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Heimatgeflüster

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Marion lehnte ihr Fahrrad an die Fachwerkwand der Sythener Mühle und las auf dem Plakat: „Heimatgeflüster“. Trefflich, dachte sie, das ließ viel Raum für kreative Spontanität. Marcel war schon da. Sein Auto mit dem roten Kennzeichen parkte gegenüber am Hotel Pfeiffer. Sie wählte schnell noch Karins Nummer. Wieder keine Antwort. Kurz vor sieben. Ob sie doch besser mit dem Auto kurz hinfuhr? Es waren nur sechs Kilometer. Dann hätte sie Gewissheit. Andererseits war sie kein Kindermädchen und Karin musste sich bei ihr nicht abmelden. Vielleicht war Hannes vorzeitig von der Montage zurückgekommen. Besorgt stellte sie ihr Handy auf lautlos und stieg die Treppen zum Gesellschaftsraum hoch.

Bresson saß auf einem Barhocker neben dem Tresen und unterhielt sich angeregt mit dem Vorsitzenden des Sythener Heimatvereins. Marion ging auf die beiden zu und wurde von Bresson stürmisch begrüßt. Küsschen links und rechts und Komplimente hagelte es auch. Augenblicklich schauten die meisten der Damen im Publikum auf. Der Belgier verstand es, die Herzen der Frauen zu erwärmen. Da ihm auch noch der Ruf eines Geschichtenerzählers nach alter Tradition vorausgeeilt war, hatte er bei den Damen jede Menge Vorschusslorbeeren auf dem Konto.

Die Karten für den Abend waren in Kürze ausverkauft. Der Raum war zum Bersten voll, aber für Bier und Korn war ein Spalier geschaffen worden und die ehrenamtliche Kellnerin servierte mit hochroten Wangen, was das Zeug hielt.

Der Vorsitzende schaute auf die Uhr, erhob sich, bat um Ruhe und stellte sich und den Gast des heutigen Abends vor. Marion erhielt das Wort und legte in ganz persönlichen Ausschmückungen dar, wie sie Marcel kennengelernt hatte und dass sie kaum fassen konnte, welch großes Glück es für die Gemeinde sei, durch ihn erhellende Einblicke in ein dunkles Kapitel der heimatlichen Vergangenheit zu erhalten.

Mit einsetzendem Applaus stand Marcel auf und bedankte sich. Er sprach zunächst allgemein über die Zeit vor hundert Jahren, als es weder TV noch Telefon gab, und die einzige Unterhaltung im Erzählen von Fantasiegeschichten und Mutmaßungen über die Schlechtigkeit der Nachbarn bestand.

Sein Großonkel Jules war ihm als kleiner Junge ans Herz gewachsen, weil er immer Zeit für ihn gehabt hatte. Bis ins hohe Alter von 96 Jahren habe er allein gelebt und bekam nur Besuch von ihm, seinem Urneffen, und einem befreundeten Postboten, mit dem er knobelte und Calvados trank. Etwas Geheimnisvolles umgab ihn, fügte Bresson an, und nannte es einen ätherischen Wesenszug, der nicht greifbar war, sodass man ihn nicht mit Worten beschreiben konnte.

Dann kam Marcel zum eigentlichen Thema und lenkte das Interesse seiner Zuhörer auf die Tagebuchaufzeichnungen seines Großonkels vom Kriegsgefangenenlager zwischen Haltern und Dülmen. Dabei bezog er sich besonders auf das Jahr 1918.

Das Waldgebiet rund um den heutigen Silbersee II war gerodet worden, um für 10.000 Gefangene Platz zu schaffen. Eine Art Stadt mit Bahnhof war entstanden. Jules war anfangs auch zur Zwangsarbeit eingeteilt worden. Er erinnerte sich besonders an den Boden, wo sie die Gräben tiefer ausschaufeln mussten. Dort kam weißer Sand zum Vorschein, den sie Silberküste nannten. Sie kneteten den nassen Sand in ihren Händen und sahen im goldenen Licht der untergehenden Sonne das Meer vor sich, wie es führerlose Boote an Land spülte, in denen sie entkommen konnten.

Später bekam Jules die Stellung eines Aushilfsbuchhalters. Eine schmeichelhafte Bezeichnung für die anfallende Drecksarbeit, die im Lager niemand verrichten wollte. „Mädchen für alles“ hatte Jules auf Deutsch gesagt, wenn er mir manchmal von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Und damit meinte er auch Leichen entsorgen. Die Zwangsarbeit wurde nicht von allen als Strafe empfunden, denn was wäre die Alternative gewesen? Sie hätten in den Baracken Langeweile geschoben, gefroren und wären den Schikanen der Wachen ausgesetzt gewesen. Probleme gab es hauptsächlich bei den neuen Gefangenen, die noch nie in einem Lager gewesen waren und vielleicht Verletzungen mitbrachten, die nicht behandelt wurden oder nicht behandelbar waren. So kam es zum Beispiel im Spätherbst 1918 zu folgender Episode:

Bei den Neuzugängen waren auch ein Mann aus Irland namens Liam und ein Franzose aus St. Germain mit dem Namen Jacques. Gleich in der ersten Nacht wurde außerdem ein Todeskandidat in Baracke 8 ­abgeliefert. Ein deutscher Deserteur von der Westfront. Er sollte am frühen Morgen erschossen werden. Der Kommandant musste das Todesurteil noch unterzeichnen, war aber verhindert. Man munkelte, er wäre betrunken vom Pferd gestürzt. Gerüchte, die von Gefangenen in die Welt gesetzt wurden, standen hoch im Kurs, denn sie hatten einen Unterhaltungswert. Ob wahr oder falsch interessierte eigentlich niemanden, da die Umstände meistens nicht von Belang waren. So breitete sich relativ schnell das Gerücht vom besoffenen Kommandanten aus. Oft war eben auch der Wunsch der Vater des Gedankens.

Jedenfalls überlebte Friedel Winkler seinen Todestag in einer Isolierzelle, in der ein Eimer mit Regenwasser, das von der Dachrinne tropfte, und ein Kanten Brot ihn vor gröbstem Hunger und Durst bewahrte. Die beiden Neuen, Jacques und Liam, den sie auch Rosskopf nannten, traten ihren ersten Arbeitstag im Feld an.

Eine Wache mit geladenem Gewehr und aufgesetztem Bajonett stand für eine Hundertschaft Gefangener bereit. Bei Flucht durfte ohne Warnung geschossen werden. Auch der Anschein einer Flucht hätte den Tod bedeuten können, sodass sich alle aus dem Tross an die Vorschriften hielten. Insgesamt zogen an diesem Morgen 800 Männer in Richtung Hausdülmen los. Sie überquerten den Heubach und betraten die Ländereien des Herzogs von Croy, der im Schloss zu Dülmen residierte.

Der beschwerliche Holperweg führte sie an Äckern vorbei, die von einzelnen Waldungen umgeben waren. Jacques vertrieb sich die Zeit mit Klagen. Die klobigen Holzschiffe an seinen Füßen rieben an Knöcheln und Ballen, sodass er fürchtete, den Tag nicht zu überleben. Liam, der sich an Jacques’ Fersen geheftet hatte, weil ihn das lose Mundwerk seines französischen Gefährten belustigte, erkannte den Vorteil der Holzlatschen, denn sie saugten sich nicht voll mit Wasser wie Lederstiefel und falls die Socken nass wurden, trocknete alles schnell an der Luft.

Der Weg zum Arbeitslager war mit losem Geröll aus Bauschutt, Bruch- und Natursteinen bedeckt worden, zwischen denen sich Erde und Laub verfangen hatte und das Gehen nicht einfach machte. Das Lager stammte aus dem Jahr 1914 und etliche Gefangene konnten sich noch an den Bau des Weges erinnern. Fronarbeit, die sie nicht bejammerten, sondern nur aushielten, weil sie singen durften. Je nachdem, wie streng der jeweilige Wachsoldat es hielt, durften sie Lieder aus der Heimat singen. Die vertrauten Klänge füllten sie mit immer neuer Hoffnung, eines Tages ihre Familien wieder in die Arme schließen zu dürfen. Die „Alten“ aus dem Lager summten im Trott ihrer Schritte. Das Summen beruhigte und vertrieb die zeitlosen Gedanken an zu Hause.

Jacques war ein sonderbarer Kauz. Er redete, auch auf die Gefahr hin, dass ihm niemand zuhörte. Nur wenn eine Wache in der Nähe war, beherrschte er sich oder flüsterte und riskierte, dass seine Botschaften an die Welt ungehört blieben. Meckern konnte er ohne Unterlass.

„Warum haben die schlafmützigen Deutschen keinen Bahndamm ins Gelände gebaut? Wir laufen über eine Stunde bis zur Arbeitsstelle, sagte einer vorhin, und eine Stunde zurück. Zwei Stunden mal 800 sind 1600 Arbeitsstunden Verlust jeden Tag. Und am Wochenende könnte der Herzog, der mit Verlaub einen sehr schönen französischen Namen trägt, in Begleitung seines Hofstaats mit der Bimmelbahn sein Prinzentum bereisen.“

Als niemand auf seine Bemerkungen einging, summte Jacques die französische Nationalhymne, wobei er ständig kontrollierte, wo die Wache sich gerade aufhielt. Für Liam hatte es in seinem Leben keine andere musische Unterhaltung als das Singen gegeben, sodass ihm nichts vertrauter war, als der Gesang. Er stimmte eine gälische Ballade an und verlor sich alsbald in immer leidenschaftlicheren Tönen, was die Wachen auf den Plan rief.

„Wir kennen deine Sprache nicht“, bölkte einer von ihnen. „Ein Wort noch, und du gehst ohne Schuhe weiter.“

Die Wachen mussten gut abwägen, was sie als Strafe androhten oder verhängten, denn im Lazarett würde man dahinterkommen, warum der Gefangene eingeliefert wurde und dort wollte das Personal nicht die Willkür von schlecht bezahlten und frustrierten Wachen ausbaden. Liam war sich keiner Schuld bewusst und grinste den Wachmann an, was dieser mit einem Tritt erwiderte. Liam wollte aus der Reihe schnellen, aber Jacques hielt ihn an der Jacke fest.

„Franzosenpack!“, posaunte der Wachmann und drohte mit der Faust. „Das nächste Mal bist du dran. Der Kommandant ist ein guter Freund von mir. Das regeln wir unter uns, Den Haag hin oder her.“

Für Jacques war es beruhigend, dass es Regeln gab, die zwischen den Kriegsparteien vereinbart worden waren. Machte ja auch Sinn, denn die deutschen Gefangenen sollten nicht schlechter behandelt werden, als die der Entente.

Jacques wandte sich an Liam.

„Sieh! Dort drüben. Die Pferde. Ein bisschen wie in der Camargue, nur eben deutsche Camargue mit Pferden aus der Steinzeit. In Höhlen haben deine Vorfahren solche Pferde an die Wände gemalt, die keltischen Urmenschen. Du trägst ihr Erbe auf dem Kopf. Mähne hier, Mähne dort bis in die Ohren.“ Er zeigte auf die Wildpferde, die sich in einer kleinen Herde grasend fortbewegten.

„Hör zu!“, flüsterte Jacques und zog Liam am Ärmel. „Wir schnappen uns zwei Gäule und ab geht die Post zurück nach Eire und Paris et les maisons de tolérance. Da! Schau! Der Zossen reckt den Kopf nach uns. Der mit dem braunen Schweif. Im Galopp in den Zirkus der Begierden. Bist du dabei?“ Noch leiser wisperte er: „Wir hauen ab, aber Schnauze. Kannst du reiten? Egal, wir nehmen einfach die Bahn.“ Jacques brach über seine eigenen Worte in Lachen aus und boxte Liam auf den Oberarm. „Rosskopf, wir schaffen das.“

Jacques hatte bereits einige Kilometer zurückgelegt und wunderte sich nun, warum er nicht mehr über seine ‚Beulenpest‘ an den Füßen jammerte. Der Traum von Freiheit und Heimat hatte ihn abgelenkt, weit fortgetragen in den Schoß einer Welt aus Lust und Lachen, Tanzen und Singen, Schampus und das ewig berauschende Spiel mit den Frauen, ihren entzückenden Stimmen und wonnigen Kurven.

Sie durchquerten einen alten Eichenwald, an dessen Ende ein Schild stand, auf dem das Merfelder Wappen abgebildet war. Das Schild sollten sie von nun an täglich passieren. Es zeigte einen Mann mit Stab und Schwein. In der Ferne erblickten sie in einer der Lücken, die sich zwischen den Bäumen auftaten, Haus Merfeld mit seiner großen Kapelle.

„Fast wie Zuhause in der Provence“, sagte Jacques im Plauderton. „Schloss, Weinberg, Fluss, Wild und einen Rock, ein rauschendes Fest, Ferkel am Spieß und die Mädchen befeuchten ihre roten Lippen. Junge, hast du keine Gefühle?“, pflaumte er Liam an. „Das macht den Franzosen aus. Er ist allzeit bereit und erschöpft sich nicht wie Rosskopf mit Balladen und Biersaufen. Hast du Kultur, Mann aus Eire? Sex? Schon mal gehört? Erzähl von deinen Lustgelagen. Ah, ich vergaß, du warst im Armenhaus. Männer und Frauen getrennt. Verflucht, ich halt lieber die Klappe.“

„Du willst wissen, ob Männer mit Männern und so weiter? Ich hab’s nicht gesehen, aber ich habe ein paar arme Kerle nachts stöhnen gehört. Sie haben ihnen den Mund zugehalten. Manche haben es für eine Zigarette gemacht. Gesehen habe ich es nie.“

Marcel Bresson deutete eine Pause an, nahm einen Schluck vom Wein, den ihn Marion an die Theke gestellt hatte, und fragte nicht danach, wie es den Leuten bisher gefallen hatte, sondern ob sie mehr über Jacques, Liam und die anderen hören mochten. Ein kräftiger Applaus warf ein Lächeln auf sein Gesicht.

Marion ergriff die Gelegenheit, schnell ihr Handy zu aktivieren und Karins Nummer zu wählen. Es schellte und je länger sie wartete, desto offensichtlicher wurde ihre Nervosität. Herr Lindenberg, neben dem sie Platz genommen hatte, fragte, ob alles gut sei, was Marion mit einer abwinkenden Handbewegung beantwortete. Sie nahm das Handy vom Ohr. „Karin geht nicht dran“, flüsterte sie mit besorgter Miene.

„Hoffentlich ist ihr nichts passiert“, meinte Lindenberg, und merkte direkt, dass er genau das Falsche gesagt hatte.

„Mir wird das zu bunt. Ich rufe die Nachbarin an.“ Marion suchte nach der Nummer und kurz darauf meldete sich Frau Berse, die sofort nach dem Rechten sehen wollte.

Die verschollene Beute

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