Читать книгу Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann - Страница 12
Bange Minuten
ОглавлениеBresson signalisierte mit einem umschweifenden Blick, dass er fortzufahren gedachte. Die vollschlanke Kellnerin mühte sich durch den schmalen Gang zwischen den Tischen und stellte ihr Tablett an der Theke ab. Es wurde still im schummrigen Mühlenraum. Mit einsetzender Dämmerung war es auch innen dunkler geworden. Eigentlich wäre es Marions Aufgabe gewesen, für ausreichend Licht zu sorgen, aber das hatten andere Helferinnen übernommen, die wohl ihre Not bemerkt hatten. Bresson warf einen flüchtigen Blick in sein Skript und legte los.
Der Weg wurde schlammiger, je weiter die Zwangsarbeiter in die Bauernschaft Börnste vordrangen. Die vereinzelt stehenden Wegkreuze spendeten ihnen keinen Trost. Millionen wurden im Krieg abgeschlachtet wie nie zuvor. Der Mann am Kreuz war vergeblich gestorben, die Christenwelt ein Fass voll Blut als Labsal für den Teufel. Entfernt sahen sie einen Pulk von Uniformierten, die vor einem Schuppen standen und rauchten. Als die ersten aus der Reihe der Gefangenen dort angekommen waren, wurden ihnen Schüppen, Spaten und Äxte in die Hände gedrückt, andere griffen sich Schubkarren und Eimer und trotteten weiter in den nahegelegenen Wald.
Als Jacques und Liam ihr Werkzeug erhalten sollten, beobachteten sie, wie vor ihnen zwei Männer aus der Reihe sprangen und sich bückten. Es geschah so schnell, dass sie erst beim dritten Mann, der vorpreschte, erkannten, dass sie die Zigarettenkippen, die die Soldaten auf den Boden geworfen hatten, erhaschten und sofort in ihrer Jacke verschwinden ließen.
Jacques rauchte nur, wenn er eine schnorren konnte und Liam hatte nie eine Zigarette angerührt. Als dann ein vierter Soldat seine Kippe vor die Reihe der wartenden Männer warf, ereiferten sich gleich drei, das Fitzchen Tabak in ihre Finger zu kriegen. Rabiat schob ein kräftiger Typ die anderen beiseite und bediente sich.
Jacques wandte sich an einen der Männer, der vor ihm stand.
„Was seid ihr so verrückt hinter den Kippen her?“
„Du Grünschnabel. Das ist die Währung hier im Knast. Alles wird mit Tabak bezahlt. Und wenn ich alles sage, meine ich es auch.“ Der Mann grinste und hielt nach anderen rauchenden Soldaten Ausschau.
Für Jacques war diese Neuigkeit ein gefundenes Fressen. Seine blühende Fantasie produzierte Fluchtszenarien am laufenden Band. Draußen im Leben konnte man alles mit Geld kaufen, innen im Lager alles mit Tabak. Alles bedeutete alles, aber dieses Alles war wenig, zu wenig für einen Franzosen aus Paris.
Die Verlockung, Tabak-Baron im Lager zu werden, ließ ihm keine Ruhe. Tabak öffnete Tür und Tor, verschaffte ihm Einfluss und im richtigen Moment würde er mit einem Bolzenschneider den Stacheldraht durchtrennen und abhauen. Unter einen der Waggons würde er sich zwängen und glorreich entkommen, und wenn Liam wollte, dürfte er mitkommen.
Seine Träumerei fand ein jähes Ende. Schüppe und Axt waren am meisten gefürchtet, denn die Arbeit mit diesen Werkzeugen kostete viel Kraft und wer keine Ausdauer hatte, wurde nicht geschont. Männer, die an der Schüppe schnell erschöpften, wurden von den Wachen häufig zu Extraschichten eingesetzt, um entsprechend Muskelmasse aufzubauen. Dass nicht die Muskeln, sondern die allgemeine Konstitution für die Ausdauer verantwortlich war, verstanden die Sklaventreiber nicht.
Jacques stampfte durch den Matsch, die Schüppe über der Schulter. Liam zog eine Schubkarre hinter sich her. Sie waren abkommandiert worden, den anderen Männern beim Ausschachten des mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Franzosenbachs zu helfen und eine neue Straßendecke aufzutragen. Liam stoppte am Gesteinslager. Er rief Jacques zu sich.
„Du hast die Schüppe, ich die Karre. Du lädst die Steine in die Karre und ich kippe sie auf den Matschweg. So ist das geplant, Monsieur.“
„Tust du immer, was dir gesagt wird?“, keifte Jacques trotzig. Er streckte ihm seine geöffneten Hände entgegen. „So sehen sie jetzt aus. Ich bin körperliche Arbeit nicht gewohnt. Kein Fetzen Haut wird mehr dran sein. Willst du das?“
„Was hast du vor dem Krieg gemacht?“
„Ich leitete ein kleines Unternehmen im Finanzsektor.“
„Wie klein?“
„Nur ich, aber lukrativ.“
„Gib es zu. Du bist ein billiger Taschendieb.“
„Rosskopf, du musst noch viel lernen. Für heute verzeihe ich dir. Hier, halt die Schüppe, ich muss eben ins Gebüsch.“
Jacques bückte sich unter den Brombeerranken hindurch und ging zielstrebig auf eine alte Eiche zu. Plötzlich knallte ein Gewehrschuss und Jacques hörte das typische ‚Petschen‘, wenn ein Geschoss in der Nähe einschlug. Borkenstücke sprangen rund um das Einschussloch aus dem Eichenstamm heraus. Jacques warf sich zu Boden.
Liam riss beide Arme hoch zum Zeichen der Ergebung. „Falscher Alarm!“, rief er in Richtung des Schützen. „Der Mann wollte nur scheißen.“
Jacques hob seinen Kopf und schaute über das Gestrüpp. „Nichts für ungut!“, schrie er. „Es überkam mich plötzlich. Konnt’s nicht mehr aufhalten. Schwacher After. Kommt nicht wieder vor.“
Der Schütze lachte aus vollem Hals. Als er sich wieder beruhigt hatte, warf er den Riemen seines Gewehrs über die Schulter und pöbelte immer noch belustigt:
„Scheiß dir nicht in die Hose. Wenn ich gewollt hätte, hätten wir ein Problem weniger. Leute wie dich erwischt es früher oder später doch. Hock dich hin und dann schnapp dir die Schubkarre, Franzosenschwein.“
Als Jacques zurückkam, lehnte Liam auf dem Schüppenstiel.
„Du hast es gehört“, betonte Jacques. „Ich soll mir die Schubkarre schnappen. Los an die Arbeit, Junge, sonst vertrödeln wir den schönen Arbeitstag.“
Liam war sichtlich erleichtert, dass Jacques den Schuss überlebt hatte und ließ sich den Tausch der Werkzeuge gefallen.
Sie arbeiteten bis zum Mittag und natürlich hatte Jaques die meiste Zeit gemeckert. Mit Blasen an den Händen und steifem Rücken setzte er sich neben Liam auf einen Baumstumpf.
„Wir bunkern Tabak und irgendwann kaufen wir uns eine Freikarte, wenn du verstehst, was ich meine, und mischen Paris auf, dass die Boulevards sich biegen. Die Frauen liegen uns zu Füßen, wenn wir von unseren Qualen im Lager erzählen und wie wir die Deutschen hintergangen haben. Vielleicht ist sogar ein Orden drin. Helden auf Händen getragen. Wie ist das? Auf den Geschmack gekommen?“
„Du bist kaum hier, da spinnst du von Flucht. Weißt du eigentlich, was du da sagst? Wenn du nach Paris willst, musst du erst zur Front, und wie ich dich kenne, marschierst du einfach da hindurch. Ein Esel denkt wie du.“
„Weißt du, was ein ‚Enfant terrible‘ ist? Jemand, der mit dem Kopf durch die Wand will und es schafft. Glaube versetzt Berge. Ich und du, glorreich der Hölle entkommen.“
Bald hatten sie herausgefunden, dass auch die Wachsoldaten ihre Pausen nahmen und rauchten. Unter Aufsicht wurde geschuftet, aber mit den Pausen zwischendurch hielt sich das Ganze in Grenzen und die Ausbeute an Zigarettenkippen machte erste Fortschritte.
Marcel Bresson sah plötzlich auf, als Marions Telefon ertönte. Sie hatte vergessen, es wieder auf stumm zu stellen. Mit hochrotem Kopf griff sie zu ihrem Handy. Als sie die Nummer von Frau Berse las, nahm sie das Gespräch an, ging aber gleichzeitig nach draußen vor die Tür.
Die Nachricht stach ihr ins Herz. Ihre beste Freundin Karin war tot. Angeblich die Treppe hinuntergefallen. Der Bestatter sei unterwegs und ein Arzt würde auch bald kommen, um den Tod zu bescheinigen.
Beide Frauen waren fassungslos, aber im Moment konnte man nichts machen. Tiere waren nicht zu betreuen und Hannes war nicht zu erreichen. Marion bedankte sich bei Frau Berse und stand wie angewurzelt im tristen Schein des Mondes und betrachtete die Mühle, als wäre sie nur eine Reflexion ihrer Einbildung. Die Zeit stand still. Nur das Plätschern des Mühlbachs drang an ihr Ohr und sie wünschte sich, die Wellen würden die böse Nachricht davontragen und sie erwachte aus einem Traum. So ging ein Lebensabschnitt für immer abrupt zu Ende und mit ihm all die Zukunft, mit der sie und Karin fest gerechnet hatten. All das Lachen, die Anrufe und die dummen Sprüche, das Verlorensein und das Wiederfinden, die Liebe, die Achtung, das Netz aus Kummer und Freude, alles weg. Das Plätschern rauschte leise davon. Die Mühle rief nach ihr.
Marion stand vor der Entscheidung, den Gästen die traurige Nachricht mitzuteilen oder einfach zu schweigen. Karin Poggenpohls Töpferkurse waren beliebt und ein Bestandteil des örtlichen Kulturangebots und der VHS. Einige würden sie persönlich kennen. Sie musste jetzt stark sein.
Marcel hatte netterweise gewartet und so nutzte Marion die Situation, das irritierte Publikum in ihre Trauer einzuweihen. Der Abend war gelaufen. Auch Marcel drückte seine Betroffenheit aus. Die allgemeine Bestürzung endete mit Spekulationen über Krankheit, Demenz und die Gefahren im Alter.
Für Marion war die Botschaft aus heiterem Himmel gekommen. Das Gefühl, das mit dem Tod ihrer besten Freundin einherging, war ihr neu. Im tiefen Inneren reduzierte sich das Gefühl zu einem Bild: Die Töpferscheibe. Sie sah Karin dort sitzen, ein Klumpen Lehm, ein Eimer mit Wasser und plötzlich löste sich alles auf und ein Engel erschien und Karin strahlte aus dem Engelsgesicht und rief: „Leb wohl, meine Freundin und lausche dem Flüstern der Zeit.“
Lindenberg wartete draußen, um Marion mit dem Rad nach Hause zu begleiten. Marcel Bresson hatte sie umarmt und ihr versprochen, an einem anderen Tag sein „Heimatgeflüster“ fortzusetzen. Sie überlegte einen Moment, zu Karins Hof nach Börnste zu fahren, aber sie würde niemanden dort antreffen, mit dem sie sprechen könnte. Sie musste den Verlust ganz mit sich alleine ausmachen.