Читать книгу Die verschollene Beute - Wolfgang Wiesmann - Страница 7
Das Skript
ОглавлениеMarcel Bresson befuhr mit der linken Hand am Steuer die Weseler Straße, Höhe Wulfen-Bakenberge. Seine rechte Hand lag behutsam auf einer Mappe, die mit einem Messingrand stabilisiert war, um das Lederimitat vor Verschleiß zu schützen.
„70“ sagte das Straßenverkehrsschild und er war froh darüber. Er würde nicht nur vorzeitig und ausgeruht in Haltern ankommen, sondern auch Zeit zum Essen haben, einer Dame einen Besuch abstatten und vielleicht einen Blick in das Tagebuch seines Großonkels werfen können. Soweit sein Plan. Seine Gedanken schweiften ab nach Hause auf den Dachboden, wo sich ein kleines Wunder ereignet hatte.
Sein Großonkel Jules verstarb, als Marcel elf Jahre alt war. Immer hatte er einen Kittel getragen und manchmal baumelte ein Monokel aus der oberen Tasche. Nach dem Krieg züchtete Jules Bienen und hielt mit dem Verkauf des Honigs die Familie über Wasser. Hauptberuflich arbeitete er als Postbote. Man kannte ihn nur im Kittel, doch niemand wusste, dass in der Innenseite seines Kittels ein zerfleddertes Notizbuch steckte, das er wie einen Schatz gehütet hatte.
Marcel hatte den Dachboden durchstöbert, weil er nach brauchbaren Hinweisen für eine spannende Erzählung aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft seines Großonkels suchte. Er fand den Kittel in einer alten Holztruhe nebst Motten zerfressener Kopfkissen und Gardinen. Nach einer ersten gründlichen Durchsicht stand unumstößlich fest, dass es bei seinem Fund um aufregende Episoden von Jules’ Gefangenschaft im Lager Haltern-Dülmen ging. Genau in dieser Gegend wohnte Marion Thüner jetzt. Sie würde ihn anhimmeln, käme er mit Geschichten aus dieser Zeit im Gepäck zu ihr nach Deutschland. Außerdem wäre damit auch gutes Geld zu machen. Er könnte so etwas wie ein Wandererzähler werden. Warum sollte es bei nur einer Geschichte bleiben? Klar, es handelte sich nicht um Hitlers Tagebücher, aber es gab bestimmt einen Medienverlag, der ihm die ganze Chose später für eine stattliche Summe abkaufen würde.
Jules’ handschriftliche Notizen waren nicht immer leserlich, manche Blätter lose, sodass Marcel Tage damit zugebracht hatte, alles sinngemäß zu ordnen. Beim Überfliegen der Seiten war die Rede von Gänseköpfen und einem Storchenherz, vom Grafen von Westerholt und Beethovens Geliebten Wilhelmine. Unglaublicher Stoff. Zeitweise war Marcel versucht, doch wieder mit dem Schreiben anzufangen. Nach all den Misserfolgen einen Bestseller auf den Weg zu bringen, sich im Glanz des berühmten Autors zu sonnen, umringt von schönen Frauen, die ihn verehrten und mit Briefen beglückten, in denen er zwischen den Zeilen Angebote für zärtliche Annäherung erkennen würde, das wäre sein Traum.
Der Traum vom Autor war geplatzt, gestand er sich ein und konzentrierte sich auf die Versuchung, mit seiner neuen Quelle bescheiden aber beständig im Glück zu schwelgen. Er würde bei seinem Besuch in Deutschland als Geschichtenerzähler Wellen der Begeisterung schlagen und Marion wäre sein Lohn.
Nun war es so weit. Er war in Haltern angekommen und Marion hatte nicht nur versprochen, zu seiner Veranstaltung zu kommen, sondern war auch an den Vorbereitungen beteiligt. Heute Abend würde er sie in der alten Mühle in Sythen wiedersehen. Dort, unweit des ehemaligen Gefangenenlagers, würde sein erster Erzählabend stattfinden. Marion hatte auch angekündigt, ihre beste Freundin Karin Poggenpohl mitzubringen. Genau so hatte er sich den steilen Anstieg seiner neuen Karriere vorgestellt.
Nachdem Marcel die A43 überquert hatte und mit 90 km/h auf die Innenstadt zufuhr, bemerkte er den Starenkasten zu spät. Er schlug mit der Hand aufs Lenkrad, um sich abzureagieren. „Reine Geldmache“, fluchte er. Aber würden sie ihn kriegen? Er hatte ein belgisches Kennzeichen. Er hoffte, der Verkehrsausschuss des Europaparlaments hatte sich über dieses Thema zerstritten und eine Schlichtung war nicht in Sicht.
Ein Hungergefühl plagte seinen Magen. Der fade Geschmack im Mund störte auch. Leider wusste Bresson nicht, dass er beim Überfahren der ersten Kreuzung auf der Weseler Straße bereits am Treckeberg Grill vorbeigerauscht war und somit nicht in den Genuss einer Jupp-Schale kommen würde. Auch an den frischen Mettbrötchen bei Thole an der nächsten Kreuzung fuhr er dummerweise vorbei, bis er dann beim Griechen von Haltern hielt, um dort sein Verlangen nach einer deftigen Mahlzeit zu stillen.
Seinen Kaffee wollte er woanders trinken, um dabei in aller Ruhe im Skript lesen zu können. Er fuhr an der Volksbank vorbei, warf einen Blick in die Innenstadt und entdeckte eine Eisdiele. Er parkte und nahm sein Skript unter den Arm. Als er gerade die Eisdiele betreten wollte, sprach ihn ein Herr Lindenberg an.
„Sie sind doch der Storyteller aus Belgien. Ich habe das Plakat gesehen, auf dem Sie für heute Abend angekündigt werden. Eine Eintrittskarte habe ich bereits. Marion und ich sind alte Bekannte. Erfahren wir von Ihnen die Wahrheit über das Gefangenenlager in Haltern und Hausdülmen?“
„Die Wahrheit, Herr Lindenberg, steht in den Sternen. Ich werde versuchen, einen Beitrag zu leisten, indem ich Emotionen ins Spiel bringe. Ganz ohne Fiktion geht es dabei nicht, besonders wenn Sie Ihre Zuhörer bei Laune halten wollen. Ist es nicht oft das Quäntchen Unwahrheit, das uns im Glauben bestärkt, wir wüssten Bescheid? Geht es denn überhaupt um die Wahrheit? Die kennen wir von Auschwitz und anderen Lagern. Die Historiker von Haltern und Dülmen haben bestimmt ihr Bestes getan, das Kriegsgefangenenlager als ein Kapitel der heimischen Vergangenheit ausgiebig zu beleuchten. Meinen Beitrag sehe ich eher darin, den geschichtlichen Ereignissen einen atmosphärischen Charakter hinzuzufügen. Mir geht es vordergründig nicht um Fakten, sondern um Unterhaltung.“
„Aber wie wollen Sie verhindern, dass Ihre Zuhörer alles für bare Münze nehmen?“
„Gar nicht. Weiß ich denn, ob alles stimmt, was mein Großonkel Jules in seinen Notizen festgehalten hat? Vielleicht liegt es den Bressons im Blut, die Wahrheit zu maskieren. Ich beziehe mich weitgehend auf das nicht immer vollständige Tagebuch meines Großonkels. Er kannte das Lager gut, hatte es selbst als Gefangener mit aufgebaut. Jules war Postbote von Beruf und durfte dem Lagerbuchhalter bei seiner Arbeit helfen. Kann sein, dass ihm das Privileg geholfen hat, überhaupt Kenntnis von all den Ereignissen dort bekommen zu haben.“
„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Wenn Sie von Ihrem Großonkel sprechen, kommt es mir vor, als überbrückten sie die Zeit bis in den 1. Weltkrieg hinein ohne Mühe. Sie schlagen ein Tagebuch auf und schon sind 100 Jahre wie weggeblasen.“
„Ich bin 66. Jules Bresson wurde 1884 geboren. Bedenken Sie die Zeit: kaum Medien, keine Autos und im Hinterhof einen Stall fürs Schwein und ein Verschlag für die Tauben. Sickergrube und Plumpsklo inbegriffen. Ich bringe alles mit heute Abend.“
„Zeitenwandern, Generationssprünge, Lebensnähe. Marion mag Grenzgänger wie Sie, die längst Vergangenes wieder erlebbar machen. Sie freut sich sehr, Sie heute Abend ankündigen zu dürfen.“
„Danke, Herr Lindenberg. Bis nachher.“
„Aber selbstverständlich.“
Marcel Bresson besuchte die Eisdiele und trank einen Espresso. Sein Skript lag ungeöffnet auf dem Bistrotisch. Lindenberg hatte ihn nachdenklich gemacht, als er über die Wahrheit gesprochen hatte. Jules’ Tagebuch war ein unermesslicher Fundus, aber wegen der teils verlorenen und unkenntlichen Informationen hatte Marcel ein eigenes Skript verfasst. Darin stand seine ganz persönliche Interpretation der Schriften seines Großonkels. Wer kannte die Wahrheit oder würde behaupten, sie zu kennen? Unterhaltung war sein Ziel und zu diesem Zweck vermengte Marcel Fakt und Fiktion auf eine Art, das alles am Ende echt klang. Das war ja der Clou. Er würde also ganz bewusst seinen Zuhörern den Grenzgang zwischen Wahrheit und Unterhaltung überlassen. Sie waren schließlich erwachsen.
Er genoss den letzten kleinen Schluck seines Espressos, trank das dazu gereichte Glas Wasser und schmunzelte, als er der Kellnerin ein ordentliches Trinkgeld in die Hand drückte. Lindenberg ging ihm nicht aus dem Kopf, denn er hatte einen Punkt angesprochen, der ihm unter den Nägeln brannte. Jules schrieb an manchen Stellen in verklausulierter Form, um zu gewährleisten, dass die Wahrheit unsichtbar blieb, für den Fall, sein Tagebuch würde im Lager in falsche Hände geraten. Das hätte Leben kosten können. Marcel Bresson hatte einen besonderen Plan im Gepäck: Durch seine Erzählungen wollte er der versteckten bzw. verklausulierten Wahrheit auf die Schliche kommen.
Jules’ Tagebuch barg ein Geheimnis und um das herauszufinden, ergänzte Marcel die unvollständigen Episoden seines Großonkels mit erfundenen Handlungen. Sein Ziel bestand darin, der Wahrheit durch fiktive Lückenfüller auf die Sprünge zu helfen, um daraus Rückschlüsse auf das Geheimnis ziehen zu können. Sein Erzählabend verfolgte also nicht nur den Zweck der Unterhaltung, sondern diente dem Auffinden eines realen Schatzes, den Jules im Tagebuch als „Beute“ bezeichnet hatte. Bresson träumte davon, in Kürze ein sehr reicher Mann zu sein und mit Marion um die ganze Welt zu reisen.