuldig am Selbstmord von Inge Beer fühlen. Sie war doch am Ende die Moralinstanz gewesen und hatte alle damit genervt. Warum hatte sie sich nicht durchgesetzt? Offenbar hatte sie nicht die richtigen Argumente und vielleicht war auch ihr Äußeres einfach nicht von Vorteil. Sie hatte ihre Klassen nicht besser im Griff als andere, wusste aber besser, was andere tun sollten. ‚Zum Wohle des Kindes‘ hatte sie vorgeschoben, dabei hatte sie selbst keine Kinder. Ihre Ehe mit Pastor Beer färbte ab auf ihre moralischen Ansprüche: Korrekte Sprache, ordentliches Verhalten, saubere Kleidung, Erledigung der Hausaufgaben, Klassenzusammenhalt und so weiter wurden im Licht religiöser Grundsätze gedeutet, was keinen interessierte. Weder Kollegen noch Schüler hatten verstanden, dass Beer den moralischen Verfall der neuen Zeit aufhalten wollte, einen Verfall, den man entweder in Kauf nahm oder nicht bemerkte. Sich aktiv dagegen aufzulehnen tat niemand.

Brisinzki wäre auf Inges Seite gewesen, aber nun war sie tot. Man konnte ihm die Verärgerung über seine eigene Passivität anmerken. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Tisch, wo die Verkabelungspläne lagen, faltete sie und steckte sie ein. Am Nebentisch hörte er, wie der Quereinsteiger Paul Winter im Gespräch mit Ralf Lesche war. Es ging um seine bevorstehende Physikstunde in der 7b. Winter jammerte über den Lärmpegel in seiner Klasse und dass am Ende kaum jemand sein Tafelbild ins Heft übertrug.

„Ralf, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kriege die nicht ruhig. Nur ein Beispiel: Corinna quatscht mit Fotini. Ich sage: ‚Würdet ihr bitte aufhören, ich möchte gerne mit dem Unterrichtsstoff fortfahren.‘ Die beiden tun so, als hätten sie mich nicht gehört. Ich wiederhole mich und sehe, dass Lara und Benny sich zanken, weil Benny ihr das Heft weggenommen und es durch die Klasse geschmissen hat. Ich ermahne Benny und bitte Lara, sich das Heft wiederzuholen. Sie ist bockig und meckert mich an, dass Benny es ihr wiedergeben soll. Corinna und Fotini reden immer noch miteinander und andere quasseln auch. Ich fordere dann die ganze Klasse auf: ‚Bitte seid endlich ruhig. Wir kommen sonst mit dem Stoff nicht durch.‘ Keiner stört sich dran. Im Gegenteil, es wird lauter statt leiser.“

Ralf Lesche hatte diese Probleme nicht, dennoch lag es ihm fern, Winter zu helfen. „Das ist eine Sache der Persönlichkeit“, sagte er abwiegelnd, denn es verging fast keine Pause, in der Winter nicht seinen Müll über irgendeine Klasse vor ihm ausschüttete.

Für Brisinzki war Winter ein Jammerlappen, denn es war nicht das erste Mal, dass er sein Klagelied mitbekam. Es wurde Zeit, dass er sich einmischte.

„Warum sind die Wort ‚Ja‘ und ‚Nein‘ einsilbig?“

Winter schaute ihn entgeistert an. Wollte der Kollege ihn verarschen?

„Was soll das? Keine Ahnung.“

„Deutsch, Englisch, Französisch, immer einsilbig. Wenn du dir eine einsilbige Sprache angewöhnst, klappt dein Unterricht. Nenn mir die Befehlsform von gehen. Geh! Von Kommen: Komm! Kurz und bündig, Paul. Lass das blöde Bitte weg. Ansage – Folge, wie beim Programmieren. Wenn keine Folge, dann Ansage erneut, sofort Kontrolle ohne Pardon, Folge, sonst Strafe. Alles klar? Die machen dich ansonsten zum Affen.“

Umstehende Kollegen hatten Brisinzkis Standpauke mitgehört und empörten sich über den rüpelhaften Ton des Kollegen und der Unangemessenheit angesichts der Umstände. Brisinzki störte das Gemurre nicht. Er hatte das Gefühl, dass Inge Beer ihm zugelächelt hätte.

Zuverlässig Form geben, das brauchten die Schüler mehr denn je. Er hatte das von Anfang an im Blut gehabt, aber Winter fehlte es selbst an Struktur, deswegen war er bei Thyssen-Krupp gescheitert und würde auch in der Schule versagen. Inge hatte erkannt, dass viele Eltern ihren Kindern keine zuverlässige Struktur und Orientierung mehr gaben. Kinder schlitterten in ein formloses Leben und konnten daran keine eigenen Formen ausbilden.

Brisinzki machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für Inge und entfernte sich mit den Worten: „Ich wünschte, sie wäre hier und könnte uns allen die Ohren langziehen.“

Tot am Ring

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