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4 F4F
ОглавлениеDer Club der toten Dichter hatte einen neuen Namen: F4F. Dahinter verbargen sich drei Schüler der Oberstufe, die einmal in der Woche miteinander diskutierten. Dazu trafen sie sich gelegentlich in der Schänke oder chatteten an Tagen mit viel Leistungsdruck von zu Hause aus. Bastian Lemper, Ulla Vollenbroich und Carsten Schröter standen kurz vorm Abitur. Bastian wollte später Informatik studieren und war sehr darüber verärgert, dass er mit den Aufgabenstellungen des neuen Aushilfslehrers Brisinzki Schwierigkeiten hatte. Nicht nur er beklagte sich, die meisten des Leistungskurses fanden die Übungen ‚over the top‘.
Eigentlich standen alle Zeichen auf Lernen, aber es gab einen Ehrenkodex: Kein Verrat an der Zukunft. Die Sektion Fridays 4 Future aus Haltern bestand nur aus drei Sympathisanten, die sich von Greta Thunberg inspiriert fühlten und es nicht bei den Lippenbekenntnissen ihrer Mitschüler belassen wollten. Die Bewegung war noch jung und insofern suchten die drei nach Aktionen, um auf sich aufmerksam zu machen. Zu ihrem Leidwesen kam ihnen das Abitur in die Quere.
An diesem Montagabend herrschte Katerstimmung, denn niemand wusste, wie es weitergehen sollte und der Ehrenkodex nicht zur Farce verkam. Ulla Vollenbroich hatte noch Zeit bis zum Termin ihrer Englisch-Klausur. Sie hatte sich bereit erklärt, das Gespräch, das heute über Videoanruf stattfinden würde, aufzuzeichnen, um später daraus ein Protokoll zu fertigen.
F4F war mehr als ein loser Haufen von Idealisten. Sie nahmen ihre Sache ernst, fühlten sich berufen, der Gleichgültigkeit, dem Leugnen und dem Wachstumswahn den Hals umzudrehen. Politisch fühlten sie sich allein gelassen. Die Grünen waren ihnen viel zu harmlos, hohle Statisten ohne Mumm zur Entwicklung tragfähiger innovativer Konzepte. Links war nicht grün genug und Schwarz ging schleichend auf Schmusekurs mit der AfD. Die etablierten Parteien betrogen die Jugend um ihre Zukunft. Keiner sagte die Wahrheit, weil die unbequem war und ein Tempolimit einforderte, die dicken Autos von der Straße fegte und die Renten anders verteilte. Alle begingen Verrat an den Millionen junger Menschen, die auch von der Schule nicht aufgeklärt wurden, weil ein lahmarschiger Apparat von Ministerien eine zukunftsorientierte Lehre in der Schule sträflich verzögerte und die Verantwortlichen nicht an ihren eigenen Stühlen sägen würden.
Heute fand die letzte Gesprächsrunde von F4F vor dem Abi statt. Ulla Vollenbroich hatte zu Bastian und Carsten Kontakt aufgenommen. Die Handyschaltung zwischen den dreien stand und Ulla machte den Anfang. „Jungs, ich sag euch jetzt mal was: Nach dem Abi machen wir die Transparente fertig und überzeugen die Jüngeren, freitags mit uns zum Rathausplatz zu gehen. Wir müssen Flagge zeigen und rausgehen. Ich will mir nicht vorwerfen, zu lange gewartet zu haben. Wer ist dabei?“
„Lass uns damit warten“, meinte Carsten. „Ich bin dafür, das Thema vom letzten Mal erst zu Ende zu diskutieren. Grundsätzlich bin ich aber dabei.“
„Seh ich wie du“, schaltete sich Bastian ein. „Ich muss jetzt erst mal Frust loswerden. Der Brisinzki raubt mir den letzten Nerv. Bevor der kam, war ich mir sicher, dass ich es schaffen würde. Der macht ’ne Informatik, die über meinen Kopf geht, statt hinein.“
Ulla wollte zum Thema kommen, denn es war die letzte Diskussionsrunde vor dem Abi und wer wusste schon, was danach kam?
„Okay. Stand der Dinge: In fünf Jahren stehen wir im Berufsstress und zwar nicht nur wegen des Klimawandels, sondern vor allem wegen der alten Leute, die wir durchbringen müssen. Die 2:1-Quote kommt. Zwei Verdiener – ein Rentner. Die Alten werden immer älter und wir immer weniger. Betriebe suchen heute schon händeringend nach Nachwuchskräften. Kommen die alle aus dem Ausland, kommt die AfD eines Tages an die Regierung. Dann ist die schleichende Revolution Richtung Braun kaum mehr zu bremsen.“
„Haltet mich nicht für ein bizarres Arschloch“, meinte Carsten, „aber die Alten mit ihren Rollatoren machen mir Angst. Wenn ich mir vorstelle, dass immer mehr davon in den Straßen herumfahren und die immer älter werden, die Altersheime überfüllt sind und der Staat die Pflege nicht mehr bezahlen kann, dann wird mir schummrig. Ich meine, ich hab selbst ’ne Oma, aber die ist fit, hilft mit 86 bei der Tafel. Angst hab ich deswegen, weil ich keinen Bock habe, für die alten Leute zu schuften. Ich meine ein Recht auf ein Leben zu haben, das mich zwar der Familie gegenüber verpflichtet, aber nicht über Gebühr auch für andere Alte in Anspruch nimmt. Ich will studieren, arbeiten und eine Familie gründen. Dann zahl ich 20, 30 Jahre für meine eigenen Kinder und gleichzeitig für die Alten, bis ich selber alt bin. Wo bleibt da die Aussicht auf eine Lebensphase, in der ich mal nur für mich arbeite und mir etwas gönnen kann?“
„Das hast du aber schön gesagt“, kommentierte Bastian. „Mir kommen die Tränen. Wenn du alt bist, benutzt du dann keinen Rollator, obwohl du einen brauchst?“
„Klar, aber ich muss keine Rente von 4.000 € netto haben, weil ich 35 Jahre Beamter war und mir eh der Arsch von allen Seiten abgeputzt wurde. Ich seh die Rentner vor mir, die morgens Sekt schlürfen, acht Wochen Ibiza und vier Wochen Camarque mit Superwohnmobil, finanziert von Carsten Schröter, der Kinder in die Welt gesetzt hat, während Rentner ohne Kinder auch noch mehr Rente kriegen und sich an meiner Versorgung durch eigene Kinder vorbeidrücken.“
„Die Welt ist ungerecht“, statuierte Bastian. „Was machen wir mit den Alten? Wir könnten plädieren, dass sie länger gesund bleiben oder länger arbeiten.“
„Was würdest du tun, wenn du alt bist?“
„Länger arbeiten fänd ich gut, aber zu anderen Bedingungen. Leichtere Arbeit, weniger Zeit. Angepasst ans Alter eben.“
„Und wenn du krank wirst, dement, Parkinson? Leute mit Alzheimer sind am Ende völlig Banane im Kopf, können aber noch lange leben.“
„Weiß nicht“, gab Bastian zu. „Schicksal. Andererseits wissen diejenigen, dass sie Alzheimer haben, wenn sie noch normal sind. Bei dem Krankheitsverlauf, der sie erwartet, könnten sie sich rechtzeitig vom Leben verabschieden. Ich meine bewusst aus dem Leben scheiden, so wie unheilbare Krebskranke es manchmal machen.“
„Würdet ihr einem Menschen helfen, aus dem Leben zu scheiden?“, fragte Ulla.
„Ich schon“, meinte Carsten. „Ich würde aber nicht körperlich eingreifen, also jemanden von der Klippe schubsen oder einen Föhn in die Badewanne werfen. Das grenzt an Mord. Da hätte ich Angst vor einer Verurteilung. Passiv, meine ich.“
Die Antwort reichte Ulla nicht. „Und du, Bastian, würdest du später die kleine weiße Pille nehmen?“
„Kommt drauf an. Mein Uropa ist geistig völlig auf der Höhe. Er wird 95. Da sehe ich keinen Grund. Ich würde in dem Alter leben wollen, weil ich noch teilnehmen kann am Familienleben. Und wenn der sich über Anne Will aufregt, weil die mal wieder bescheuert moderiert hat, dann spielt das Alter wirklich keine Rolle. Außerdem steckt er mir ab und an einen Hunderter zu.“
Ulla gab sich immer noch nicht zufrieden. „Wann würdest du die Pille nehmen?“
„Ich möchte nicht so tun, als würde ich es schaffen. Denn in jedem Fall bist du bei klarem Verstand, in dem Moment der Einnahme. Es schnürt sich gerade meine Brust zu und mein Herz möchte zerspringen, wenn ich daran denke. Es gehört verdammt viel Mut dazu. Aber wenn du älter bist, ist der Tod kein Schreckgespenst mehr. Mein Uropa sagt, dass er keine Angst vor dem Tod hat und er sich wünscht, eines morgens nicht mehr aufzuwachen.“
Ulla lächelte. „Basti, wann?“
„Ich würde die Pille nehmen, wenn ich ganz allein wäre, von allen verlassen und keine Hoffnung mehr hätte. Wenn ich wüsste, niemandem mehr etwas zu bedeuten. Wenn mein Ich auf einen unscheinbaren Punkt geschrumpft ist und das Leben so weh tut, dass der Tod zur einzigen Erlösung wird, zur Befreiung von meiner Depression.“
Bastian wandte sich ab, sodass er für Momente nicht zu sehen war.
„Entschuldigt, ich war kurz irritiert“, sagte er und kehrte lächelnd ins Bild zurück.
Ulla schaute bewegungslos auf ihr Handy und wartete. Als niemand etwas sagte, brach sie das Schweigen.
„Du bist depressiv?“
Bastians Versuche, seine Verlegenheit zu überspielen, waren offensichtlich. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu dem, was er sagte.
„Ja, weil ich wegen dem Brisinzki meine Informatikklausur vergeige.“
Anders als Ulla hatte Carsten die feinen Untertöne des Gesprächs nicht aufgeschnappt und schlug den Bogen wieder zum Ausgangsthema. Bastian brach das Gespräch ab und begründete das mit Lernen für die Klausur. Ulla und Carsten mussten auch lernen. F4F würde erst nach den Klausuren wieder aktiv werden. Ulla sicherte die Aufnahmen des Gesprächs auf ihrem Handy und verschob das Schreiben des Protokolls auf einen späteren Zeitpunkt.